Die Ideologie des Multikulturalismus, nicht die Idee der kulturellen Vielfalt ist in der Sackgasse

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von Bassam Tibi

Ein Wissenschaftler, der nicht im Elfenbeinturm lebt, und sich als Sozialwissenschaftler noch dazu mit gesellschaftlichen Belangen auseinandersetzt, darf nicht nur von akademischen Begriffen ausgehen. Er sollte auch beachten, welche Sprache der Volksmund spricht. Dies ist nun allerdings nicht als Aufruf misszuverstehen, sich in der Sachdebatte auf Stammtisch-Niveau zu begeben, um sich verständlich zu machen. Im Gegenteil geht es darum, auch in der alltäglichen Debatte begriffliche Klarheit zu schaffen. Zum Beispiel ist in Deutschland die Rede von der „multikulturellen Gesellschaft“ geläufig, um das Zusammenleben mit Ausländern zu bezeichnen. Dieser Sprachgebrauch ist jedoch insofern problematisch, als er zu Missverständnissen führt. Denn in der Tat gibt es Deutsche - sagen wir es offen: nicht nur Rechtsradikale -, die keine Fremden mögen und bekunden, dass sie gegen den „Multikulturalismus“ sind. Dabei gehen sie offensichtlich, wie viele andere auch, davon aus, dass „Multikulturalismus“ der Inbegriff kultureller Vielfalt ist. Dies ist jedoch sachlich falsch. Vielmehr gibt es zwei konkurrierende Modelle, die gleichermaßen für kulturelle Vielfalt stehen: den Multikulturalismus und den Kulturpluralismus. Was ist der Unterschied zwischen beiden? Erst wenn man dies geklärt hat, kann man die Frage, ob sich der „Multikulturalismus in der Sackgasse“ befindet, fundiert beantworten.

Die Begriffe

Was ist Multikulturalismus?
Kurz zusammenfassen lässt sich diese Ideologie in der folgenden Dreierstruktur:
1. Feststellung kultureller Unterschiede,
2. Anerkennung der kulturellen Differenzen
3. Daraus wird kulturrelativistisch der Anspruch auf kulturelle Grundrechte abgeleitet, ohne diese Kollektivrechte weiter zu hinterfragen.
Offenkundig wirft dieses dritte Segment der multikulturalistischen Trinität Probleme auf, wenn beispielsweise die kulturelle Bestimmung der Frau durch die Schari’a zum „kulturellen Grundrecht“ erhoben wird.

Was ist Kulturpluralismus?
Auch er setzt sich vehement für kulturelle Vielfalt ein. Doch assoziiert der Kulturpluralismus diese Vielfalt mit einem Minimalanspruch hinsichtlich der Universalität der gesellschaftlichen Werte (sog. Kernwerte, wie individuelle Menschenrechte). Denn er geht davon aus, dass Vielfalt und ein gesellschaftliches Miteinander der Kulturen nur mit einer verbindlichen Einigung auf kulturübergreifende Basiswerte möglich ist. Folglich kann es beispielsweise kein „kulturelles Grundrecht“ geben, das Gläubigen einer bestimmten Religion erlaubte, andere als „Ungläubige“ anzugreifen.

Bei der Diskussion, in welcher Form die kulturelle Vielfalt in unserer Gesellschaft anzustreben sei, müssen sich die Anhänger einer „offenen Zivilgesellschaft“ also für die kulturpluralistische, nicht für die kulturrelativistische Vielfalt aussprechen.

Die deutsche Debatte

Als Fremder, der dieses Land seit 44 Jahren aus unmittelbarer Nähe kennt, empfinde ich für Deutschland zugleich Zuneigung und Abneigung. Was mich an Deutschland bindet, ist die auch hier sichtbare europäische - und keine deutsche! - Leitkultur. Weil die Migrationsdebatte in diesem Land vom (teilweise wiederum bewusst instrumentalisierten) Missverständnis des Begriffs „Leitkultur“ vergiftet ist, habe ich mich entschlossen, nicht mehr von „europäischer Leitkultur“, sondern von „europäischer Werteorientierung“ zu sprechen.

Als Anhänger der offenen Gesellschaft - und natürlich aus existentiellen Gründen - trete ich für Einwanderung ein. Als demokratisch-säkular gesinnter Muslim jedoch betone ich zugleich, dass es unsere offene Gesellschaft gegen jede Form des Fundamentalismus, also auch gegen seine islamische Spielart, den Islamismus, zu verteidigen gilt. Dazu ist es unabdingbar, die kulturelle Vielfalt an zivilgesellschaftliche Basiswerte - gewissermaßen also an eine Hausordnung - zu binden. Dies entspricht dem eben dargelegten Modell des Kulturpluralismus.

 Von meinem jüdischen Lehrer Max Horkheimer habe ich die Liebe zum Europa der Aufklärung gelernt, das er als „Insel der Freiheit in einem Ozean der Gewaltherrschaft“ beschrieb. Ich möchte nicht zuschauen, wie Islamisten ihr Rechtsverständnis, das die Schari’a an Stelle des Grundgesetzes setzt, mit dem Argument als kulturelles Grundrecht einfordern können, es gelte hier einer kulturellen Differenz Rechnung zu tragen.

 In der deutschen Debatte scheint es unüblich zu sein, Andersdenkenden zuzuhören. Statt ihre kritischen Fragen und Einwände ernst zu nehmen, erhalten sie nichts weiter als schablonenhafte Antworten. So beantwortet man meine Kritik am Modell des Multikulturalismus mit dem formelhaften Hinweis: „Wir sind ein Einwanderungsland“, und dies habe ich nie bestritten. Das Problem besteht nicht in der „Zuwanderung“, sondern in der Wertebeliebigkeit, mit der die Politik in Deutschland mit der Herausforderung durch fremde, kulturelle Einflüsse und zuweilen „vordemokratische“, kulturell begründete politische Ansprüche umgeht.

Anders als die deutsche Debatte es nahe legt, sehe ich keinen Widerspruch darin, sich einerseits seiner eigenen Kultur und Zivilisation bewusst und andererseits für den Austausch mit anderen Kulturen offen zu sein. Jedoch vertrete ich die Auffassung, dass das demokratische Europa ein gemeinsames Wertebewusstsein, eine Art „esprit de corps“ benötigt, um sich mit anderen Kulturen und Zivilisationen auseinanderzusetzen und auszutauschen.

Doch möchte ich wenigstens kurz begründen, weshalb die Menschheit hier überhaupt als in verschiedene Zivilisationen gegliedert aufgefasst wird: Menschen betreiben lokale Sinnstiftung, wodurch sie sich in verschiedene Kulturen gruppieren. Die übergeordnete Einheit von Kulturen, die gewisse verbindende Gemeinsamkeiten aufweisen, bezeichnen wir als Zivilisationen. Es geht also um Werte, die geteilt werden können oder auch nicht. Jede Zivilisation, die in lokale Kulturen untergliedert sein kann, hat ihre eigene Werteorientierung. Um aber einen für alle fruchtbaren Gedankenaustausch zu betreiben, ist es meiner Ansicht nach notwendig, dass Menschen sich ihrer eigenen Kultur, der ihrer Gesellschaft zugrunde liegenden und dominierenden Werte, bewusst sind.

Entsprechende Erkenntnismöglichkeiten ergeben sich, wenn man sich die Geschichte der Menschheit auch als eine Geschichte der Zivilisationen bewusst macht, wie es uns bereits der letzte große islamische Philosoph, Ibn Khaldun, gelehrt hat. Um so bedauerlicher ist es, dass der Begriff „Zivilisation“ durch Huntingtons umstrittenes Werk „Clash of Civilizations“ und die falsche Übersetzung der Formel als „Kampf der Kulturen“ in Misskredit geraten ist. Denn von Ibn Khaldun, der im 14. Jahrhundert mit seinem epochalen Werk „al-Muqadimma“ Prolegomena den Begriff „Wissenschaft der Zivilisationen/Ilm al-Umram“ begründet hat, kann Europa im 21. Jahrhundert im Prozess seiner Öffnung für die außereuropäische Welt viel lernen. Dies scheint um so mehr geboten, bedenkt man, dass nach Ibn Khaldun der Zustand einer jeden Zivilisation von der Stärke oder Schwäche ihrer „Asabiyya“ (etwa: Montesquieus „esprit de corps“ bzw. Zivilisationsbewusstsein) und der ihm zugrunde liegenden Werteorientierung abhängt. Menschen, die heute in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft zusammenleben, bedürfen also einer gemeinsamen Wertebasis, die ihnen einen kulturellen Austausch, d.h. Kommunikation ermöglicht. Dies gilt umso mehr, als wir uns in Zeiten einer zivilisatorischen Krise befinden.

Die Besinnung auf die Lehre Ibn Khalduns erinnert uns also daran, dass es zu beachten gilt, dass erfolgreiche Integration nur in ein Wertesystem und nicht ins Leere erfolgen kann. Ohne dass eine Aufnahmegesellschaft eine eigene Wertorientierung und damit eine Identität bietet, muss der Fremde immer fremd bleiben. Zuwanderer müssen erkennen können, was ihre „neue“ Identität als Europäer ausmacht (hierin besteht übrigens der entscheidende Unterschied zur Assimilation). Von dem Wunsch und Anliegen getragen, Islam und Europa zu integrieren, habe ich bereits den Versuch unternommen, den Islam europäisch zu deuten. Dabei erachte ich es als wichtige Frage, ob dieser Euro-Islam im Sinne einer euro-islamischen Asabiyya eine Brücke zwischen den Zivilisationen bilden kann.

Dass Diskussionsbedarf über Multikulturalismus, Europa und den Islam besteht, haben als erste die Niederlande erkannt. Bekanntlich war dort der Multikulturalismus sehr populär und kaum angreifbar. Nach dem Mord an Theo van Gogh 2004 hat sich das (bemerkenswerterweise ohne Rechtsruck) geändert. Die Lynchjustiz eines islamischen Fundamentalisten an dem niederländischen Filmemacher ist mit den Werten der offenen Gesellschaft unvereinbar. So begann dort eine europäische Debatte über europäische Werte, bei der mein Buch „Europa ohne Identität?“ in einer niederländischen Übersetzung intensiv diskutiert wurde. Darin diskutiere ich: „Europe. A Beautiful Idea?“ und frage, was man tun kann, damit der Kulturpluralismus als das Modell für kulturelle Vielfalt akzeptiert wird. Ein Jahr nach dem Mord an van Gogh debattierten niederländische Minister mit Meinungsführern der Amsterdamer Islam-Gemeinde über „Europe. A Beautiful Idea?“ Der Mord an van Gogh war als Verletzung des demokratischen Wertekonsenses begriffen worden.

Zusammenfassung

Natürlich muss man die Idee der „multikulturellen Gesellschaft“ verteidigen, wenn sie im fremdenfeindlicher Absicht von „Stammtisch-Deutschen“ angegriffen wird. Aber in der Politik muss man über dieses Niveau hinausgehen und die beiden hier vorgestellten Optionen für die gesellschaftliche Etablierung von kultureller Vielfalt auseinander halten.
Ein multikultureller Kulturrelativismus ermöglicht es Islamisten, ihre totalitäre Ideologie und ihren Hass unter Berufung auf die Anerkennung von kulturellen Eigenheiten als „kulturelle Rechte“ einzufordern. Der Kulturpluralismus hingegen bindet kulturelle Vielfalt an zivilgesellschaftliche Basiswerte. Der Rückgriff auf die niederländische Debatte nach dem van-Gogh-Mord sowie auf die Philosophie Ibn Khalduns rechtfertigt eine europäische Werteorientierung, die auch von Migranten geteilt wird.

 

   

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Bassam Tibi ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen. Er veröffentlichte u.a. „Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration“ und „Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit".