Welcher Multikulturalismus darf´s denn sein? Zur Debatte um das vorgebliche 'Scheitern von Multikulti' am Beispiel von Berlin

Von Stephan Lanz

In Folge des Mordes am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh durch einen jungen Islamisten im November 2004 breitete sich in Deutschland eine nicht enden wollende Debatte über ein vorgebliches Scheitern des Multikulturalismus aus. Meist wird dabei ausgeblendet, dass der Multikultur-Begriff je nach politischer Position mit allen möglichen, sich oft widersprechenden Inhalten gefüllt wird. Ich versuche daher am Beispiel von Berlin zu klären, worum es in dieser Debatte eigentlich geht und welche Vorstellungen von multikultureller (Stadt-)Gesellschaft ihr zugrunde liegen.

Westliche Werteverordnung: Der multikulturelle Blumenstrauß
Beispielhaft bringen die Einlassungen des sozialdemokratischen Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky den "Multikulti ist gescheitert"-Diskurs auf den Punkt. Für die grünennahe "Kommune" (Heft 1, 2005) und in der rechtsextremen "Junge Freiheit" (Nr. 11, 2005) führte Buschkowsky aus, er verstehe es als "multiethnische" oder "multikulturelle Gesellschaft, wenn viele Kulturen in einem Land friedlich miteinander" und unter "einer gemeinsamen demokratischen Rechts- und Werteordnung" leben: "Dafür setze ich mich ein". Eine multikulturelle Gesellschaft hingegen, wonach "in einem Land viele Menschen ihre Lebensentwürfe, ihre Kulturen in eine Gemeinschaft einbringen, und daraus entsteht eine neue multikulturelle Identität des Menschen" könne es nicht geben. Denn dies leugne, dass Menschen sich nur in ihrer eigenen vertrauten Kultur geborgen fühlen.

Diese Aussagen enthalten exakt jenen Kulturbegriff, der den deutschen Multikulturalismus von Beginn an geprägt und so problematisch gemacht hat. ›Kultur‹ besitzt dabei den determinierenden Charakter einer zweiten Natur des Menschen, der man nicht entkommen kann: Vermischungsprozesse, aus der neue kulturelle Identitäten entstehen würden, gelten als widernatürlich, weil sich der Mensch darin "nicht geborgen" fühle.

Diese 'Kultur' ist zugleich an Ethnien gekoppelt: Jede Deutsche, jede Türkin, jede Französin, so die Vorstellung, gehöre untrennbar ihrer jeweiligen Ethnokultur an. Daher eröffnet sich in der Einwanderungsrealität – die prinzipiell akzeptiert wird – lediglich eine Alternative: Entweder das Apartheidmodell eines unverbundenen Nebeneinanders ethnischer Gruppen oder das Bild einer ›Vielfalt in der Einheit‹, in der sich das Nebeneinander in eine vorgegebene Werteordnung fügt.

Heinz Buschkowsky vertritt damit im Kern eben jenen Multikulturalismus, den er als gescheitert verurteilt. Denn dieser basiert auf den Thesen, so seine frühen Verfechter Daniel Cohn-Ben¬dit und Thomas Schmid in ihrem Buch "Heimat Babylon" (1993), dass der melting pot gescheitert sei und dass Demokratie ein gemeinsames Verständnis verbindlicher Werte brauche. Eine Neuköllner Stadträtin wählte im Interview für dieses Modell die Metapher eines Blumenstraußes, dessen Buntheit wunderschön sei, allerdings nur wenn eine äußere Hand die Blumen – sprich Kulturen – auswähle, ordne und binde. Die gemeinte Werteordnung, so zeigt sich hier, wird nicht zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft – zu denen ja auch Einwanderer gehören – demokratisch ausgehandelt und nach Bedarf erneuert sondern ist bereits vorab vorhanden und ermöglicht es lediglich, sich daran anzupassen. Aus einer paternalistischen Perspektive beklagt die politische Spitze von Neukölln eine fehlende Bereitschaft von Migranten zu einer so verstandenen Integration und setzt dagegen auf einen erzieherischen Staat.

Der Philosoph Slavoj Žižek bezeichnete diesen Typus des Multikulturalismus als "verleugnete, auf den Kopf gestellte, selbstbezügliche Form von Rassismus, ein 'Rassismus auf Distanz' - er 'respektiert' die Identität des Anderen, indem er den Anderen als eine in sich geschlossene 'echte' Gemeinschaft begreift, der gegenüber er, der Multikulturalist, eine Distanz hält, die ihm seine privilegierte universelle Position ermöglicht" (in: Argument, Heft 1-2, 1998).

Ein genauer Blick auf die aktuelle Debatte offenbart, dass seit sie die Einwanderungsrealität akzeptieren vor allem jene Christ- und Sozialdemokraten zu Hütern dieses Multikulturalismusmodells avanciert sind, die sich am heftigsten davon abgrenzen. Gerade ihr Diskurs enthält dessen Merkmale, insofern er Stadtbewohner in ei¬ne dominante Mehrheitsgesellschaft und 'andere' Ethnokulturen spaltet, paternalistisch auf diese 'anderen' Kulturen herabblickt und die Einwanderungsrealität kulturalistisch deutet.

Dabei werden Immigranten in zwei Gruppen gespalten: Jene, die aus dem Westen stammen oder sich zu 'westlichen Werten' bekennen, geraten nicht in das Visier der mittlerweile allgegenwärtigen Integrationsaufforderung. Die primär muslimischen ‚Anderen’ hingegen entsprechen "dem Rest jenseits des Westens" (Stuart Hall) und sollen dessen Werte übernehmen: Als "zentrale Gefahr der unterschiedlichen Zuwanderung" gilt einem Berliner Spitzenpolitiker der SPD, "dass es kulturell nicht zusammenpasst". "Ihr müsst begreifen", so ein sozialdemokratischer Behördenleiter im Interview, "in eurer Kultur wichtige gesellschaftspolitisch stabilisierende Momente zu verinnerlichen". Aus einer Perspektive, die ein Wir von einem Nicht-Wir trennt, bestimmt das Wir hier jene Werte, die sich Eure Kulturen einzuverleiben haben. Gegenüber dem frühen Multikulturalismus ist nur die jetzt als "gutmenschlich" verachtete Liberalität gegenüber kulturellen Praktiken nichtwestlicher Einwanderer verschwunden. Diese gelten nicht mehr als etwas, das den Alltag bereichert, sondern als potentieller gesellschaftlicher Sprengstoff.

Kultur als Sprengstoff: Der Westen und der Rest
Ein Multikulturverständnis, das auf dem Szenario eines Zusammenpralls zwischen dem Westen und dem Islam basiert, breitet sich gegenwärtig auch in ehemals liberalen Milieus der SPD, der Grünen und der PDS/Linkspartei aus. Die integrationspolitische Frontstellung zwischen den Grünen und der Union in den 80er und 90er Jahren scheint in der nun gemeinsamen Absicht zu zerbröseln, 'Einwandererkulturen' auf westliche Werte zu verpflichten.

Ein zentrales Muster bezieht sich hier auf das Geschlechterverhältnis. Muslimische Frauen gelten dabei pauschal als Opfer. Sie erscheinen in der Figur »der aus Anatolien geholten Frau, türkischen Frau, die kein Wort Deutsch spricht, die in den Wohnungen gehalten wird und die Tür zu, weil da Gewalt eine große Rolle spielt", so ein Landespolitiker. Patriarchalische Unterdrückungspraktiken werden kausal und ausschließlich mit der Religionszugehörigkeit zum Islam verknüpft. Indem »allenthalben die moslemische/tür¬kische Familie oder die islamische Kultur als der Ort ausgemacht wird, an dem Frauen unterdrückt werden«, so weist Margret Jäger in ihrer Studie "Fatale Effekte. Die Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs" (1996) nach, werden Türken/Muslime und Deutsche/Westler homogenisiert und einander entgegengestellt. Denn die ›eigene‹ Kultur gilt bezogen auf Geschlechterfragen ebenso pauschal als emanzipativ.

Folgt man dem britischen Kulturwissenschaftler Stuart Hall in seinem wegweisenden Buch "Rassismus und kulturelle Identität" (1994), offenbart sich hier, »was den Diskurs des ›Westens und des Rests‹ so zerstörerisch macht – er trifft grobe und vereinfachte Unterscheidungen, konstruiert eine absolut vereinfachte Konzeption von ›Differenz‹« und zieht so Grenzen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Anderen.

In diesem Rahmen gelten integrationspolitische Ansätze vergangener Jahrzehnte auch Teilen der Linken heute als übermäßig liberal, wenn sie auf multikulturalistischen Konzepten beruhten. Rechtliche, politische und soziale Dimensionen von Integration rücken gegenüber kulturellen Phänomenen in den Hintergrund. Während etwa die strukturellen Ursachen sozialer Ausgrenzungsprozesse aus dem integrationspolitischen Blickfeld rutschen und allerlei gut gemeinte Kleinprojekte des Quartiersmanagements an den Erscheinungen der daraus resultierenden Armut herumdoktern, geraten Bildung und Erziehung in das Zentrum jeglicher Integrationspolitik. Als deren primäre Aufgabe gilt es nun, den (muslimischen) Anderen neben der deutschen Sprache die eigenen Werte besser zu vermitteln.

Aus dem – zu Recht – vermuteten Fehler des deutschen Multikulturalismus, Einwanderer ignoriert oder kulturell konsumiert zu haben, wird nun der problematische Schluss gezogen, ihnen das Bekenntnis zu westlichen Werten abfordern zu müssen. Solange aber Einwanderer pauschal als Mitglieder homogener Ethnokulturen adressiert werden, die von 'unseren' Werten abweichen, gehen mehrheitsgesellschaftliche Integrationsaufforderungen mit diskriminierenden Zuschreibungen einher. Auf diese Weise verfestigen sich innerhalb der Gesellschaft "natio-ethno-kulturelle Grenzen" (Paul Mecheril). Daher errichten gerade jene Politiker diskursive ›Parallelgesellschaften‹, die für sich in Anspruch nehmen, Probleme einer Einwanderungsstadt ›ohne Tabus‹ zu benennen und die von Einwanderern mehr Integrationsbereitschaft einfordern ohne ihren eigenen Dominanzanspruch zu reflektieren.

Diversity rules: Die kulturell plurale Stadt
Dass es auch anders geht, zeigen das Berliner Integrationsprogramm vom August 2005 oder die integrationspolitische Philosophie des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg: Kulturen von Migranten, so argumentiert das Integrationsprogramm der rot-roten Koalition, vermischen sich "mit kulturellen und traditionellen Aspekten der Aufnahmegesellschaft [...] und lassen neue hybride Kulturen entstehen". Kulturelle Pluralität, die hier als gesellschaftlicher Reichtum gilt, "reduziert sich nicht auf ethnische Vielfalt sondern nimmt die gesamte Vielschichtigkeit moderner Stadtgesellschaften zum Ausgangspunkt". Da Kulturen hier nicht als quasinatürliche ethnische Einheiten sondern als offene, sich vielfältig vermischende und miteinander verschmelzende Praktiken und Diskurse gelten, existiert auch kein Bild eines drohenden Zusammenpralls kultureller Blöcke. Handelnde Individuen sind den Kulturen hier nicht ausgeliefert sondern wählen Zugehörigkeiten und schichten sie übereinander: Sie sind nie einfach ‚Deutsche’ oder ‚Türken’ sondern etwa deutsche Kreuzbergerin mit türkischem oder schwäbischem Hintergrund und zugleich Muslima oder Atheistin, Fußballspielerin und Hiphop-Fan, Selbständige oder Gewerkschaftsmitglied. 

Während der "Multikulti ist gescheitert"-Diskurs die Probleme des traditionellen Multikulturalismus wiederholt, setzt sich dieser in der offiziellen Politik neue Multikulturalismus, der auf dem Bild einer sich stets wandelnden gesellschaftlichen Pluralität gründet, darüber hinweg. Denn hier gelten auch nichtwestliche Einwanderer mit ihren Alltagspraktiken als selbstverständliche und gleichberechtigte Mitglieder einer kulturell vielfältigen Stadt. Dies ermöglicht einen völlig anderen Blick auf die Einwanderungsrealität. So müssen in Konflikten, die beispielsweise im Rahmen der religiösen Praktiken eines konservativen Einwanderers mit der hiesigen Rechtsordnung entstehen, nicht dessen Person und Religion als solche zum Problem erklärt werden. Vom Islam ist hier nicht als pauschale, dem Eigenen entgegenstehende Kultur die Rede, sondern in Form konkreter Praktiken, die Konflikte hervorrufen können, wenn sie Normen oder anderen Alltagspraktiken widersprechen.

Als Schlüsselkompetenzen, um "Konflikte im interkulturellen Zusammenleben kleinteilig zu bearbeiten",  benennt etwa die damalige Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg "Vielfalt managen", "interkulturelle Kompetenz", "Akzeptanz" und "Kommunikation auf Augenhöhe". Aus diesem Blickwinkel ergibt auch die sozialpolitische Floskel vom "Fördern und Fordern" einen neuen Sinn: Gefordert sind hier zuerst die staatlichen Institutionen, um die in ihnen hausenden Diskriminierungsstrukturen zu reflektieren und abzubauen, die beispielsweise Einwandererkinder in ihrem Bildungsweg systematisch benachteiligen. Schlüsselbegriffe wären "Institutionen öffnen", "Spielräume schaffen", "Potentiale fördern" oder "anderes Wissen wertschätzen".

Wenn man keine pauschalen kulturellen Unterschiede zwischen Uns und Ihnen konstruiert, sondern Probleme alltagsweltlich zu fassen versucht, so offenbart sich hier, können Konflikte einer multikulturellen Stadt sehr wohl klar ausgesprochen und im Alltag bearbeitet werden, ohne Einwanderer zu stigmatisieren, bloße Anpassungsleistungen zu erwarten oder erzieherischen Zwang auszuüben. Meine Untersuchung widerlegt hier den häufigen Vorwurf, solche alltagsweltlich agierenden Positionen würden Konflikte ›gutmenschlich‹ verharmlosen oder gar tabuisieren. Gerade weil sie keine homogenen Kollektive wie  ›die türkischen‹ Jugendlichen oder  ›die Muslime‹ mit pauschal angehafteten Verhaltensweisen konstruieren, können sie Konflikte in ihren alltäglichen Kontexten thematisieren und auf der Basis einer gleichberechtigten Partizipation der Minderheiten konkret und demokratisch bearbeiten.

Es zeigt sich, dass sich die beiden seit vielen Jahren im Fokus der deutschen Integrationsdebatte liegenden Kommunen Kreuzberg und Neukölln im politischen Umgang mit der Einwanderungsrealität an gegensätzlichen Polen verorten. Das Rathaus von Neukölln steht für ein urbanes Katastrophenszenario, das ethnokulturelle Gruppen als sozialen Sprengstoff konstruiert und Einwanderer einer paternalistischen Obhut unterwirft. Jenes von Kreuzberg reflektiert kritisch den traditionellen Dominanzanspruch der Mehrheitsgesellschaft, interpretiert einwanderungsbedingte Vielfalt als städtische Ressource und versucht Probleme und Konflikte auf einer alltäglichen Ebene partizipatorisch zu lösen.

Gescheitert, so lässt sich resümieren, ist nicht der Multikulturalismus an sich sondern seine in Deutschland vorherrschende Variante, die Einwanderer paternalistisch als kulturell Andere definierte und sie – oft unbewusst – als 'Exoten' von der Mehrheitsgesellschaft fernhielt. Während eben diese Variante im "Multikulti ist gescheitert"-Diskurs fortlebt, begann sich in der offiziellen Berliner Politik erstmals eine neue Variante des Multikulturalismus zu entwickeln, die kulturelle Pluralität und Verschmelzung sowie daraus entspringende neue Identitäten als Wesensmerkmale der städtischen Gesellschaft versteht und positiv deutet.

Dieser Artikel basiert auf einem Forschungsprojekt an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), dessen Ergebnisse in meinem Buch: "Berlin aufgemischt: abendländisch – multikulturell – kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt, transcript Verlag, Bielefeld 2007" publiziert sind. Die hier zitierten Interviewpassagen entstammen den Interviews mit zahlreichen Berliner Politikern und Funktionären, die ich dafür geführt habe.

* Dieser Artikel basiert auf einem Forschungsprojekt an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), dessen Ergebnisse in meinem Buch: "Berlin aufgemischt: abendländisch – multikulturell – kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt, transcript Verlag, Bielefeld 2007" publiziert sind. Die hier zitierten Interviewpassagen entstammen den Interviews mit zahlreichen Berliner Politikern und Funktionären, die ich dafür geführt habe.

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Dr. Stephan Lanz ist Stadtplaner und Kulturwissenschaftler. Er lehrt und forscht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) mit den Schwerpunkten Stadtentwicklung, Stadtpolitik und städtische Kulturen in globalen Metropolen.