Der Mann an der Brücke – Zum kosmopolitischen Aspekt der Literatur Orhan Pamuks

Galata Bridge

Von Sibel Kara

„Die Grenzen des Nationalstaates gehen eben nicht zusammen mit den Grenzen der Fantasie.“ (Elif Shafak)

Der Nobelpreis für Literatur ging im Jahr 2006 zum ersten Mal an einen türkischen Schriftsteller. Nicht minder wurde damit eine politische Entscheidung gefällt. Orhan Pamuk wurde mit der Verleihung des Literaturnobelpreises zugleich eine zwiespältige Rolle in der gegenwärtigen Diskussion um die Europäisierung der Türkei zuteil, die um ein weiteres Mal die öffentliche Autorperson einer Zerreissprobe zwischen Kunst und Politik stellt. Die Begründung der Jury, er habe „neue Symbole für den Zusammenprall und die Vernetzung von Kulturen gefunden,“ zog infolge einen medial zelebrierten Kulturclash nach sich, der vielfach die Vermittlerrolle Pamuks zwischen der östlichen und westlichen Welt beschwor und nicht selten auf stereotype Assoziationen zurückgriff, die durchaus wohlwollend vom „teppichknüpfenden Erzählstil“, „Detektivgeschichten aus Tausendundeiner Nacht“ oder dem Autor als „Brückenbauer vom Bosporus“ sprachen.

Die „brückenschlagende“ erzählerische Gratwanderung Pamuks zwischen Europa und der Türkei, die in seinen Werken omnipräsente Stadt Istanbul, die Thematisierung politisch-religiöser Konflikte oder eurasischer Identitätsverwirrungen legen eine kulturspezifische Analyse seines literarischen Werkes vielleicht nahe. Seine Romane sind jedoch weitaus vielschichtiger als die bloße Reproduktion eines „Clash der Kulturen“. Die Rolle des Vermittlers zwischen der europäischen und der türkischen Kultur lehnte er daher sehr rasch ab und erwiderte: „Das ist ein Etikett, das mir Politiker und Medien verpasst haben. Ich mag es nicht.“ Er sei nicht Autor, um den Europäern die Türken zu erklären oder umgekehrt, sondern um gute Bücher zu schreiben. In diesem Kontext hat Pamuks fast rebellisch klingender Gegenruf „Ich bin kein Brückenbauer" vielleicht so manch einen überrascht und weitere Fragen nach der sozialen Rolle eines Autors im gesellschaftlichen Diskurs aufgeworfen.

Doch stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob die Rolle des vermittelnden Autors nicht vielmehr für eine naive Verklärung des interkulturellen Dialogs herhalten muss, deren personifizierte Projektionen eher stellvertretend sind für die politisch-diplomatischen Verhandlungen zwischen den europäischen Nationen und der Türkei über deren EU-Beitritt, der sich nunmehr als äußerst schwierig und komplex erwiesen hat.

Der imaginierte Orient

Die These vom Zusammenprall und der Vernetzung der Kulturen, der sogenannte Clash of Civilizations, erhält im Wesentlichen die klassische, bereits seit Jahrhunderten problematische Dichotomie von Orient und Okzident weiterhin aufrecht. Diese ist spätestens seit dem 11. September zu einer ideologischen Ressource im politisch-strategischen Diskurs geworden und dient seit jeher lediglich einer argumentativen Vereinfachung und begrifflichen Zuspitzung äußerst komplexer gesellschaftlicher und kulturpolitischer Abläufe. Nun ist die begriffliche und systematische Abgrenzung traditionell ein entscheidender Faktor in der Eigenkonstitution Europas.

Die Differenz zwischen den Kulturen war schon immer ein bestimmendes Paradigma in der Begriffsbildung für die eigene europäische Identität und die damit einhergehende Definition und den Ausschluß des Fremden. Die in Wirklichkeit durch jahrhundertelange Machtkämpfe entstandenen politischen Staatsgrenzen erfahren gegenwärtig gleichermaßen eine symbolische Übertragung auf die Begrifflichkeiten in der interkulturellen Debatte, die nicht minder ideologisch-konstitutiv, aber insbesondere ebenso machtpolitische Konstruktionen sind wie die geographischen Trennlinien.

Mit Michel Foucault gesprochen ist der Orient dahingehend für das Abendland all das, was es selbst nicht ist und bleibt insofern unendlich unzugänglich, da es stets eine als natürlich erscheinende Grenze von Tag und Nacht, von Morgen- und Abendland beibehält. Der bei Edward Said weitergeführte, kulturphilosophisch massiv kritisierte Begriff des Orients bedient folglich primär die eurozentrische Projektion und Verdinglichung eines weitaus komplexer gefaßten divergenten gesellschaftlichen Gefüges. Er wird dadurch zu einem statischen Konstrukt, das von Grund auf zu der falschen Annahme von einer normativen Gegensätzlichkeit führt. Auf politischer Ebene wird so das unbekannte Neue nicht als Bereicherung, sondern zunächst als grundlegend Fremdes oder Exotisches erfaßt und verharrt, sofern es nicht die Begrifflichkeiten kritisch reflektiert, konstitutiv auf dem Konzept des immer fremd bleibenden.

Dabei ist gerade die Türkei begrifflich schwer zu fassen, da sie aktuell im Vergleich zu manch einem europäischen Staat extrem widersprüchliche innerpolitische Machströmungen vereinen muß und eigene gesellschaftspolitische kulturelle Auseinandersetzungen mit äußerst divergierenden Weltauffassungen zu bewältigen hat. Das von nationalistischen, islamischen oder laizistisch-kemalistischen bis zu europäisch-demokratischen Denkansätzen durchzogene Land ist in sich so divergent, dass eine Zuschreibung östlicher oder orientalischer Werte zu verkürzt ist und eine Einheit konstruiert, deren sich das Land selbst nicht bewußt ist.

Polyphone Identitäten

Der europäische Einfluß auf die Türkei oder die türkische Literatur ist bereits seit dem Osmanischen Reich vorhanden und seit der Gründung der Republik 1923 fester Bestandteil im politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnis der Nation. Pamuk geht in diesem Zusammenhang soweit zu sagen, die Sprach-, Kleider- oder Kalenderreform Kemal Atatürks habe die Türken gar um einen wesentlichen Teil des Türkischen betrogen. Die Reformen waren ein weitreichender kultureller Einschnitt in das Geschichtsempfinden der Nation, daher sei das „Türkisch sein“ vielmehr gleichbedeutend mit einem Zustand des „verwirrt sein“.

Bei der Unterscheidung von östlicher und westlicher Kultur spielen offenkundig die Religionen, das Christentum und der Islam die wesentlich differenzierende Rolle. Die thematische Auseinandersetzung insbesondere mit der Sufi-Mystik ist bei Pamuk jedoch nicht nur eine Verbindung dieser zwei Welten, sondern zugleich auch eine zeitlich korrelierende Rückwende, im Sinne einer Rückbesinnung auf die innertürkische Geschichte vor der Gründung der Republik, ihrem eigenen verdrängten Anderen.

Pamuk, der die Türkei als Teil Europas begreift, decodiert dieses ambivalente Spannungsverhältnis jedoch nicht in seine Einzelteile oder versucht diesen Widerspruch zu lösen. Er spricht in diesem Zusammenhang von „zwei Seelen“, die in ihm wohnen und begreift das Schreiben als Prozess einer Suche nach der eigenen Identität. Die politische Integration der Türkei in die Europäische Union wäre für ihn „ein gutes Beispiel dafür, dass es keinen Kampf der Kulturen gibt.“

Kartographie einer Geschichte

Istanbul, die Stadt die scheinbar diese europäischen wie auch orientalischen Kulturen am deutlichsten in sich vereinend spiegelt und in der laut Pamuk „jeder ein Fremder“ ist, ist ein prägendes Motiv in Pamuks Romanen und zieht sich fast wie eine heimliche Kartographie durch seine Erzählungen. In ihr spinnt er das Netz einer kriminologischen Suche des Erzählers nach der eigenen Identität, fernab der Determiniertheiten von Orient oder Okzident, vielmehr in einem unbestimmten Raum – im Dazwischen.

Pamuk zeichnet vor allem ein vielschichtiges, teilweise verblasstes Bild der Stadt aus den Schatten vergangener Tage, aus individuellen und kollektiven Erinnerungen, er macht das Abwesende anwesend, zeigt das Verborgene, das Unbewußte und entwickelt eine fiktive Gleichzeitigkeit der zeitlichen und kosmokulturellen Sphären, deren Widersprüchlichkeit konstitutiv hybride Identitäten hervorbringt.

Auf seiner kartographischen Suche bewegt er sich nach eigenen Angaben auf Hegels Spuren. So sei es nicht die moralische Aufgabe des Autors, die Figuren zu verurteilen, dies sei eine vielmehr private oder politische Einstellung. Aufgabe des Schriftstellers sei es, die Welt zu zeigen wie sie ist. Es geht in seinem Schreiben also insbesondere um das Verstehen des Anderen. Das Vermögen, Mitgefühl zu empfinden, das einzig dem Menschen wesenhaft ist, ist dabei Hauptantrieb seiner Erzähltheorie.

Pamuk, der sich selbst als unpolitischen Autor bezeichnet, ist vielmehr politisch indem wie er schreibt und nicht in erster Linie durch das thematische Worüber. Die Widersprüchlichkeit der „verwirrten“ türkischen Seele wird in Pamuks Romanen im Stil der Postmoderne umgesetzt. Dieses vielschichtige, dekonstruktivistische Beschreiben und Darstellen von Geschichte ist selbst die prozesshafte, im Werden begriffene Suche des unfertigen erzählenden Ichs in einer kosmopolitischen und polyphonen Welt.

Pamuk, der sein erzählerisches Werk gerne mit der Harmonie in der Musik vergleicht, komponiert und ordnet diese Vielstimmigkeit und zeigt so ein divergentes Bild von Geschichte und Identität. So ist die Geschichte Istanbuls, die Pamuk erzählt, nicht mehr nur eine duale, sondern viel weitergehender die Darstellung einer Dreiecksbeziehung zwischen den Konstruktionen und dem ewig Suchenden Ich, das immer auch für das Selbst des Betrachters steht.

Hybride Literatur

Spätestens im Zeitalter der Globalisierung werden dualistische Perspektiven, die sich auf einen statischen Kulturbegriff beziehen, zu überholten Vorstellungen. Die mit der Globalisierung einhergehende verstärkte kulturelle Hybridisierung ist seit jeher für die Entwicklung der Menschheitsgeschichte grundlegend. Sie kann de facto nicht auf die temporäre Konstitution von Nationen reduziert oder durch kulturalistisch konstruierte Differenzordnungen begrenzt werden.

Es ist daher die Aufgabe und Herausforderung des Lesers, diese Widersprüchlichkeiten und Brüchigkeiten von Identitäten auszuhalten. Es ist zu hoffen, daß die Türkei, die viel zu oft lediglich das „Land an der Brücke zu Europa“ ist, auf der diesjährigen Buchmesse ein divergenteres Bild hinterläßt und so eine Diskussion um eine Literaturauffassung jenseits der begrifflichen Determiniertheiten von Orient und Okzident ermöglicht, in deren Verlauf sich neue über den Nationenbegriff oder einen dualen Kulturbegriff hinausgehende Konzepte etablieren.

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Sibel Kara ist Philosophin und Literaturwissenschaftlerin. Sie ist als freie Mitarbeiterin bei der Heinrich-Böll-Stiftung und bei Pro Diversity tätig. Ihre Schwerpunkte sind politische und praktische Philosophie, CSR und interkulturelle Literatur.