„Beyond Multiculturalism“: Neue Leitbilder für die Einwanderungsgesellschaft

von Susanne Stemmler

Am 12.05.2009 übergab Bundeskanzlerin Merkel zum ersten Mal persönlich sechzehn Migrantinnen und Migranten die Einbürgerungsurkunde. Diese Geste – mit der die politische Spitze in diesem Land auf die langjährige Tatsache reagiert, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind – wurde von einigen Kommentatoren der Presse als längst überfällig beschrieben. Andere haben nicht ohne Schärfe kommentiert, dass es sich um eine „gouvernantenhafte Geste im Kanzleramt“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung), um reine Symbolpolitik handele. Diese Aktion versuche zu verbergen, dass die Politiker die Migrationspolitik im Kern eher verschlechtert als verbessert haben: So seien etwa Einbürgerungsmöglichkeiten für junge Migrantinnen und Migranten erschwert worden. Sie müssten sich zwischen dem deutschen Pass und der Staatsangehörigkeit der Eltern entscheiden. Zudem würde der neue Einbürgerungstest von vielen Einwandererinnen und Einwanderern eher als Ausdruck des Misstrauens und als Hürde empfunden.

Im gleichen Jahr feierten wir ebenso den sechzigsten Geburtstag der Bundesrepublik: wir ließen sechzig Jahre Grundgesetz hochleben. War eigentlich etwas von der Bedeutung der Einwanderung in der Geschichte unseres Landes zu hören? Dem alten und neuen Bundespräsidenten ist es nicht in den Sinn gekommen, auf die Bedeutung von Zuwanderung, Migration und Einbürgerung in seiner tour d´horizon der Geschichte der Republik hinzuweisen.

Migration im globalen Wandel

Hat es mit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise zu tun, bei der die Befürchtung existieren mag, dass ein „heißes“ politisches Thema, wie die Migration besser nicht angesprochen wird? Die Frage liegt zumindest nahe. Doch wir leben im Zeitalter der Globalisierung und besonders nach der epochalen Zäsur des Jahres 1989 – die sich ebenfalls im letzten Jahr zum zwanzigsten Male jährte – sind die Gesellschaften mobiler denn je. Gemeinsame Verbindungen entstehen nicht nur über den Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Finanztransaktionen. Sondern eben auch über die realen Bewegungen von Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen auch in Zukunft vollziehen werden, ja vollziehen müssen.

Migration ist – wie es in der internationalen Politik oft heißt – ein defining global issue. 192 Millionen Migrantinnen und Migranten leben nach Schätzung der International Organisation for Migration weltweit derzeit in einem anderen Land als in ihrem Geburtsland. Das sind rund 3% der Weltbevölkerung. Und hunderte Millionen sind ihre Nachkommen, die durch die Migrationserfahrung der Eltern geprägt sein werden. Globale Trends, wie der demographische Wandel, wirtschaftliche Disparitäten, die erforderliche Mobilität von Hochqualifizierten und der Ausbau von modernen Kommunikationstechnologien werden die Migration der Zukunft beeinflussen. Auch ist schon jetzt absehbar, dass auch der Klimawandel Migrationsbewegungen verstärkt und verstärken wird.

Der Umgang mit Einwandern und ihren Nachkommen ist aber – so ist immer öfter zu hören – in ganz erheblichem Masse ein Gradmesser dafür, wie sich moderne Gesellschaften entwickeln. Sie ist ein „Lackmustest für Demokratie“ wie Michael Werz es formulierte. Doch – kaum ein Land scheint diesen Prozess wirklich gut zu steuern oder gar ohne zuviel Blauäugigkeit als große Bereicherung zu empfinden.

„Amerika, du hast es besser!“ – mag man ausrufen mit Blick auf Präsident Obamas Vorschlag der Richterin Sonia Sotomayor als erste „Hispanic“ zur Vorsitzenden für den Obersten Gerichtshof in den USA. Von der Bronx in den Supreme Court, aus den „Projects“, den Sozialbauten, bis an die Schaltstellen der Macht. Daran sehen wir, welche gesellschaftlichen Dynamiken ausgelöst werden, wenn man so genannten ‚Minderheiten’ demonstriert „Du bist hier gewollt“. Während in den USA bis in die Reihen der Republikaner so langsam klar wird, dass die Meinungsführerschaft im Land nur mit und nicht gegen die Einwanderer zu gewinnen ist, bewegt sich der Diskurs in unserem Land noch mit anderem Takt. Die Bilanz liest sich wie ein deutsches Trauerspiel:

Nachdem der Multikulturalismus der 90er Jahre – der eine Einteilung von Menschen anhand ihrer ethischen Herkunft vornahm – inzwischen ein feuilletonistisches Schmähwort geworden ist, gibt es kein Leitbild, keine übergreifende gesellschaftliche und kulturelle Vision für das Einwanderungsland Deutschland. Man redet zwar von den verschiedenen ‚Kulturen’, meint damit aber eigentlich Ethnizität. Es herrscht nach wie vor eine ethnische Kategorisierung vor, die fatal ist, weil sie dem einzelnen keine Wahlmöglichkeiten und keine mehrfachen Zugehörigkeiten erlauben.

Nach der Wende von 1989 kam es zu einer Renaissance des Nationalismus, Deutschland verpasste die Chance, sich als eine multiethnische Nation neu zu erfinden. Das ging bis zu rassistischen Anschlägen (1990-1991-1992) auf Asylbewerberheime und deutsch-türkische Familien. Im kollektiven Bewusstsein der Nachkommen der Einwanderer wirkt das bis heute als die Schattenseite der Wiedervereinigung nach.

Im Angesicht der langen Einwanderungsgeschichte nach Deutschland wurde erstaunlicherweise vor gar nicht langer Zeit, erst vor zehn Jahren, ein neues Einwanderungsgesetz geschaffen. Erst im Jahr 2005 wurde zum ersten Mal demografisch belegt, dass ein Fünftel der deutschen Gesellschaft einen so genannten Migrationshintergrund besitzt. Das trifft immerhin auf 15 Millionen Menschen zu, etwa 20% der Bevölkerung in Deutschland.

Zudem weiß man hierzulande nie so genau, über welche Menschen man eigentlich redet, wenn man über Einwanderung in Deutschland spricht: Über die, die kommen sollen und auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der Abwanderung von Fachkräften benötigt werden? Über die, die kommen wollen und in Marokko auf die Überfahrt nach Europa warten? Über die, die mittlerweile in der zweiten und dritten Generation, hier sind in hier leben, hier alt werden oder noch ganz jung sind? Über diejenigen, die keine unmittelbare Migrationserfahrungen mehr, sondern eher „postmigrantische“ Biografien haben? Über die deutsche BiIdungselite mit ‚Migrationshintergrund’, die inzwischen aber lieber in die USA oder in die Türkei auswandert, weil man dort kein ewiger „Ausländer“ ist?

„Ihr“ und „Wir“?

Währenddessen verharren die öffentlichen Debatten bei dem Schlagwort „Integration“. Das ist problematisch, denn die Idee des Sich-Integrierens geht immer noch von Eingliedern eines kleineren Teiles („Ihr“) in ein homogenes Ganzes („das Wir“) aus. Sie aber diejenigen, die einwandern, a priori desintegriert? Und wer ist das „Wir“, in das sie integriert werden sollen? Ein solch starres Konzept von Gesellschaften, eine solch statische Sicht auf ‚Identität’ wird angesichts der beschleunigten Globalisierung der Realität nicht mehr gerecht. Auch das Europäischsein wird irgendwann das Deutsch-, Britisch- oder Französischsein überlagern. Die Neuankömmlinge und ihre Nachfahren die ändern die vorherigen Gesellschaften. Und letztere sind in sich auch nicht so homogen wie angenommen. Gerade in diesem Prozess entsteht etwas Neues, von dem man vorher noch nicht weiß, was es sein wird. Ihn gilt es zu gestalten.

Ein Zugehörigkeitsgefühl setzt sich aus vielen Faktoren zusammen: Bildung, Geschlecht, Alter, Religion, Mehrsprachigkeit, Alter, Aufenthaltstatus, Staatsbürgerschaft u.a. spielen hier eine Rolle und eben nicht nur Herkunft und Ethnizität. Gesellschaften sind super-divers wie noch nie zuvor, um es mit einem Begriff von Steven Vertovec, dem Leiter des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen, zu sagen, der damit die gesteigerte innere Komplexität unserer Gemeinschaften bezeichnet. „Wer gehört zu wem, und mit welcher Absicht, und wer entscheidet das überhaupt?“ – das ist die von dem Historiker David Hollinger einprägsam gestellte Schlüsselfrage, die er in seinem Buch mit dem Titel Beyond Multiculturalism aufwirft.

Wenn man also über neue Leitbilder reden will, muss man sich die Begriffe sorgsam überlegen, mit denen man über Menschen spricht – die Einteilung in „wir“ und „ihr“, gar in „Ausländer“ und „Inländer“, in Insider und Outsider ist kontraproduktiv und macht viele Menschen, die seit Jahren in diesem Land leben, möglicherweise Deutsche sind, überhaupt erst zu Fremden. Daher ist die Arbeit am Begriff, die theoretische Reflektion zu verbinden mit den politischen und öffentlichen Diskursen, die handlungsbestimmend sind. Neueste Impulse aus der nunmehr als zwanzig Jahre alten internationalen akademischen Debatte sollten die Debatte hierzulande endlich nach vorn bringen.

Die internationalen Erfahrungen und Modelle anderer Einwanderungsländer wie die USA, Australien, Brasilien, Europa – mit seiner kolonialen Vergangenheit, die in Fragen der Staatsbürgerschaft eine große Rolle spielt – sollten dabei ebenso zur Sprache kommen wie die Begriffsverwirrung um Leitbilder im transatlantischen Austausch. Die Politik muss sich zunehmend an der Fähigkeit messen lassen, ob es ihr gelingt, gute Leitbilder für eine diverse Gesellschaft zu entwickeln und Pluralismus als wünschenswerte Option darzustellen. Auch die Kulturinstitutionen müssen ihr Selbstverständnis ändern – sie sind immer noch der Idee einer Nationalkultur verhaftetet. Sie aber müssen Strategien und Konzepte entwickeln, sich für Diversität zu öffnen. Dabei sollte auch der Einfluss der bereits in Deutschland lebenden transnational agierenden Künstler zum Tragen kommen.

War also der Multikulturalismus der 80er und 90er Jahre nach Jahren der „Ausländerpolitik“ ein für damalige Verhältnisse möglicherweise fortschrittliches Leitbild für mehr Toleranz und Respekt gegenüber den Einwandernden, so stehen wir heute vor ganz neuen Herausforderungen. Es ist an der Zeit, endlich in ein „postethnisches Zeitalter“ (David Hollinger) einzutreten. Heute liegt der Akzent auf der Frage nach dem beyond, nach dem Jenseits, nach der Zukunft. Dazu bedarf eines ‚größeren Denkens’ als das Denken in den Dimensionen von Integration, Sprachkursen und Leitkultur. Wir alle müssen uns für das Zusammen-Leben neu erfinden. Dieses Neue besteht nicht nur in der Suche nach anderen Begriffen zur Beschreibung gegenwärtiger gesellschaftlicheres Komplexität wie Diversität oder Kosmopolitanismus, sondern es umfasst etwas sehr Aktives, das von uns allen Anstrengungen erfordert und nicht nur immer von den „Anderen“.

 

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Susanne Stemmler ist Leiterin des Bereiches Literatur, Gesellschaft und Wissenschaft am Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Sie inittierte die Konferenz "Beyond Multiculturalism", die im Juni 2009 stattfand.