Editorial Dossier Muslimische Gemeinschaften zwischen Recht und Politik

Die Diskussion um die  Anerkennung muslimischer Gemeinschaften als gleichberechtigte Religionsgemeinschaften in Deutschland wurde zuletzt durch die Aussage von Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum zwanzigsten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 befördert, dass der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehöre. Das Thema wird seit etwa zwanzig Jahren, auch im Rahmen der vom Bundesinnenministerium initiierten Deutschen Islamkonferenz kontrovers diskutiert - bislang jedoch mit kaum vorzeigbaren Ergebnissen.

Die Debatte ist nicht zuletzt deshalb so kontrovers, weil es dabei um die Zukunft des deutschen Religionsverfassungsrechts geht. Gelingt die Anerkennung und Integration der muslimischen Religionsgemeinschaften nicht, droht das tradierte Kooperationssystem zwischen Staat und Religionen seine Legitimität zu verlieren, und die Stellung der christlichen Kirchen würde eine unhaltbare, da ungerechtfertigte Privilegierung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften darstellen. Dies stünde dem Verfassungsauftrag entgegen, den einzelnen Religionen neutral, jedoch positiv, in Anerkennung der Leistungen der Religionsgemeinschaften im öffentlichen Leben gegenüberzustehen. 

 

Im Wesentlichen geht es bei der Forderung muslimischer Organisationen nach Anerkennung als Religionsgemeinschaften um zwei vorrangige Ziele: zum einen um die Einführung eines ordentlichen islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen sowie die Ausbildung geeigneter Lehrkräfte an deutschen Universitäten, und zum anderen um den Aufbau einer religiösen Infrastruktur, die es möglich macht, seelsorgerische Angebote, etwa in Krankenhäusern und Gefängnissen, zur Verfügung zu stellen.

Im vorliegenden Dossier werden die rechtlichen Herausforderungen aufgezeigt, religionspolitische Positionen analysiert und Perspektiven eröffnet, wie die religionsverfassungsrechtliche Integration muslimischer Gemeinschaften vorangebracht werden kann.

 

Im ersten Teil werden die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen dargestellt, die Gegenstand von Diskussionen sowohl der 1. Deutschen Islamkonferenz (2006-2009) als auch des 68. Deutschen Juristentages 2010 in Berlin gewesen sind. Die Empfehlungen und Beschlüsse der beiden Gremien zielen darauf ab, durch Änderung von Gesetzen bzw. auf der Grundlage der existierenden Rechtslage muslimische Gemeinschaften stärker in das bestehende Religionssystem zu integrieren.

Im zweiten Teil wird die muslimische Organisationslandschaft vermessen: Wen vertreten die im Koordinationsrat der Muslime zusammengeschlossenen muslimischen Verbände, und wie repräsentativ sind sie? Welche Bedeutung haben verbandsunabhängige Moscheen und andere muslimische Selbstorganisationen im Alltag der MuslimInnen, und wie können sie in den Dialogprozess einbezogen werden? Wie ist die Deutsche Islamkonferenz als staatlich organisierte Dialogplattform zu beurteilen? Und wie realistisch und legitim ist die Forderung der Politik gegenüber allen muslimischen Organisationen, einen einzigen Ansprechpartner zu bilden?

Im dritten Teil Religionsunterricht & Imam-Ausbildung werden die Interessen der MuslimInnen an islamischem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen erörtert. Wie legitim und notwendig ist die Forderung, und welche weitreichenden Herausforderungen ergeben sich für die Etablierung einer Imam-Ausbildung an deutschen Universitäten? Welche Faktoren begünstigen eine darauf abzielende Kooperation zwischen Landesregierungen und muslimischen Gemeinschaften, und aufgrund welcher Faktoren gilt diese Kooperation in Niedersachsen als gelungen?

Das Dossier haben die Soziologin Hasret Karacuban und der Politikwissenschaftler Mounir Azzaoui konzipiert und redigiert. Gesamtredaktion: Olga Drossou (MID-Redakteurin).

 

Mounir Azzaoui ist Politikwissenschaftler und promoviert zu muslimischen Interessenorganisationen in Washington DC. Von 2006-2008 hat er sich in der Deutschen Islamkonferenz mit religionsverfassungsrechtlichen Themen befasst. Von 2001-2006 war er Pressesprecher des Zentralrats der Muslime in Deutschland.

Hasret Karacuban ist Soziologin und Sprecherin des Arbeitskreises Grüne MuslimInnen NRW. Sie arbeitet im Landtag Nordrhein-Westfalen und engagiert sich in innerhalb der Grünen Partei in den Bereichen Religionspolitik, Frauenpolitik und Migrationspolitik.