Von Positiven Maßnahmen zu positiven Pflichten? Wie kann mehr Verbindlichkeit in der Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik erreicht werden?

von Sibylle Raasch

Es geht im Folgenden um Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik, das Verhältnis beider Teile zueinander und um deren Verbindlichkeit. Die Europäische Union und Deutschland setzen beide den Schwerpunkt auf Antidiskriminierung. Es soll verhindert werden, dass Menschen durch Rassismus oder wegen bestimmter, persönlich unveränderbarer Merkmale wie ethnische Herkunft, Geschlecht oder Alter diskriminiert werden. Insbesondere Frauen sowie Migrantinnen und Migranten haben heute noch keinen gleichen Zugang zu attraktiven Arbeitsplätzen, beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, Wohnungen, Krediten oder Versicherungsschutz, um die Hauptproblembereiche zu nennen. Das Verbot unter Bezug auf bestimmte Gruppenmerkmale zu diskriminieren ist in Deutschland verbindlich im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aus dem Jahr 2006 geregelt. Es kann von Diskriminierten, wenn auch unter Schwierigkeiten, vor Gerichten eingeklagt werden.

Allerdings ist offenkundig, dass bloße Nichtdiskriminierung nicht ausreicht, um die vorhandene gesellschaftliche Benachteiligung tatsächlich zu beseitigen und für die Zukunft mehr Gleichheit und damit auch mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. Rechtsformale Gleichbehandlung kann tatsächliche Ungleichheit teilweise sogar weiter verstärken. Hier setzen die Positiven Maßnahmen oder auch positive action an, um die es heute gehen soll. Ich werde das Thema in folgenden Schritten angehen und dabei die aktuelle Diskussion um Frauenquoten für Aufsichtsräte exemplarisch in den Mittelpunkt stellen.

     1. Was sind Positive Maßnahmen?
     2. Frauenunterrepräsentanz auf Führungs- und Leitungspositionen,
         keine Diversity
     3. Freiwillige Positive Maßnahmen ausreichend?
     4. Die Diversity-Klausel im Corporate-Governance-Kodex als Druckmittel?
     5. Norwegen und Frankreich: Frauenquoten für Aufsichtsräte
     6. Darf der deutsche Staat weiter untätig bleiben?
     7. Frauenquoten für Aufsichträte und Vorstände auch in Deutschland?
     8. Ausblick: Pflicht zu Positiven Maßnahmen zugunsten von Gender und Diversity

1. Was sind Positive Maßnahmen?
Positive Maßnahmen wollen Menschen, welche wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts oder anderer Merkmale bisher gesellschaftlich benachteiligt sind, besser behandeln, um für die Zukunft mehr Gleichheit herzustellen. Durch Positive Maßnahmen soll ein Fundament geschaffen werden, auf welchem dann die eigentlich gewünschte Gleichbehandlung ohne Ansehen von ethnischer Herkunft, Geschlecht usw. überhaupt erst Sinn macht. Hierzu zählen z.B. die Aufforderung an Angehörige bestimmter, bisher in einem Unternehmen unterrepräsentierter Gruppen in einer Stellenanzeige, sich auf die ausgeschriebene Stelle zu bewerben, besondere Qualifikationsangebote für einzelne Gruppen wie Frauen oder Migrantinnen oder auch Zielvorgaben, wie bestimmte Positionen gruppenspezifisch künftig angemessener besetzt werden sollen.

Die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien gestatten einerseits solche Positiven Maßnahmen allgemein, verlangen aber andererseits nichts Konkretes. Und auch der die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien in Deutschland umsetzende § 5 AGG formuliert nur eine Option auf Positive Maßnahmen, aber keine Verpflichtung und schon gar keine Pflicht zu bestimmten Positiven Maßnahmen. Eine unterschiedliche Behandlung ist nach § 5 AGG „zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile … verhindert oder ausgeglichen werden sollen.

Damit bleiben zwei zentrale Fragenkomplexe durch den Gesetzgeber unbeantwortet:

  1. Welche Besserbehandlung in Anknüpfung an ein Merkmal, welches ansonsten als Differenzierungskriterium gerade verboten ist, ist als Positive Maßnahme dennoch gestattet? 
  2. Ist es völlig frei gestellt, wer wann welche Positive Maßnahme ergreift? Oder gibt es dann, wenn gesellschaftliche Benachteiligung besonders eklatant ist, zumindest für den Staat doch eine Pflicht zu Positiven Maßnahmen? Und kann der Staat als Gesetzgeber in Fällen solcher eklatanter gesellschaftlicher Benachteiligung die privaten Unternehmen zu bestimmten Positiven Maßnahmen verpflichten?

Um diesen zweiten Fragenkomplex soll es im Folgenden gehen. Die Frage ist jedoch schlecht abstrakt für alle Fälle gleichermaßen zu beantworten. Ich möchte sie daher am Beispiel der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen und Aufsichtsräten genauer erörtern.

2. Frauenunterrepräsentanz auf Führungs- und Leitungspositionen, fehlende Diversity
In Deutschland besetzten Frauen 2008 nur knapp ein Drittel aller Führungspositionen in der Privatwirtschaft. Mit 30,8 Prozent lag Deutschland damit noch unter dem EU-Durchschnitt von 32,5 Prozent. Spitzenreiter Frankreich brachte es immerhin auf einen Frauenanteil von 40 Prozent. Zudem stagniert dieser Frauenanteil seit 2001, obwohl die Kategorie „Führungskräfte“ in den EU-Erhebungen sehr weit gefasst ist. Denn es werden sowohl Personen mit Leitungsfunktionen als auch bloß hoch qualifizierte Fachkräfte mit einbezogen.(1)

Auch der Anteil von Beschäftigten mit ausländischem Pass ist im oberen und mittleren Management deutscher Unternehmen niedrig. Er soll sich allen Mythen von weltweiten Arbeitsmärkten zum Trotz nur im einstelligen Bereich bewegen.(2) Die Anteile von Migrantinnen und Migranten dürften ähnlich niedrig liegen. So ist den Daten des Statistischen Bundesamtes zu entnehmen, dass Erwerbstätige mit Migrationshintergrund zu knapp der Hälfte als Arbeiter und Arbeiterinnen tätig sind, was nur auf ein Viertel der Beschäftigten ohne Migrationshintergrund zutrifft.(3) Und Menschen mit Migrationshintergrund haben nach einer experimentellen Bewerbungsstudie des IZA (4) bereits deutlich niedrigere Chancen (minus 14 Prozent), dass auf ihre Bewerbung überhaupt ein Rückruf aus dem Unternehmen erfolgt.

Blickt man auf die eigentliche Entscheidungsspitze der Unternehmen, den Vorstandsbereich, sah die Bilanz auch 2010 noch einfach beschämend aus (5): In den Vorständen der 200 umsatzstärksten Unternehmen (ohne Finanzsektor) betrug der Frauenanteil 3,2 Prozent, 29 Frauen stehen 877 Männern gegenüber. Nur zwei Frauen sind Vorstandsvorsitzende. Zudem gilt: Je größer das Unternehmen, umso seltener sind Frauen im Vorstand. In den 100 umsatzstärksten Unternehmen betrug der Frauenanteil nur noch 2,2 Prozent. Im Finanzsektor stellen Frauen zwar über die Hälfte der Beschäftigten, aber auch nur 2,9 Prozent der Vorstände der großen Unternehmen bei zwei Vorstandsvorsitzenden.(6)

Die Internationalisierung der Unternehmen scheint auf den ersten Blick schon etwas weiter zu sein: Die deutschen TOP-100-Unternehmen konnten schon 2005 zumindest auf neun Vorstandsvorsitzende mit ausländischem Pass verweisen, wobei allerdings 5 aus Deutschland und der Schweiz, also demselben Kulturraum, kamen.(7) Kulturelle Diversität ist also auch hier Mangelware.

Etwas besser scheint die Lage in den Aufsichtsräten zu sein. Bei den Top-200-Unternehmen betrug die Frauenquote 2010 immerhin 10,6 Prozent, bei zwei Vorsitzenden, die allerdings aus den jeweiligen Eigentümerfamilien stammten.(8) Im Finanzsektor betrug die Frauenquote sogar 16,3 Prozent.(9) Der überwiegende Teil dieser Aufsichtsratsfrauen wurde aber nicht von den Anteilseignern berufen, sondern von der Arbeitnehmerseite. Die höhere Zahl von Frauen in Aufsichträten ist also vor allem der Unternehmensmitbestimmung zu danken.(10)

Nun könnte man argwöhnen, dass es sie einfach nicht gibt, die Spitzenfrauen mit dem wirtschaftlichen Sachverstand. Dem ist aber nicht so, wenn man den Blick auch auf kleinere Unternehmen richtet, auf Unternehmensberatungen oder Wirtschaftsanwaltspraxen. Dorthin wandern die Frauen nämlich ab, wenn sie in den größeren Unternehmen für ihren weiteren Aufstieg keine Chance mehr sehen.

Aufstiegshemmnis Nummer eins sind die Männer in den Führungsetagen deutscher Unternehmen: Eine breit angelegte Untersuchung von Sinus Sociovision im Auftrag des BMFSFJ aus dem Jahr 2010 kommt zu dem Ergebnis : „In den von Männern dominierten Führungsebenen der Wirtschaft gibt es seitens der Männer massive informelle und kulturelle Bollwerke gegenüber Frauen.“ Es gäbe eine verbale „gender-political-correctness“, aber faktisch agierten die Männer (z.T. unbewusst) als „Hüter der gläsernen Decke“(11), also als Bewahrer der informellen und unsichtbaren Schranken, die Frauen von den Führungsspitzen der Unternehmen fernhalten, auch wenn sie sich um einen weiteren Aufstieg bemühen.

3. Freiwillige Positive Maßnahmen ausreichend?
Auf bloß freiwilliger Basis wird sich an diesem Zustand in für heutige Frauen noch erlebbaren Zeiträumen nichts ändern. Seit 2001 gibt es die rechtlich unverbindliche „Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft“. Doch die diesbezüglichen Bilanzen Chancengleichheit 2003, 2006 und 2008 können zwar eine Reihe Positiver Maßnahmen benennen, aber keine statistisch nachweisbaren Verbesserungen belegen. Es gab in den letzten zehn Jahren keine signifikanten Steigerungsraten bei den Frauenanteilen, teilweise sogar wieder Rückschritte.

Und Unternehmensbefragungen zeigen auch keine konkrete Veränderungsbereitschaft in den dafür relevanten Führungsetagen. Es fehlt zwar nicht an guten Worten, sehr sowohl aber am ernsthaften Willen. Man schätzt Frauen und ihre Arbeit allgemein. Man sieht den kommenden demografischen Engpass. Man kennt vielleicht sogar die Studien, welche belegen, dass sich mehr Diversität im Unternehmen rechnet, dass Unternehmen mit einer diversen Führungsbesetzung ökonomisch erfolgreicher sind als die alten Monolithen.(12) Und dennoch rührt sich in der breiten Masse der Führungsetagen nichts. Seit Jahrzehnten gibt es den kleinen Kreis der immer gleichen progressiven Unternehmen, die zumindest Absichtserklärungen mit unterschreiben und Pilotprojekte für mehr Gender und Diversity starten. Allerdings sieht es selbst in deren Führungsetagen nicht grundlegend besser aus.

Deutschland ist insoweit kein Einzelfall. Auch im EU-Ausland haben die Privatunternehmen nirgends freiwillig und von sich aus ihre Personalentwicklung verändert - auch nicht in Norwegen, wo heute die Aufsichtsräte der großen Aktiengesellschaften zu 41 Prozent mit Frauen besetzt sind. Doch dazu erst später.

4. Die Diversity-Klausel im Corporate-Governance-Kodex als Druckmittel?
Am 26. Februar 2002 wurde der Deutsche Corporate Governance Kodex zum ersten Mal verabschiedet. Er formulierte, in Reaktion auf diverse Aktienskandale, Grundsätze guter Unternehmensführung zur Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften im Aktionärsinteresse. Die Aktiengesellschaften müssen den Kodex zwar nicht befolgen. Tun sie es aber nicht, müssen sie das im jährlichen Geschäftsbericht für ihre Aktionäre begründen; - soft law also, normative Vorgaben ohne wirkliche Sanktion.

Am 18. Juni 2009 wurde dieser Kodex um zwei Diversity-Empfehlungen (Ziff. 5.1.2 und 5.4.1) ergänzt: „Bei der Zusammensetzung des Vorstandes soll der Aufsichtsrat auch auf Vielfalt (Diversity) achten.“ Und „Bei Vorschlägen zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern … soll auch … auf Vielfalt (Diversity) geachtet werden.“ Seit der Neufassung des Kodexes vom 26.5.2010 heißt es als Zusatz nun sogar an drei Stellen mit Bezug auf die Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat, man solle dabei „… insbesondere eine angemessene Berücksichtigung von Frauen anstreben“ und in den konkreten Zielvorgaben zur Aufsichtsratsbesetzung „eine angemessene Beteiligung von Frauen vorsehen“.(13)

Wie auf den Hauptversammlungen mit den neuen Diversity-Vorgaben zur Personalentwicklung umgegangen wird, erforschte das Projekt „Aktionärinnen fordern Gleichberechtigung“, getragen vom Deutschen Juristinnenbund und der Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen im Deutschen Anwaltsverein im Jahr 2010: 72 Frauen machten bei allen DAX-30-Unternehmen und 44 MDAX- und TecDax-Unternehmen als Aktionärinnen auf deren Hauptversammlungen von ihrem Fragerecht Gebrauch und dokumentierten die Antworten.(14) Das Ergebnis des Projekts wurde von der Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes Jutta Wagner wie folgt zusammengefasst: „Die Unternehmen bekennen sich zwar zu Diversity und verstehen darunter auch eine angemessene Beteiligung von Frauen. Aber Diversity wird in den Unternehmen nicht gelebt und umgesetzt.“(15) Soweit die Unternehmen auf Nachfrage ihrer Aktionärinnen Antworten zu Diversity oder Gender gaben, blieben ihre Antworten meist vage und unverbindlich. Für die Zukunft hatte sich nur ein einziges Unternehmen (ProSiebenSat1) konkrete Fünf-Jahres-Ziele gesetzt. Der Rest hielt konkrete Zielsetzungen „nicht für zielführend“, „es bestehe kein Bedarf“, „der Frauenanteil sei schon hoch genug“ oder es gehe allein nach Qualifikation. Bei dieser Gelegenheit äußerte sich die Hälfte der Unternehmensleitungen ungefragt auch gleich noch zu einer künftigen Frauenquote und zwar durchgängig und teilweise sehr prägnant negativ.(16)

5. Frauenquoten für Aufsichtsräte in Norwegen und Frankreich
Unsanktionierte Besetzungsvorgaben für Aufsichtsräte und Vorstandsetagen vergleichbar dem deutschen Corporate Governance Kodex haben auch die meisten anderen EU-Staaten geschaffen. Quantitative Erfolge stehen auch hier weiterhin aus. Doch in Norwegen ist der Gesetzgeber weiter gegangen: In einem Drei-Stufen-Plan wurde eine 40-Prozent-Frauenquote für die Spitzen, Boards, der großen Allgemeinen Aktiengesellschaften (ASA) eingeführt.(17) Im Jahre 2003 lag der Frauenanteil in den norwegischen Boards auch nur bei 8,5 Prozent. Das wollte die konservative (!) Regierung Norwegens im Rahmen einer Strategie zur Wirtschaftsmodernisierung ändern.

  • In der ersten Stufe ab 1.1.2004 wurden alle Unternehmen im Staatsbesitz bis hin zum großen Ölkonzern Statoil verpflichtet, bis zum 1.1.2006 eine Frauenquote von 40 Prozent zu realisieren, was auch geschah. Private ASAs hatten bis zum 1.7.2005 Zeit, diese Quote auf freiwilliger Basis einzulösen, was nicht geschah. 
  • In der zweiten Stufe 2006 – 2008 wurden neue Unternehmen nur noch zugelassen, wenn sie im ihrem Board eine 40-Prozent-Frauenquote nachweisen konnten. Bestehende Unternehmen bekamen weitere zwei Jahre Übergangsfrist. Danach lag die Frauenquote in allen Boards schon bei 38 Prozent. 
  • In der dritten Stufe ab 1.1.2008 gilt die 40-Prozent-Quote nun voll. Aktiengesellschaften, welche keinen 40-Prozent-Frauenanteil nachweisen und keine besondere Ausnahmesituation anführen können, müssen wegen Nichterfüllung der gesetzlichen Vorgaben nach allgemeinem norwegischen Gesellschaftsrecht liquidiert werden. Dazu ist es bislang, soweit bekannt, aber nicht gekommen. Manche Unternehmen wechselten die Rechtsform, 10 bis 15 Prozent bekamen wegen ihrer besonderen Probleme Nachfristen gesetzt. Der Rest löste die Quote ein.

Ende 2009 lag die durchschnittliche Frauenquote in den norwegischen Boards sogar schon bei 41 Prozent. Selbst bei den kleinen Familienunternehmen, die gar nicht dieser gesetzlichen Frauenquote unterliegen, stieg der Frauenanteil signifikant an. Und die Boards wurden dabei diverser, weil man die gewünschten Frauen teilweise aus dem Ausland berief, weil diese Frauen durchschnittlich jünger und formal höher qualifiziert waren.

Woher kamen die Frauen ansonsten? Der Norwegische Verband für Wirtschaft und Industrie (NHO), eine Art Kammer, hat das Quotengesetz zwar vehement abgelehnt. Dennoch legte der NHO schon 2002, als er das Gesetz kommen sah, ein entsprechendes Qualifikationsprogramm auf, für welches seine NHO-Mitglieder jeweils bis zu drei geeignete Frauen benennen konnten, bezahlt versteht sich. Über 50 Prozent dieser Absolventinnen sind dann später auch tatsächlich Aufsichtsrätinnen geworden. Allerdings soll es auch einige Frauen geben, bei denen sich inzwischen die Aufsichtsratsmandate häufen - wie es ja auch bei Männern vorkommt. Die Einführung einer Obergrenze für Aufsichtratsmandate allgemein wäre deswegen sinnvoll.

Frankreich, ebenfalls konservativ regiert, ist dem Beispiel Norwegens inzwischen gefolgt. Auch hier stagnierte der Frauenanteil in den Aufsichträten fünf Jahre lang um die 8 Prozent. Am 13.1.2011 hat die französische Nationalversammlung jetzt in zweiter Lesung ein Gesetz verabschiedet, nach dem die Aufsichts- und Verwaltungsräte börsennotierter und öffentlicher Unternehmen binnen 6 Jahren zu 40 Prozent mit Frauen besetzt sein müssen. Bis 2014 sind 20 Prozent zu erreichen, bis 2017 die vollen 40 Prozent. Dabei sind auch Sanktionen vorgesehen: Bei Nichteinhaltung der Quote ist die Ernennung von neuen Männern ungültig. Und die Sitzungsgelder in den Aufsichts- und Verwaltungsräten können ausgesetzt werden. Selbst die Präsidentin des französischen Arbeitgeberverbandes MEDEF, Laurence Parisot, applaudierte dazu mit den Worten, dass sich Ungerechtigkeiten manchmal allein mit klaren Vorgaben wie der Quote verändern ließen.(18)

6. Darf der deutsche Staat weiter untätig bleiben?
Angesichts dieser Beispiele drängt sich die Frage auf, ob der deutsche Staat der gleichstellungspolitischen Stagnation in einer solchen Situation weiterhin tatenlos zusehen darf. Das Bundesverfassungsgericht hat seit seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch 1975 aus Grundrechten nicht mehr nur Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe, sondern auch konkrete Schutzpflichten hergeleitet: Kann ein Grundrecht anders nicht geschützt werden, hat der Gesetzgeber eine Pflicht zum effektiven Tätigwerden, notfalls sogar zum Strafen.(19) Und Art. 3 Abs. 2 GG enthält ja seit 1994 mit seinem Satz 2 sogar einen ausformulierten Verfassungsauftrag zugunsten der Frauen: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Wie konkret sind diese staatlichen Handlungspflichten im Fall einer dauerhaft und nachgewiesen untätigen Privatwirtschaft? Könnten Frauen den Staat in diesem Fall sogar schon wegen Untätigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht verklagen?

Die Antwort muss zwiespältig ausfallen. Dem Gesetzgeber steht, wie bei der Ausführung aller anderen Schutzpflichten und Verfassungsaufträge, auch bei Art. 3 Abs. 2 GG prinzipiell ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Insoweit der Gesetzgeber bereits tätig geworden ist, sind seine Maßnahmen aber daran zu messen, ob sie in Beziehung auf den zu erreichenden Schutz bzw. das mit einem Verfassungsauftrag zu erreichende Ziel effektiv sind. Und der Staat darf ein bestimmtes Niveau jedenfalls nicht unterschreiten. Insofern enthalten Schutzpflichten und Verfassungsaufträge ein Untermaßverbot.(20) Das maßgebende Grundrecht ist dann verletzt, wenn die Auslegung und Anwendung staatlicher Maßnahmen den vom Grundrecht vorbezeichneten Schutzzweck grundlegend verfehlt.(21)

Die bisherigen staatlichen Maßnahmen zur Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frau und Mann in der Privatwirtschaft, die alle auf Freiwilligkeit setzten, haben im Bereich der Führungs- und Leitungspositionen keine Wirkung gezeigt. Das Ziel einer Gleichstellung von Frauen und Männer im Führungsbereich wurde nachweislich grundlegend verfehlt. Insofern verletzt der Staat durch seine heutige Untätigkeit tatsächlich den Verfassungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG.

Allerdings ist auch beim Untermaßverbot der grundsätzlich weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu beachten. Die Pflicht zur Förderung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frau und Mann besteht nur auf objektivrechtlicher Ebene. Ein subjektives Recht der einzelnen Frau entspricht dem nicht.(22) Eine Verletzung des Untermaßverbots kann also nicht einfach vor dem Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden. Frauen und ihre Interessenverbände müssen abwarten, ob diese Frage dem Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens von den dazu berechtigten Akteuren vorgelegt wird. Z.B. könnte ein künftiges Gesetz mit wieder nur unsanktionierten Zielvorgaben, die sich die Unternehmen auch noch selber ausdenken dürfen, wie Frau Ministerin Schröder es am Mittwoch gerade propagiert hat, nach seiner Verabschiedung mit der Begründung, es verletze das Untermaßverbot des Art. 3 Abs. 2 GG, im Rahmen einer abstrakten Normenkontrollklage vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG). Antragsberechtigt wären ein Viertel der Mitglieder des Bundestages oder eine Landesregierung, - vielleicht die neue in Baden-Württemberg?

7. Frauenquoten für Aufsichtsräte und Vorstandsetagen auch in Deutschland?
Will der Staat die Unterrepräsentanz der Frauen auf Vorstandspositionen und in Aufsichtsräten auch in Deutschland wirksam bekämpfen, bleiben nach den bisherigen Erfahrungen nur noch wenige Optionen. Die Freiwilligkeit ist ausgereizt. Der Staat darf sich um ein sanktioniertes Gesetz nicht länger herumdrücken. Er muss Inhalt und Schranken des Eigentums an Aktiengesellschaften gesetzlich neu bestimmen, wie dies Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ja ausdrücklich gestattet. „Eigentum verpflichtet“, heißt es weiter in Art. 14 Abs. 2 GG. „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Und zu diesem Allgemeinwohl gehört, darin ist sich die Rechtswissenschaft ausnahmsweise einmal einig, auch die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frau und Mann aus Art. 3 Abs. 2 GG.

Allerdings muss bei der Quotierung zwischen Aufsichtsrat und Vorstand unterschieden werden. Auch die Quotengesetze in Norwegen und Frankreich beziehen sich nur auf das Gremium, welchem nach deutschem Aktiengesetz der Aufsichtrat entspricht. Der Aufsichtsrat ist sowieso dem Prinzip der Repräsentanz von Gruppeninteressen verpflichtet bis hin zu RepräsentantInnen des Arbeitnehmerinteresses. Er ist das Kontrollorgan der Aktiengesellschaft. Bezogen auf den Schutz des Privateigentums aus Art. 14 GG kann der Gesetzgeber hier im Rahmen seiner Inhalts- und Schrankenbestimmung zugunsten der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Geschlechter ziemlich weit eingreifen und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums in Richtung auf mehr Gleichberechtigung konkretisieren.(23) Auch andere Grundrechte und EU-Recht hindern hier nicht, ohne dass auf diese Fragen an dieser Stelle im Detail hier weiter eingegangen werden kann.(24

Der Vorstand einer Aktiengesellschaft hingegen leitet die Gesellschaft in eigener Verantwortung. Hier liegt das Zentrum des eigentlichen unternehmerischen Handelns, für welches der Staat die Art der Akteure nicht einfach per Quotengesetz vorschreiben darf. Der Gesetzgeber muss hier stärkeres Gewicht darauf legen, dass geeignete Vorstandsfrauen in den Unternehmen an die Spitze durchwachsen und nicht mehr schon im letzten Drittel ihres Aufstiegs an der „gläsernen Decke“ scheitern. Dazu bedarf es nicht einfach irgendwelcher Zielquoten nur für den Vorstand, sondern eines umfassenden und durchgängig abgestimmten Gleichstellungskonzeptes in jedem einzelnen Unternehmen.

8. Ausblick: Pflicht zu Positiven Maßnahmen zugunsten von Gender und Diversity
Statt eines bloßen Quotengesetzes bedarf es also bis zum Vorstand hinauf in den Unternehmen vieler aufeinander abgestimmter Positiver Maßnahmen. Und angesichts der Tatsache, dass die EU-Antidiskriminierungspolitik nicht mehr nur die Gleichstellung der Geschlechter, sondern längst eine breitere Diversity anstrebt, sollten diese Positiven Maßnahmen auch breiter angelegt werden und die Förderung anderer Merkmalsgruppen, insbesondere von Migrantinnen und Migranten, mit einschließen. Auch gibt es keinen Grund, solche Konzepte auf die Rechtsform Aktiengesellschaft zu beschränken.

Weiterhin auf bloße Freiwilligkeit zu setzen hieße allerdings nach den Erfahrungen der letzten 10 Jahre auch hier das Untermaßverbot zu unterschreiten. Die schon nach § 5 AGG bestehende Möglichkeit zu Positiven Maßnahmen sollte vom Gesetzgeber zu einer Pflicht zu konzeptionell aufeinander angestimmten Positiven Maßnahmen weiterentwickelt werden. Es bedarf der Entwicklung von Gender-Diversity-Plänen, in denen konkrete Positive Maßnahmen und die damit zu erreichenden quantitativen Ziele genau ausgewiesen werden müssten. Zu solchen Positiven Maßnahmen könnte eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Teilzeit auf Führungspositionen ebenso gehören wie ein Mentoring-Programm zugunsten von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch ein Weiterbildungsprogramm für die heutigen Manager in Richtung auf verbessertes Diversity-Management. An der Erreichung der Zielvorgaben innerhalb bestimmter Fristen ließe sich der Erfolg der Positiven Maßnahmen auch quantitativ messen.

Die Unternehmen dürften sich ihre Zielvorgaben aber natürlich nicht einfach selbst setzen, diesen Zustand haben wir ja faktisch heute schon. Es müsste sichergestellt werden, dass die gesetzten Ziele quantitativ ein bestimmtes Niveau erreichen. Die bloße „gesetzliche Pflicht zur Selbstverpflichtung“, die Frau Ministerin Schröder vorschlägt, kann die stagnierende Entwicklung nicht dynamisieren. Der Gesetzgeber selbst müsste gestufte allgemeine quantitative Ziel- und Zeitvorgaben für alle Unternehmen einer bestimmten Größenordnung vorgeben, die Zielerreichung auch kontrollieren und nur für begründete Sonderfälle die Beantragung von Ausnahmen zulassen.

Wie wäre es, die Erreichung von Zielvorgaben für Gender und Diversity z.B. in den Spitzen der großen Aktiengesellschaften via Zielvereinbarungen für die einzelnen Vorstandsmitglieder verbindlich zu machen? Sanktioniert werden könnte die Erfüllung solcher Zielvorgaben, indem ihre Erreichung bei der Festsetzung der inzwischen ja gesetzlich geregelten „angemessenen“ Vorstandsvergütung mit herangezogen werden müsste.(25)

Wir dürfen die langjährige Stagnation in der Gleichstellungspolitik nicht länger auf die leichte Schulter nehmen. Mit Gleichberechtigung und Diversity geht es in der deutschen Wirtschaft nicht nur um ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit. Es geht auch um eine unerlässliche Modernisierung der Deutschen Wirtschaft und die Wahrung ihrer Spitzenposition im internationalen Wettbewerb. Jede moderne Volkswirtschaft und jedes moderne Unternehmen muss darauf achten, dass alle vorhandenen personellen Ressourcen optimal eingesetzt werden, - besonders wenn diese Ressourcen demographisch bedingt künftig immer knapper werden. Nur dieser letzte rein ökonomische Gesichtspunkt kann auch erklären, dass es in Norwegen und Frankreich konservative politische Mehrheiten waren, die in den Aufsichtsräten einen Zwang zum Wandel per Gesetz verankert haben.

Impulsvortrag auf der Tagung „Positive Action: Mit Positiven Maßnahmen Barrieren abbauen, Chancengleichheit und Vielfalt fördern“ der Heinrich Böll Stiftung, Berlin 1.4.2011

Endnoten
(1) Vgl. Wippermann, C. (Sinus Sociovision): Frauen in Führungspositionen, BMFSFJ 2. Aufl. April 2010, S. 76 f. m.w.N.
(2) Vgl. Spitzengehälter für Manager – der Mythos vom weltweiten Arbeitsmarkt, Böcklerimpuls 5/2010 S. 3 unter Bezugnahme auf Studien von M. Pohlmann und M. Hartmann.
(3) Vgl. iwd 15.5.2008 S. 6 unter Verweis auf Daten des Statistischen Bundesamtes.
(4) Vgl. Kaas, L.; Manger, Chr.: Ethnic Discrimination in Germany’s Labour Market: A Field Experiment, Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA), discussion paper No. 4741, Februar 2010
(5) Alle Zahlen zur Besetzung der Vorstände und Aufsichtsräte vgl. Holst, E.; Schimeta, J: 29 von 906: Weiterhin kaum Frauen in Top-Gremien großer Unternehmen, Wochenbericht DIW Berlin Nr. 3/2011 S. 2 ff., S. 3
(6) Vgl. Holst, E.; Schimeta, J.: Krise nicht genutzt: Führungspositionen großer Finanzunternehmen weiter fest in Männerhand, Wochenbericht DIW Berlin Nr. 3/2011 S. 12 ff., S. 13
(7) Vgl. Böcklerimpuls (Fn 2)
(8) Vgl. Holst/Schimeta (Fn 5) S. 3 f.
(9) Vgl. Holst/Schimeta (Fn 6) S. 14
(10) Vgl. Holst/Schimeta (Fn 5) S. 4 und (Fn 6) S. 14
(11) Vgl. Wippermann (Fn 1) S.8 f.
(12) Einen aktuellen Überblick liefern Stelkens, A.; Behrens, U.: Women Matter: Die McKinsey- und andere Studien, in: Deutscher Juristinnenbund e.V. (djb): Aktionärinnen fordern Gleichberechtigung, BMFSFJ, Berlin Okt. 2010, S. 94 ff.
(13) Zu den Details des Corporate Governance Kodexes siehe Albrecht, F. u.a.: Die Änderungen im Kodex – Roadmap to Gender-Diversity, in djb (Fn 12) S. 53 ff.
(14) Zum Projektkonzept siehe Düsing, M.: Projektidee sowie Goscinska, A.: Projektorganisation, in: djb (Fn 12) S. 17 f. und 18 ff.
(15) Wagner, J.: Vorwort, in: djb (Fn 12) S. 7.
(16) Ausführlich zur den Hauptversammlungsbesuchen siehe Kersten, B.: Projektauswertung, in: djb (Fn 12) S. 21 ff., hier S. 36 f., 46
(17) Einzelheiten siehe Raasch, S.: Erhöhung der Frauenrepräsentanz in Aufsichtsräten: Norwegen – ein Modell? In: Zeitschrift für Europarecht, internationales Privatrecht & Rechtsvergleichung 5/2009 S. 216 ff.
(18) Vgl. Französische Botschaft Berlin: Frankreich verabschiedet Gesetz zu Frauenquote in Aufsichtsräten von Unternehmen, PM 18.1.2011,  (28.3.2011)
(19) Vgl. BVerfG 25.2.1975, E 39, 1, 42 ff.
(20) Vgl. Sacksofsky, U.: Art. 3 II, III, in: Umbach/Clemens: Grundgesetz, MAK, 2002, Rn. 358
(21) BVerfGE 89, 276, Leitsatz Nr. 1
(22) Vgl. Sacksofsky (Fn 20) Rn 358 m.w.N.)
(23) Vgl. Raasch (Fn 17) S. 220 f.
(24) Zu Detailüberlegungen siehe Raasch (Fn 17) S. 219 ff; Laskowski, S.: Gesetzliche Quotierung von Aufsichtsräten, in: djb (Fn 12) S. 70 ff.
(25) Einzelheiten siehe Schmidt, M.: Zielvereinbarungen für Vorstandsmitglieder – Der Turbo zur Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen? In: djb (Fn 12) S. 107 ff.
 

Bild entfernt.

Sibylle Raasch ist Professorin für Öffentliches Recht und Legal Gender Studies an der Universität Hamburg. Auf dem Foto hält sie den Impulsvortrag auf der Veranstaltung der Heinrich Böll Stiftung "Positive Action" im April 2011 in Berlin.