Die soziale Lage der neuen griechischen Migranten in Deutschland.

Heimatkunde
Teaser Bild Untertitel
"Heimatkunde" 2011 © Jannis Psychopedes

von Pigi Mourmouri

Die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens, das die Bundesrepublik Deutschland mit Griechenland am 30.03.1960 geschlossen hatte um ihren Bedarf nach Arbeitskräften während des Wirtschaftswunders zu decken, war der Anfang einer massiven griechischen Einwanderungswelle in die Bundesrepublik Deutschland. Die meisten Arbeitsmigrant_innen, die sogenannten „Gastarbeiter_innen“, kamen hauptsächlich aus den verarmten Regionen Griechenlands: Makedonien, Thrakien, Epirus. Diese Regionen litten, als Folge des zweiten Weltkrieges und des Bürgerkrieges, unter hoher Arbeitslosigkeit.

Die jungen und gesunden Griechen und Griechinnen, sorgfältig ausgewählt von den deutschen Kommissionen in Griechenland, kamen als ungelernte Arbeiter_innen mit einjährigen Arbeitsverträgen nach Deutschland und wurden meistens in der Schwerindustrie eingesetzt. Die neuen Migrant_innen hatten mit Alltagsproblemen zu kämpfen. Die Wohlfahrtsverbände übernahmen nach dem Subsidiaritätsprinzip Anfang der sechziger Jahre die soziale Betreuung der neuen Migrant_innen aus allen Anwerbeländern, die nach Deutschland zur Arbeitsaufnahme kamen. Der Verteilungsmodus richtete sich nach Religion und Konfessionszugehörigkeit der Arbeitsmigrant_innen.

Die soziale Betreuung der griechischen Arbeitsmigrant_innen übernahm das Diakonische Werk, der Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche in Deutschland. Caritas erhielt den Auftrag, den katholischen Zuwander_innen aus Spanien, Italien und Portugal beratend zur Seite zu stehen. Die Arbeiterwohlfahrt wurde mit der Betreuung jugoslawischer, türkischer und Zuwander_innen aus anderen Anwerbeländern beauftragt. Die entstandenen Beratungs- und Freizeitzentren konnten viele Probleme, bedingt durch sprachliche Barrieren, kulturelle Unterschiede, Eingliederung in die neue unbekannte Arbeitswelt, Umgang mit Behörden, etc. auffangen und dort Hilfe leisten. Das Diakonische Werk Berlin e.V. übernahm in diesem Rahmen bereits Anfang der 60er Jahre die soziale Betreuung und Beratung der in Berlin arbeitenden Griechen und Griechinnen. 

Das Interkuturelle Frauen- und Familienzentrum „TO SPITI“

Das Zentrum „TO SPITI“ wurde im April 1980 unter dem Namen “TO SPITI – Zentrum für griechische Frauen und ihre Familien” in Trägerschaft des Diakonischen Werkes Neukölln-Oberspree e.V. (heute Diakoniewerk Simeon gGmbH) gegründet.

TO SPITI (griechisch für “Zuhause”) ist zur Heimat für diese erste Migrant_innengeneration, vor allem für die griechischen Frauen geworden. Das Zentrum ist für Frauen und Familien griechischer Herkunft sowie für Freund_innen und Nachbar_innen anderer Herkunft zu einem Treffpunkt geworden. Sie nehmen die migrationsspezifische Sozialberatung stark in Anspruch, nehmen an den Gruppenaktivitäten –Frauen und Seniorengruppe- sowie an Informations- und sonstigen Veranstaltungen teil. TO SPITI ist nicht nur ein Beratungszentrum sondern ein Zentrum für Freizeitaktivitäten wie Musik-, Tanz- und Kulturveranstaltungen, ein Ort der interkulturellen Begegnung, des friedlichen Miteinanders, der Annäherung und der Verständigung aller Menschen in unserer Stadt. In der über 31jährigen Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Neukölln wurde ein Kursangebot entwickelt (Kinder- und Erwachsenentanzgruppen, Griechischkurse für Deutsche und andere Interessierte, Gesundheitsseminare, Gymnastik für Frauen aller Nationalitäten) über welches das Programmheft der VHS-Neukölln informiert. Im Jahre 1995 ist zur Unterstützung der sozialpädagogischen Arbeit unseres Zentrums der Förderverein – TO SPITI e.V. gegründet. Dieser ist der Träger von „Perivoli“, des ersten interkulturellen Gartens Berlins, ein Projekt welches von der Seniorengruppe unseres Zentrums initiiert ist.

Sozialberatung bei TO SPITI

Unser niedrigschwelliges, familienorientiertes und ganzheitliches interkulturelles Beratungsangebot ist seit 31 Jahren in der griechischen Community bekannt und genießt das Vertrauen unserer Klient_innen, zumal TO SPITI die einzige Beratungsstelle dieser Art in Berlin und Umgebung ist.

Unsere Mitarbeiterinnen mit ihrer langjährigen Berufserfahrung und ihrer fachlichen Kompetenz beraten die Ratsuchenden in deutscher und griechischer Sprache. Die Beratung ist aufgrund der Vielfältigkeit und der Komplexität der Probleme der Klient_innen zeitaufwändig. Unsere Zielgruppen sind Migrant_innen griechischer Herkunft, Angehörige der sogenannten ersten Gastarbeitergeneration. Diese Gruppe ist zahlenmäßig die Größte. Dazu kommen Neuzuwander_innen aus Griechenland, die aufgrund der Finanzkrise in Griechenland einen enormen Zulauf verzeichnen. Auch Migrant_innen anderer Nationalität suchen Beratung bei uns. Natürlich Migrant_innen griechischer Herkunft der zweiten Generation mit fehlenden Deutschkenntnissen und Kinder aus binationalen Partnerschaften, sowie Deutsche kommen zu uns. Oft kommen ältere Menschen aus Griechenland, die aus Alters- und gesundheitlichen Gründen zu ihren in Deutschland lebenden Kindern zogen, um hier ihren Lebensabend zu verbringen.

Die Probleme dieser Menschen sind vielfältig und komplex. Viele Leute leiden unter Arbeitslosigkeit. Die Langzeitarbeitslosigkeit verursacht Existenzängste. Weitere Probleme wie Wohnungssuche, Kinder- und Altersarmut, gesundheitliche Probleme, Schwerbehinderung, Pflegebedürftigkeit, Isolation, Verschuldung und Perspektivlosigkeit führen die Leute zu uns, um Rat zu suchen. Migrationsspezifische Probleme wie Entwurzelung und Identitätskrisen auch aufgrund des Älterwerdens in der Fremde und gescheiterter Lebensplanung führen zu Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen.

Auch die Sprachbarrieren und Wertekonflikte kreieren Orientierungsprobleme. Andere Menschen kommen wegen rechtlichen Angelegenheiten. Sie haben Fragen zu Aufenthalts- bzw. Ausländerrecht,  Staatsangehörigkeitsrecht, Fragen in Bezug auf bilaterale Abkommen das Herkunftsland und Deutschland betreffend (soziale Sicherung, Wehrpflicht). Auch Fragen zu Gesundheitsrecht, Scheidung- bzw. Familienrecht-, Sorgen- und Unterhaltsrecht sowohl Versorgung und Unterstützung von Angehörigen. Neuerdings kommen viele Fragen zur Einreise nach Deutschland und Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland.

Die Sozialberatung bei TO SPITI bleibt ein wichtiger Bestandteil unseres Zentrums und gewinnt mehr an Bedeutung angesichts der neuen Auswanderungswelle aus Griechenland. Nicht nur die Menschen der ersten Migrant_innengeneration („Gastarbeiter_innengeneration“), vor allem die Älteren und Gebrechlichen unter ihnen, sind auf das Angebot einer Einzelfallberatung  weiterhin stark angewiesen, auch die neu ankommende brauchen unbedingt Beratungs- und Orientierungsangebote von uns.

Die Neuzugewanderten aus Griechenland

Aufgrund der Wirtschaftskrise in Griechenland ist der Beratungsbedarf bei TO SPITI massiv angestiegen. Die neue Auswanderungswelle, ein Phänomen welches bereits im Jahr 2010 festgestellt wurde, setzt sich fort und zwar in größerem Umfang. Die Anzahl der Neuzuwander_innen aus Griechenland nimmt stetig zu. Insbesondere seit September 2011 ist die Anzahl erheblich angestiegen. Es kommen Familien mit Klein- und Schulkindern, Alleinstehende und vor allem junge Menschen im Alter von 20 bis 40 Jahren. Viele von diesen jungen Menschen haben ein Hochschulstudium in Griechenland absolviert bzw. verfügen über eine berufliche Qualifikation. Doch auch junge Menschen ohne Berufsabschluss befinden sich unter den Neuzuwander_innen.

Auch Angehörige anderer ethnischer Gruppen, Albaner, Bulgaren, Serben etc., die in Griechenland einen Daueraufenthalt hatten, sowie griechischsprachige Roma und Muslim_innen, kommen wegen der Wirtschaftskrise und der sich zuspitzenden Arbeitslosigkeit in Griechenland nach Berlin. Die Situation spitzt sich beunruhigend zu; alle sind voller Hoffnung, in Berlin schnell eine berufliche Perspektive zu erhalten; eine Hoffnung, die nur in wenigen Fällen erfüllt wird. Die meisten stehen nach kurzer Zeit mittellos da, da die Ersparnisse, die sie mitbrachten, schnell aufgebraucht sind.

Die Probleme der Neuzuwander_innen sind komplex und vielfältig. Das größte Problem ist die Suche eines Arbeitsplatzes. Wegen der fehlenden Deutschkenntnisse können sie meistens nur in der Gastronomie (in griechischen Restaurants) eine Arbeit finden. Nur in Ausnahmefällen erhalten sie eine Vollzeitbeschäftigung. Die meisten arbeiten nur geringfügig, wobei sowohl die Arbeitsbedingungen wie auch der Arbeitslohn oft unwürdig sind. Andere überleben durch Gelegenheitsjobs, in nicht versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen (Arbeitsverträge fehlen etc.). Auch Fälle, in denen der Lohn gar nicht gezahlt wird, erleben wir oft.

Das zweite große Problem ist die Suche nach Wohnraum. Die griechischen Einwander_innen können nicht nachweisen, dass sie ein geregeltes Einkommen haben, daher sind die Hausverwaltungen nicht gewillt, Wohnungen an sie zu vermieten. Zudem sind Griech_innen zurzeit aufgrund des durch die Medien vermittelten schlechten Bildes nicht glaubwürdig und werden als Mieter_innen nicht gerne akzeptiert. Einige verzweifelte Neuzuwander_innen sind gezwungen in Untermiete zu Wucherpreisen zu wohnen. Andere, die keine Wohnung erhalten können, wohnen in Herbergen, in Hotels mit Mehrbettzimmern, in Notunterkünften oder werden für kurze Zeit bei Bekannten oder Verwandten untergebracht.

Probleme ergeben sich auch bei den jungen Familien mit Schulkindern, wenn sie keinen Platz für ihre Kinder in den beiden Griechisch-Deutschen Europaschulen bekommen können, da diese Schulen wegen ihrer begrenzten Kapazitäten nur in wenigen Fällen neue Kinder aufnehmen können. Die sprachlichen Defizite, die diese Kinder in der deutschen Sprache haben ist ein weiteres Hindernis für die Aufnahme in bilingualen Schulen. Für die Kinder bedeutet dieser Ausschluss eine zusätzliche Entwurzelung.

Viele Neuzuwander_innen haben Probleme mit der Krankenversicherung, da sie kein regelmäßiges Einkommen haben und nach ihrer Einreise meist von Ersparnissen leben. Viele von diesen Menschen sind monatelang nicht krankenversichert, da sie das Geld für eine Krankenversicherung nicht haben. Aufgrund der Pflicht zur Krankenversicherung stehen sie bei einer Arbeitsaufnahme oder beim Bezug von Transferleistungen vor dem Problem, für die Zeit der fehlenden Krankenversicherung rückwirkend seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland Beiträge aufbringen zu müssen.
 
Ungefähr. 20 Neuzuwander_innen kommen wöchentlich zusätzlich zu den bisherigen Ratsuchenden in die griechischsprachige Sprechstunde bei TO SPITI. Von der telefonischen Beratung machen ca. 12-15 Personen dieser Gruppe wöchentlich Gebrauch. Auch Institutionen, wie die Griechische Botschaft, griechische Gemeinde, Übergangswohnheime usw. rufen verstärkt diesbezüglich an bzw. leiten Neuzuwander_innen an uns weiter.

Auch telefonisch oder per Email erhalten wir Anfragen von Menschen aus Griechenland, die noch nicht ausgewandert sind und vorerst Informationen über die neue „Heimat“ haben möchten, insbesondere brauchen sie Informationen über Beschäftigungsmöglichkeiten.

Die Ratsuchenden - oft verzweifelte Menschen - benötigen umfangreiche Beratung, die sehr zeitaufwändig ist. Sie brauchen Orientierungshilfen und Informationen über die Möglichkeiten eines Aufenthalts in Deutschland. Sie suchen nach einem Arbeitsplatz und Unterbringungsmöglichkeiten, sie wollen die Sprache lernen. Sie brauchen Unterstützung bei Anträgen auf ALG I bzw. ALG II, Klärung der Krankenversicherung, u.v.m.

Es ist davon auszugehen, dass die Situation dieses und nächstes Jahr noch schlimmer werden wird, da die Arbeitslosigkeit in Griechenland ständig zunimmt und bereits jetzt einen Rekordwert zu verzeichnen hat; im Februar 2012 lag die Arbeitslosigkeit, nach Angaben der Statistischen Griechischen Behörde ELSTAT, bei 21,7 Prozent (im Februar 2011 betrug sie 15,2 Prozent). Besonders dramatisch ist die Situation der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren; mehr als die Hälfte ist arbeitslos. Die Dunkelziffer ist sicher noch höher, da viele Arbeitslose sich nicht registrieren lassen, wenn sie die Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld nicht erfüllen. Eine Besserung ist nicht zu erwarten, angesichts der wirtschaftlichen Gegebenheiten (hohe Staatsverschuldung, drastische Sparmaßnahmen, Schließung von mittelständischen Unternehmen, Senkung des Mindestlohnes, fehlende Investitionen etc.).

Diese aussichtslose Situation und die daraus resultierende Hoffnungslosigkeit wird viele Menschen zwingen - vor allem junge Menschen- Griechenland auf Dauer zu verlassen, um eine berufliche Perspektive im Ausland zu suchen. Diese Menschen müssen die Möglichkeit bekommen, sich hier auf Dauer niederzulassen. Sie sind Menschen voller Energie, sie wollen schnell Deutsch lernen, um ihre Zukunft hier aufzubauen. Berlin sollte auf dieses junge, dynamische Potential (nicht nur wissenschaftliches) bewusst zugehen und sie im Blick auf die Entwicklung der Stadt nutzen. Ihre schnelle Integration wird ein Gewinn für uns alle sein.

Die Griech_innen bilden noch heute die viertgrößte Zuwander_innengruppe in Deutschland. Seit der ersten Einwanderung sind nun 50 Jahre vergangen. Die Probleme, die die so genannten „Gastarbeiter_innen“ damals hatten, unterscheiden sich aber kaum von den Problemen, die die neuen Zuwander_innen aus Griechenland heute haben. Es gibt aber einige signifikante Unterschiede. Während vor 50 Jahren die Griech_innen als ungelernte Arbeiter_innen nach Deutschland kamen, verfügen heute –wie oben bereits erwähnt- viele der Neueingereisten über eine Berufsausbildung bzw. sind hoch qualifiziert, da sie einen akademischen Abschluss haben. Die EU-Freizügigkeit ermöglicht eine Einreise ohne Einschränkung in ein anderes europäisches Land; diese Freiheit bedeutet jedoch eine große Verantwortung über die eigenständige Lebensplanung. Denn damals hatten die Zuwander_innen einen sicheren Arbeitsplatz und Unterkunft durch die anwerbenden Unternehmen erhalten; heute stehen sie zunächst ohne Hilfe da und müssen einen Neustart aus eigener Kraft bewältigen.

Unsere Beratung bei TO SPITI steht von daher vor völlig neuen Aufgaben und vor einer großen Verantwortung, die sie wahrnehmen muss – und möchte. Zusätzliche personelle Kapazitäten sind allerdings notwendig um den neuen Ansprüchen gerecht zu werden.
 

Literatur

  • Jahresbericht 2011 des Interkulturellen Frauen- und Familienzentrums TO SPITI
  • Ελληνική Στατιστική Αρχή (ΕΛΣΤΑΤ), Δελτίο Τύπου από 10.Μαίου 2012, έρευνα εργατικού δυναμικού: Φεβρουάριος 2012

 

Pigi Mourmouri ist Dipl. Sozialarbeiterin. Seit Oktober 1995 ist sie bei „TO SPITI-Interkulturelles Frauen und Familienzentrum“ als Sozialarbeiterin tätig. Ihre Klienten_innen waren und sind hauptsächlich Menschen mit griechischem Migrationshintergrund.