Empowerment nach dem Phoenix-Ansatz

Logo Phoenix e.V.

 

Amma Yeboah & Sofia Hamaz im Interview

 

Frau Yeboah, Sie sind langjährige Empowerment-Trainerin bei Phoenix e.V. - was für eine Art von Arbeit machen Sie, wo und mit wem?

Phoenix e.V. ist eine NGO mit Sitz in Duisburg, die 1996 von Austen Peter-Brandt gegründet wurde und sowohl national wie auch international für eine Kultur der Verständigung arbeitet. Die Arbeit von Phoenix e.V. basiert auf der Erkenntnis, dass Rassismus sowohl auf der individuellen Ebene ein wesentliches Hindernis bei zwischenmenschlichen Begegnungen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine ernstzunehmende Gefahr für den Frieden darstellt. Denn das System des Rassismus teilt die Menschen so auf, dass die Unterdrückung bestimmter Gruppen akzeptabel erscheint. Rassismus legitimiert die Unterdrückung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe nach dem Prinzip, je höher die Melanin-Konzentration der Haut, desto minderwertiger ist dieser Mensch, daher darf sie/er keine Macht in der Gesellschaft besitzen und/oder ausüben. Der Arbeitsschwerpunkt von Phoenix e.V. besteht darin, den alltäglichen Rassismus bewusst wahrzunehmen und Strategien gegen Rassismus zu entwickeln.

Als aktives Mitglied von Phoenix e.V. lerne ich durch den Dialog mit anderen aktiven Mitgliedern, das System des Rassismus zu reflektieren und zu entschlüsseln, meine eigene Rolle in diesem System zu erkennen und mich eventuell neu zu positionieren. Als Trainerin bin ich gemeinsam mit Co-Trainer_innen von Phoenix e.V. in unterschiedlichen Trainings deutschlandweit aktiv. Es handelt sich um Black-Consciousness-Trainings (BCT) für People of Color (PoC), auch Empowerment-Trainings genannt, sowie um Anti-Rassismus-Trainings (ART) für Weiße, auch White-Awareness-Trainings genannt. Wichtig bei den Trainings sind die geschützten Räume, in denen sowohl PoC als auch Weiße über das System des Rassismus sprechen und lernen können, ohne dabei in Täter-Opfer-Schemata zu verfallen. Wir legen großen Wert auf die freiwillige Teilnahme und die Schaffung einer Atmosphäre, in der Menschen freie Entscheidungen treffen können. Nach einem Phoenix-Training soll sich niemand gezwungen fühlen, etwas gegen Rassismus zu unternehmen.

 

Was ist Phoenix-Empowerment? Inwiefern unterscheidet es sich von anderen Formen von Empowerment-Trainings?

Ich glaube, jedes aktive Mitglied von Phoenix e.V. hat eine ganz persönliche Definition vom Phoenix-Empowerment, und zwar je nach der persönlichen Erfahrung mit dem Phoenix-Empowerment-Prozess. In der Tat finde ich es äußerst schwer, das Phoenix-Empowerment zu definieren. Nach meinem ersten Empowerment-Training 2002 habe ich im Laufe der Jahre das Phoenix-Empowerment immer wieder neu definiert, immer wieder neu reflektiert und immer wieder neu erfahren. Genau das ist für mich der Kern des Phoenix-Empowerments: Eine Form des Empowerments, die vor allem die Fähigkeit zur Selbstreflexion reizt. Wenn ich im Rahmen des Trainings oder aber danach gewillt bin, oder einfach Lust dazu habe, diesen oder jenen Weg zu gehen, dann tue ich das auch. Entscheidend ist nur, dass ich willig bin. Faszinierend ist, dass ich nichts muss. Entlastend ist, dass ich dabei glücklich sein darf.

Ich bin keine Expertin für unterschiedliche Formen des Empowerments, allerdings habe ich verschiedene Empowerment-Trainings und -Workshops besucht und über mehrere gelesen. Ich glaube heute, dass der wichtigste Unterschied zwischen dem Phoenix-Empowerment und anderen Formen des Empowerments darin besteht, dass bei Phoenix das Muss durch den Willen oder die Lust ersetzt wird. Das Phoenix-Empowerment befreit mich vom Zwang. Ich kann und darf so sein, wie ich bin, und ich kann und darf mich immer wieder neu positionieren. Die Basis dieses Empowerments ist zunächst ein Verständnis für die eigene Sozialisation bzw. Prägung zu erlangen, unter anderem dass wir in puncto Rassismus getäuscht und manipuliert werden. Auch wenn wir für unsere Sozialisation im Grunde nichts können, so haben wir sowohl ein institutionelles als auch ein individuelles Problem.

 

Wieso ist das Empowerment von Menschen of Color oder das kritische Bewusstsein von Weißen Leuten überhaupt wichtig? Sind nicht das strukturelle Empowerment und der rechtliche Minderheitenschutz oder Antidiskriminierungsgesetze wichtiger?

In einer Gesellschaft, in der das strukturelle Empowerment, der rechtliche Minderheitenschutz und Antidiskriminierungsgesetze etabliert wurden, werden offensichtlich bestimmte Menschen ausgeschlossen, ausgebeutet, verfolgt und unterdrückt. Ansonsten bräuchte die Gesellschaft solche Strukturen nicht. Gleichzeitig sind diese rechtlichen Strukturen ein Beleg dafür, dass wir in einem Unterdrückungssystem leben. Im System haben wir die strukturelle Ebene, die zum Beispiel durch die Gesetze repräsentiert wird, aber auch die individuelle Ebene. Es sind doch einzelne Personen, die im System agieren und zur Stabilität oder Instabilität des Systems beitragen.

Das Empowerment von PoC bzw. das kritische Bewusstsein von einzelnen Weißen ist meines Erachtens der wichtigste Aspekt zur Bildung gewaltfreier Gesellschaften, denn dabei wird der Frage nachgegangen, wie das System das Individuum beeinflusst. Oft treffe ich sehr nette und freundliche Menschen, die viel Zeit, Energie und Ressourcen investieren, unsere Gesellschaft positiv zu verändern, und zwar im Sinne von mehr Freiheit, Chancengleichheit, Demokratie usw. Diese Menschen wären meines Erachtens viel effektiver in ihrem Engagement, wenn sie darüber reflektieren würden, dass das Unterdrückungssystem die Persönlichkeit mit formt, dass wir in unserem Denken, Fühlen und Tun auch ein Produkt dieses Unterdrückungssystems sind und dass ein Verständnis für unsere Rolle im System eine notwendige Voraussetzung für eine Änderung des Systems ist. Dieser Aspekt im Änderungsprozess eines Unterdrückungssystems kann nicht oft genug betont werden.

 

Arbeiten Sie hauptberuflich als Trainerin? Wenn nein, warum nicht?

Ich arbeite nebenberuflich als Phoenix-Trainerin. Die Tätigkeit als Trainerin bei Phoenix e.V. erfordert einen sehr langen Prozess der Reflexion, der viel Zeit braucht. Die Pausen zwischen den Trainings sind für mich eine notwendige Erholungs- und Reflexionszeit. Es ist daher von besonderer Wichtigkeit, meinen Lebensunterhalt unabhängig von der Tätigkeit als Trainerin zu bestreiten. Hauptberuflich bin ich Ärztin in Vollzeitbeschäftigung.
Inwiefern ist die Empowerment-Arbeit auch ein Teil Ihres Alltags geworden?

Nach meinem ersten Empowerment-Training als Teilnehmerin erlebte ich mich in zwischenmenschlichen Begegnungen selbstbewusster und entspannter. Diese Selbstbewusstheit versetzte mich in eine Position, in der ich selbst entscheiden konnte, welche Bedeutung rassistische Erfahrungen für mich haben werden. Auf der persönlichen Ebene konnte ich angstfrei meine Ziele verfolgen. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene entschied ich mich bewusst für den Phoenix-Ansatz des Empowerments und zwar nicht nur im Rahmen der Tätigkeit als Phoenix-Trainerin, sondern auch in meinen alltäglichen Begegnungen. Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein.

Einmal kam eine junge Schülerin in die Notaufnahme und erzählte mir, wie sie ihre Meinung über die Schule änderte, nachdem sie mir im Notdienst begegnet war. Sie war PoC und offensichtlich in Begleitung ihrer Mutter in die Notaufnahme gekommen, um für die Mutter zu dolmetschen. Während der Notfallbehandlung fragte sie nach meiner Arbeit, ob die Kolleg_innen nett seien, ob die Arbeit als Ärztin schwierig sei, ob das Studium an einer Universität zu schaffen sei, ob das Abitur schwer gewesen sei usw. Sie befand sich damals auf der Realschule, weil sie sich als PoC nicht traute, das Abitur zu schaffen. Im Gespräch kam heraus, dass ihre Noten eigentlich fürs Gymnasium gereicht hätten, allerdings habe sie Angst gehabt, auf dem Gymnasium zu versagen. Sie gab an, »lieber bin ich die Beste in der Realschule, als die Einzige auf dem Gymnasium.« Sie erzählte mir, ihre Lehrerin auf der Grundschule hätte ihr gesagt, auf dem Gymnasium hätte sie viel Stress und weniger Freund_innen, denn auf dem Gymnasium befänden sich kaum »Menschen mit Migrationshintergrund«. Nach unserem Gespräch entschied sie sich, engagierter für die Schule zu lernen, um aufs Gymnasium zu wechseln. Auf einmal wollte sie sich nicht mehr mit der Realschule zufriedengeben. Sie wollte doch lieber studieren, denn sie begriff, dass auch Schwarze und PoC Ärzt_innen werden können. Nach unserer Begegnung hatte sie mehr Mut, aufs Gymnasium zu wechseln. Ihre Erzählung hat mich sehr beeindruckt.

 

Gibt es auch so etwas wie Empowerment für Weiße Menschen? Oder müssen/können Weiße Menschen überhaupt empowert werden?

In einer rassistischen Gesellschaft wie der unseren ist es leicht zu akzeptieren, dass Weiße im Gegensatz zu Schwarzen und PoC bereits ermächtigt sind und daher kein Empowerment brauchen, da sie ja alle Privilegien genießen. Auf der strukturellen Ebene ist es tatsächlich so, dass Weiße Zugang zu Ressourcen haben und die politische Macht besitzen. Auch haben sie die Macht zu definieren, wer dazu gehört und wer nicht. Sie gelten als normal, die Schwarzen und PoC sind »die Anderen«. Ja, auf der strukturellen Ebene scheinen Weiße kein Empowerment, keine Ermächtigung zu brauchen, denn sie besitzen bereits die Macht.

Wie sieht es auf der individuellen Ebene aus? Wer ist die Weiße Person, ohne die Weiße Struktur? Nach langjähriger Erfahrung aus den Anti-Rassismus-Trainings kann ich mit einer gewissen Sicherheit sagen, dass Weiße Individuen ganz sicher Empowerment brauchen. Jede Weiße Person, die ihr eigenes Weißsein reflektiert, wird bestätigen, dass viel Unsicherheit auf der individuellen Ebene existiert. Letztendlich wurden Weiße genauso wenig gefragt wie Schwarze und PoC, ob sie andere unterdrücken oder unterdrückt werden wollen. Wir alle wurden in diese rassistische Struktur hineingeboren und sozialisiert. Ohne Empowerment lernen wir nicht, diese Struktur in Frage zu stellen. Sowohl Schwarze und PoC als auch Weiße brauchen Empowerment, um das System des Rassismus in Frage zu stellen und sich neu zu positionieren, ob dieses System weiter bestehen soll oder nicht. Wir von Phoenix e.V. sagen, wir wollen ein neues Miteinander von Menschen. Da Rassismus uns trennt, wollen wir keinen Rassismus mehr. Schwarze, PoC und Weiße sind alle gefragt, wenn wir eine Gesellschaft ohne Rassismus aufbauen wollen.

Im Rahmen des Anti-Rassismus-Trainings lernen Weiße Menschen, sich selbst als definierte Kategorie im System Rassismus zu identifizieren, ihr Weißsein als Teil ihrer Sozialisation zu verstehen, ein Gefühl für ihre eigene Rolle als Weiße in der Gesellschaft zu bekommen, Rassismus zu erkennen, Verbindungslinien zwischen Rassismus und anderen Formen der gesellschaftlichen Unterdrückungssysteme zu ziehen und Strategien kennenzulernen, sich vom System Rassismus zu befreien. Auf der individuellen Ebene hat das Training viel mit Selbstwahrnehmung und der Überprüfung der eigenen Wirklichkeit zu tun. Hier erkennen Weiße Menschen, dass ihr Weißsein sie in eine konstruierte Identität zwängt, die sie meistens nicht selbst ausgesucht haben, die sie jedoch dazu verleitet, sich stereotyp zu verhalten. Diese Erkenntnis kann für Weiße Menschen sehr befreiend sein, denn sie begreifen, dass sie nicht in dieser festgelegten Kategorie leben müssen. Das ist Empowerment.

 

Wo liegen die Grenzen von Empowerment? Oder gibt es aus Ihrer Sicht Begriffe, die Sie manchmal als treffender empfinden oder als weniger aufgeladen?

Wenn wir Empowerment als Lernprozess begreifen, dann müssen wir erkennen, dass Lernprozesse aufgrund unserer kognitiven Fähigkeiten begrenzt sind. Ich spreche in diesem Zusammenhang von der Fähigkeit eines jeden Gehirns, Informationen aufzunehmen, zu begreifen, zu reflektieren, neue Assoziationen zu verknüpfen und diese in neuronalen Netzwerke zur Verfügung zu stellen, um somit das Denken, das Fühlen und das Verhalten fortwährend zu verändern. Aus neurobiologischer Sicht sind manche Gehirne aufgrund von bestimmten Reizen so verändert worden, dass Lernprozesse nicht mehr möglich sind. Auf einer anderen Ebene, nämlich im Sinne des Prinzips des Eigennutzes, kann sich ein Gehirn unwillkürlich gegen bestimmte Lernprozesse entscheiden. Konkret ausgedrückt: während sich manche Menschen zu gerne auf Empowerment einlassen würden, dies jedoch aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeit nicht schaffen, schließen sich manche Menschen selbst aus, da sie sonst auf ihre lieb gewordenen Normen verzichten müssten. Hier bestehen keine Unterschiede, auf welcher Seite eines Unterdrückungssystems die Person sozialisiert worden ist, denn Schwarze, PoC und Weiße, Transgender, Intersexuelle, Transsexuelle, Frauen und Männer, Bisexuelle, Homosexuelle und Heterosexuelle, Alte und Junge, Arme und Reiche sowie Kranke und Gesunde sind alle auf ihre kognitiven Fähigkeiten im Empowerment-Prozess angewiesen.

Meine Kritik am Begriff des Empowerments ist die Annahme, dass die Person, die Empowerment erfährt, defizitär sei. In der Tat braucht jeder Mensch Empowerment, denn in der sensibelsten Phase unseres Daseins, nämlich in unserer Frühkindheitsphase, durften wir nicht selbst wählen, wie wir sein wollten. Ich würde den Begriff »Re-Sozialisation des Menschen« bevorzugen. Unsere Bildungssysteme und Erziehungsmaßnahmen sind in Frage zu stellen. Denn auch wenn es kein Unterdrückungssystem unter den Menschen gäbe, so müssten die Menschen trotzdem lernen, mit allem in unserem Universum, lebendig oder nicht lebendig, organisch oder anorganisch, zusammenzuleben, und zwar so, dass die Existenzräume aller respektiert und beschützt werden.

 

Bild entfernt.

 

Dr. med. Amma Yeboah, Phoenix-Trainerin und aktives Mitglied von Phoenix e.V. seit 2003. Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Studium der Humanmedizin an der Freien Universität Berlin und Promotion an der Charité-Universitätsmedizin Berlin.