Die Zukunft der Religiösen Vielfalt - Besuche in Deutschland im Jahre 2020

von Hasret Karacuban

 

Seit einigen Jahren ist in Deutschland im Migrationskontext und darüber hinaus eine Verlagerung von den Zuordnungskategorien Ethnie und Nation auf Religion zu beobachten. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben in diesem Kontext einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen: MigrantInnen, die in den Augen der deutschen Mehrheitsgesellschaft bis dahin in ethnischen Kategorien als ‚TürkInnen’ oder ‚MarokkanerInnen’ angesehen wurden, werden seit den Anschlägen oftmals nur noch als ‚MuslimInnen’ wahrgenommen.

Darüber hinaus haben die Anschläge und der als Reaktion ausgerufene Kampf gegen den Terror eine Vielzahl von politischen Diskussionen in Deutschland beeinflusst: Von der abgewendeten Onlinedurchsuchung und angestrebten Vorratsdatenspeicherung über Studien zur Jugendkriminalität bis hin zur Islamkonferenz ist der Einfluss des Antiterrorkampfes auf die bundesdeutsche Politik spürbar. Im Fokus der Debatten um diese politischen Grundsatzprojekte steht immer auch der Islam, der  – trotz des Bemühens um eine differenzierte Sichtweise – häufig als Gefahr wahrgenommen wird. Der Blick auf Religion, und ganz speziell auf den Islam, wird mehr und mehr Teil des tagespolitischen Geschäfts.

Religiöse Vielfalt heute

Doch mit diesem stark fokussierten Blick auf den Islam wird man auf der politischen Ebene nicht nur dem Islam und seiner innewohnenden Pluralität nicht gerecht, sondern man verstellt auch den Blick für die Situation anderer religiöser Minderheiten in Deutschland. Buddhistische, hinduistische und jesidische Gemeinden sind ebenso wie muslimische und christlich orthodoxe Gemeinden bereits seit geraumer Zeit in Deutschland vorzufinden, denn sie sind vornehmlich, jedoch nicht ausschließlich, durch Zuwanderung ab den 1950er Jahren entstanden.

Hierzulande wird häufig mit Befremden von der religiösen Vielfalt in den USA berichtet, obgleich die religiöse Landschaft in Deutschland immer ähnlichere Züge trägt wie in den USA – zumindest in Bezug auf die Diversität der anzutreffenden Bekenntnisse und religiösen Praktiken. Die Neutralität des Staates in Bezug auf Religion, das Recht auf Religionsfreiheit und das deutsche Religionsverfassungsrecht stellen eine gute Grundlage für die Etablierung von Minderheitenreligionen dar. Auf dieser Grundlage führt der Zuzug von Menschen aus den verschiedensten Teilen der Welt in Verbindung mit einer sichtbaren kulturellen Globalisierung, die auch die autochthone Bevölkerung erreicht, zu einem zunehmend bunteren und vielfältigeren religiösen Leben in Deutschland.

Derzeit wird diese faktische Vielfalt nur in geringem Maße wahrgenommen. Mit der Betonung der Religion als Hauptmerkmal der Differenz erscheint es allerdings als wahrscheinlich, dass in Zukunft auch kleinere Religionsgemeinschaften mehr und mehr gesellschaftliche Beachtung finden werden. Wenn diese Annahme richtig ist, welche Richtung könnte dann die öffentliche Ausgestaltung religiöser Vielfalt in Deutschland einschlagen? Bei den drei fiktiven Szenarien, die ich nachfolgend vorstelle, bediene ich mich der stilistischen Figur des von außen kommenden Deutschlandbesuchers, der, selber einer bestimmten Glaubensrichtung zugehörig, ein besonderes Sensorium für gelebte religiöse Vielfalt in Deutschland im Jahr 2020 mitbringt. Hierbei ist zu beachten, dass weder die von mir gewählten Personen noch deren Bekenntnisse mit den beschriebenen Entwicklungen in direktem Zusammenhang stehend betrachtet werden können.

Szenario 1: Rasante Veränderungen

Es ist der 23. März 2020 und ‚Seine Heiligkeit’ der 14. Dalai Lama ist seit langer Zeit wieder zu Besuch in Deutschland. Sein letzter Besuch liegt bereits 13 Jahre zurück. Damals wurde er von der buddhistischen Gemeinde in Hamburg eingeladen und auch von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kanzleramt empfangen. Das Treffen zwischen Merkel und dem geistigen Oberhaupt des tibetanischen Buddhismus löste zu jener Zeit heftige Reaktionen von chinesischer Seite aus, da China den Dalai Lama als Separatisten betrachtete. Nur ein Jahr später bekämpfte China Unruhen in Tibet mit voller militärischer Härte und versuchte mit aller Macht, die Berichterstattung hierüber zu verhindern.

Nach der langen Zeit und den einschneidenden Entwicklungen der letzten Jahre freuen sich  die Vertreter der Deutschen Buddhistischen Union (DBU), das mittlerweise 85jährige geistige Oberhaupt der tibetischen Buddhisten in Deutschland zu empfangen. Allerdings wird er diesmal nicht nur Vorträge halten, sondern auf eigenen Wunsch auch einen näheren Blick auf die Praxis und gesellschaftliche Institutionalisierung von religiöser Vielfalt in Deutschland werfen. Am Donnerstag wird er an der alljährlichen Religionskonferenz in Berlin als Gast teilnehmen. Im Anschluss daran wird er sich mit den VertreterInnen der verschiedenen Religionsgemeinschaften treffen, um seine Reise mit einem Empfang im Kanzleramt abzuschließen, zu dem auch die KultusministerInnen der nunmehr 9 deutschen Bundesländer erwartet werden.

Das Bild, das sich ihm eröffnen wird, wird kaum noch etwas mit den Beobachtungen, die er bei seinem letzten Besuch gemacht hat, gemein haben. Denn in der Zwischenzeit hat sich auch in Deutschland viel bewegt: Die 2006 vom Innenministerium einberufene auf zwei bis drei Jahre angelegte Islamkonferenz endete mit dem Ergebnis, dass ein Dialog zwischen dem deutschen Staat und den Religionsgemeinschaften alternativlos für die gesellschaftliche Institutionalisierung religiöser Pluralität ist. Obgleich die Zusammensetzung der TeilnehmerInnen an der Konferenz Anlass zur Kritik gab und bisweilen den Diskussionsverlauf hemmte, wurden im Zuge der Islamkonferenz einige bedeutende Prozesse für die muslimischen Gemeinden in Deutschland in Gang gesetzt. So schlossen sich die islamischen Dachorganisationen bereits 2007 zum Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammen, dessen Landesvertretungen heute anerkannte Religionsgemeinschaften sind.

Der islamische Religionsunterricht wurde als ordentliches Schulfach in mehreren Bundesländern eingeführt, während an deutschen Hochschulen die dafür nötigen IslamlehrerInnen, aber auch die für die Gemeinden notwendige Imame ausgebildet werden. In den Rundfunkräten sitzen nun auch islamische Geistliche und das Wort zum Freitag wird wöchentlich in einem öffentlich rechtlichen Programm ausgestrahlt – im Übrigen gleich im Anschluss an das jüdische Wort zum Sabbat. Insgesamt hat sich gezeigt, dass mit der positiveren öffentlichen Wahrnehmung und der Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen eine verstärkte Identifikation mit der bundesdeutschen Gesellschaft unter muslimischen BürgerInnen einhergeht. Gaben 2008 noch 58% der türkischstämmigen deutschen MuslimInnen an, sich in Deutschland unerwünscht zu fühlen, sind es im Jahr 2020 nur noch 15 %. Eine bemerkenswerte Entwicklung. 

Diese erfreulichen Ergebnisse des Dialoges mit den MuslimInnen sollten bald auch auf andere Religionsgemeinschaften übertragen werden. Die Konferenzen mit den VertreterInnen der verschiedenen Religionsgemeinschaften wurden seit 2010 separat u.a. mit BuddhistInnen, Hindus, JesidInnen, Sikhs geführt bis 2015 der Entschluss getroffen wurde, die einzelnen Konferenzen in eine allgemeine Religionskonferenz zu überführen. In der Deutschen Religionskonferenz treffen die GesandtInnen bereits anerkannter religiöser Gemeinschaften wie der katholischen Kirche, der evangelischen Landeskirchen und des Zentralrates der Juden auf VertreterInnen der neu anerkannten Religionsgemeinschaften. Auf diese Weise konnte nicht nur der Dialog mit dem Staat, sondern auch der interreligiöse Dialog in einem gleichberechtigten, kontinuierlichen Rahmen vorangetrieben werden.

Trotz anfänglicher Differenzen und Kommunikationsschwierigkeiten hat sich der Weg des interreligiösen Dialoges mit dem Staat bewährt, indem er eine Zahl von Maßnahmen, Projekten und Gesetzen auf den Weg gebracht hat, die sowohl das religiöse Leben der Gläubigen verschiedener Konfessionen erleichtern als auch die Partizipation der religiösen Minderheiten am politischen und gesellschaftlichen Leben in Deutschland begünstigen. Neben dem islamischen Religionsunterricht gibt es je nach Bedarf in einzelnen Schulen buddhistischen, hinduistischen oder jesidischen Religionsunterricht. Die Verbote des Tragens religiöser Kleidung wurden vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt; die öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten sind verpflichtet den verschiedenen Religionsgemeinschaften ein bestimmtes Sendekontingent zur Verfügung zu stellen; es wurden zahlreiche Moscheen, Synagogen und Tempel errichtet, die nicht nur die Architektur Deutschlands bereichert haben, sondern Pfeiler der Zivilgesellschaft sind. Bundesweit wurden mehrere interreligiöse Kulturzentren eröffnet und die einstmals starken Bindungen einiger Religionsgemeinschaften an bestimmte Herkunftsländer sind schwächer geworden. 

Dass diese Entwicklungen in vergleichsweise kurzer Zeit stattfinden würden, hätte 2007 noch kaum jemand erwartet. Doch der größte Erfolg der Religionskonferenz ist nicht die Anregung der oben genannten Prozesse, sondern die Annäherung der Religionsgemeinschaften aneinander. Zumindest die Vertreter, die zur Religionskonferenz entsandt werden, sind sich nicht mehr fremd. Die Beziehung dieser Vertreter ist von gegenseitigem Respekt und Anerkennung geprägt und die Zeichen dafür, dass die Botschaft des Miteinander statt des Gegeneinanders auch in die Gemeinden hineingetragen wird, stehen gut. Die Integration religiöser Vielfalt scheint also geglückt zu sein. Wahrscheinlich wird der Dalai Lama erstaunt darüber sein, dass die Umsetzung der Organisation religiöser Vielfalt in Deutschland deutliche Züge seiner eigenen Lehre trägt.

Szenario 2: Vieles bleibt beim Alten

23. März 2020 - der Papst ist wieder in Deutschland! Der Papst scheint sichtlich erfreut von der Begeisterung zu sein, mit der man ihn im Heimatland seines Vorgängers empfängt. Die Katholische Kirche Deutschlands beklagt zwar den anhaltend hohen Mitgliederverlust, der vor allem dem hohen Alter der Gemeindemitglieder geschuldet ist, schafft es allerdings, die verbliebenen Kirchenmitglieder, auch mit Unterstützung aus Rom, stärker zu mobilisieren, sodass der ‚Heilige Vater’ heute vor über 30.000 Gläubigen in Köln sprechen kann. Auch die Prozession im Vorfeld der Ansprache zeigte deutlich, dass die Autorität des Papstes trotz sinkender Mitgliederzahlen ungebrochen ist. Viele Personen, die aus der Kirche ausgetreten sind und kaum noch christliche Rituale praktizieren, verstehen sich aber weiterhin als ChristInnen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es trotzdem verwunderlich, dass der Papst sich in einigen seiner jüngsten Reden mehr Gedanken über die Konversion von ChristInnen zum Islam macht, als um einen Dialog zwischen katholischen ChristInnen und MuslimInnen. Der Inhalt eines Vatikan-Berichtes, der sich auf religionssoziologische Untersuchungen bezieht, könnte die Bedenken des Papstes ausräumen: Die Zahl der Konversionen, die ohnehin eher ein Randphänomen waren, hat weiter abgenommen. Der Heilige Stuhl muss also kaum um die Abwanderung von Katholiken zum Islam oder anderen Religionen fürchten. Befürchtungen wie die schnelle Ausbreitung des Islams in Europa sind rein rhetorischer Natur, wenn sie die Konversion als Grundübel anprangern. Allein die demographische Verteilung führt in Deutschland zu gewissen Veränderungen der religiösen Landschaft.

Minderheitenreligionen in Deutschland sind weiterhin mit einer negativen oder fehlenden Wahrnehmung in der Öffentlichkeit konfrontiert. Mit den Muslimen wird der Dialog seitens der Bundesregierung zwar fortgesetzt, es sind sogar kleinere Fortschritte wie die Gründung von Landesvertretungen des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland (KRM), mit welchen zurzeit in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen-Bremen, Hanseland (Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern) und Berlin-Brandenburg verhandelt wird, zu verzeichnen. Doch von einer rechtlichen Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft ist man noch weit entfernt.

Auch die in Deutschland medial vermittelten Bilder vom Islam zeigen kaum Veränderungen: Die anhaltenden außenpolitischen Konfrontation mit islamistischen Terroristen zementierten die Bilder und die Hoffnung, dass 19 Jahre nach dem 11. September ein gewisses Maß an Differenzierung in der Berichterstattung über einer gesellschaftlichen Gruppe einkehrt, schwindet. Ein bleierner Stillstand macht sich breit: Das so genannte ‚Kopftuchverbot’, das das Tragen religiöser Symbole in Schulen verbietet und sich hierbei auf die islamische Kopfbedeckung für Frauen bezieht, hat weiterhin Bestand. Unter diesem reaktionären und längst überholten Gesetz leiden nicht nur muslimische Lehrerinnen, sondern zunehmend auch LehrerInnen und BeamtInnen, die anderen Religionen wie z.B. der Sikh-Religion angehören.

So wird aus der Repression gegen eine Religionsgemeinschaft eine allgemeine Benachteiligung von Minderheitenreligionen in Deutschland, gegen die bisher auf juristischem Wege kein Erfolg erzielt werden konnte. Nun versuchen die Betroffenen, gemeinsam auf politischem Weg dieses Problem zu lösen. Die Aussicht auf Erfolg hängt letztlich von den großen Volksparteien ab, die die unbegründeten Ängste der stetig alternden Gesellschaft genau im Blick haben.

Auch heute im Jahr 2020 steht der Islam als die eine große Minderheitenreligion im Fokus der politischen und öffentlichen Debatten, während andere religiöse Minderheiten, die sogar großen Mitgliederzustrom verzeichnen, wie etwa der Buddhismus, nur selten wahrgenommen werden. Die Zahl der BuddhistInnen in Deutschland ist in den letzten Jahren gestiegen. Dennoch bleibt ihre öffentliche Wahrnehmung begrenzt, und wenn sie stattfindet, werden die in Deutschland lebenden BuddhistInnen exotisiert. Es findet keine wirkliche Auseinandersetzung mit den buddhistischen Lehren und der buddhistischen Lebensweise statt. Für andere Religionen wie den Hinduismus und das Jesidentum ist die deutsche Öffentlichkeit weiterhin vollkommen blind.

Der ‚Heilige Vater’ auf Deutschlandbesuch muss sich also nicht primär um seine katholischen ‚Schäfchen’ sorgen, sondern um den anhaltenden Kreislauf aus Folklorisierung, Stigmatisierung und Ignoranz, der einen tiefen Bruch zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen verfestigt. Die Gesellschaft, die religiöse Vielfalt als Bereicherung und nicht als Belastung versteht, ist noch fern.

Szenario 3: Neue Rattenfänger – neue Probleme

Der Gründer einer international agierenden Sekte wird am 23. März 2020 in seiner Zentrale in Berlin eine Preisverleihung eröffnen. Der Preis wird nur an Mitglieder mit besonderen Leistungen verliehen. Den Auftakt zu dieser Veranstaltung gab eine Mitgliederwerbekampagne in Deutschland. Doch Ziel der Feierlichkeiten ist nicht primär die Motivation und die Anerkennung der Leistungen der Mitglieder, sondern eine groß angelegte Imagekampagne. In der Vergangenheit hat es diese Sekte verstanden, mit Hilfe einer Reihe von SchauspielerInnen aus Hollywood eine erfolgreiche Selbstinszenierung zu betreiben. Mit dieser Strategie konnte sie zahlreiche neue Mitglieder anwerben.

Da auch der Gründer dieser Sekte inzwischen festgestellt hat, dass in Europa gerade eine neue Wirtschaftselite auf dem Vormarsch ist, die zwar den Minderheitenreligionen Europas angehört, jedoch keinen oder nur sehr geringen Bezug zu den Religionsgemeinschaften ihrer Elterngeneration vorweist, glaubt er in dieser Gruppe potentielle Mitglieder finden zu können. Hier setzt er auf die bewährte Maschinerie der Pop-, Medien- und Eventkultur. Die Verleihung soll sowohl im Fernsehen als auch im Internet weltweit live übertragen werden. Neben den obligatorischen Filmstars werden auch einige Musiker auftreten, die als Identifikationsfiguren für die aus der deutschen Gesellschaft Ausgeschlossenen fungieren sollen. Selbstverständlich werden die Gewinner nicht vor der Verleihung bekannt gegeben werden, doch ist Insiderberichten zufolge bereits zu diesem Zeitpunkt absehbar, dass diejenigen Mitglieder Auszeichnungen erlangen werden, die Merkmale der ausgeschlossenen Gruppen tragen. Auf diese Weise soll der neuen Zielgruppe suggeriert werden, dass sie in den Reihen der Sekte willkommen ist.

Das Besorgniserregende an dieser Veranstaltung ist nicht die mediale Präsenz, die Unterstützung seitens der Prominenten oder das enorme Budget, mit dem sie finanziert wird. Was vielmehr Grund zur Besorgnis bietet, ist die Tatsache, dass diese Sekte sich gerade derer annimmt, für die sich die deutsche und europäische Öffentlichkeit und Politik lange Zeit nicht interessiert haben - und damit wahrscheinlich sogar Erfolg haben wird.

In Deutschland hat keine der Bemühungen der muslimischen Religionsgemeinschaften, rechtliche Anerkennung zu finden, Früchte tragen können. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gab es zwar zahlreiche Verhandlungen zwischen Vertretern der muslimischen Dachorganisationen und den Bundes- und Landesregierungen. Sie alle gingen, bis auf einzelne Modellprojekte im Bereich Religionsunterricht, aber recht erfolglos aus. Auch die Modellprojekte zum islamischen Religionsunterricht wurden, trotz kompetenter wissenschaftlicher Begleitung, schon früh als unzureichend eingestuft und eingestellt. Zwischen 2008 und 2012 wurde der Dialog mit den Gemeinden schrittweise eingestellt, alle bestehenden Projekte wurden abgebrochen, Selbstorganisationen von Minderheitenreligionen wurden grundsätzlich nicht mehr finanziell unterstützt und das Verbot aller religiösen Symbole (mit Ausnahme christlicher Symbole) in öffentlichen Einrichtungen wurde bundesweit erlassen. Dieses Verbot galt explizit den Minderheitenreligionen. Es trifft hier besonders diejenigen, zu deren Praxis auch das Tragen von spezifischer Kleidung oder von Schmuck gehört.

Diese Entscheidungen seitens der Bundes- und Landesregierungen wurden von MuslimInnen, AlevitInnen, Sikhs und Hindus verständlicherweise als Repressalien empfunden. Als Konsequenz zogen sich diese Religionsgemeinschaften aus der Öffentlichkeit zurück. Auch die Bundesregierung, die zwischen 2013 und 2017 regierte, konnte nur unter großen Bemühungen einzelne Gespräche mit Vertretern der Minderheitenreligionen zustande bringen. Als Ergebnis dieser Gespräche wurde auf Dringen der grünen Innenministerin 2016 eine Revision der in der Zwischenzeit erlassenen Verbote und Beschränkungen in die Wege geleitet, die aber aufgrund des Regierungswechsels von 2017 zu keinem Ergebnis führte. Anerkennungspolitik ist mehr den je zum Spielball konkurrierender politischer Lager geworden.

Die Entwicklungen seit 2008 haben bei den religiösen Minderheiten insgesamt zu einem gestiegenen Gefühl der Stigmatisierung geführt. So z.B. zeigt eine aktuelle Studie, dass BürgerInnen mit asiatisch oder gar orientalisch klingenden Namen signifikant häufiger von Haus- und Onlinedurchsuchungen betroffen sind als BürgerInnen mit europäisch klingenden Namen – obgleich empirische Daten nicht bestätigen, dass Angehörige dieser Gruppe eine höhere Zahl an Straftaten begehen. Auch auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie in Bildungseinrichtungen hat diese Personengruppe schlechtere Chancen an Ressourcen teilzuhaben. Selbstredend wird durch solche staatlichen Eingriffe und Überwachungen und gesellschaftlichen Diskriminierungen das Gefühl verstärkt, in Deutschland unwillkommen zu sein.

Der Rückzug ins Private aber auch die Radikalisierung und Politisierung religiöser Milieus ist die Folge: Es gab in den letzten Jahren mehrere versuchte Anschläge von religiösen ExtremistInnen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie konnten glücklicherweise alle verhindert werden. Die Studie des Bundesinnenministeriums über religiös motivierte Gewalt von 2015 zeigt einmal mehr, dass es einen starken Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Marginalisierung, Stigmatisierung und soziokultureller Benachteiligung mit Gewaltbereitschaft und Extremismus gibt.

Die als Diskriminierung empfundene Benachteiligung von religiösen Minderheiten bewirkte eine starke Politisierung und inhaltlichen Radikalisierung vieler Mitglieder dieser Gemeinschaften. Einstmals große Religionsgemeinschaften, wie die christlichen Kirchen aber auch so beliebte Religionsgemeinschaften wie die Buddhisten müssen herbe Rückgange ihrer Mitgliederzahlen hinnehmen. Es kommt zu Zersplitterung der Kirchen und eingehender Radikalisierung. Kleine Glaubensgruppen mit starken sozialen Bindungskräften wie z.B. die international agierende Sekte sind auf dem Vormarsch. Das Klima der Ausgrenzung und Benachteiligung wirkt wie ein Nährboden für neu entstehende, sektenartige Glaubensgemeinschaften, die durch charismatische Figuren und einer engen Vernetzung der Mitglieder starke Kohäsionseffekte hervorrufen.

Verwundern muss uns das nicht, denn der Mensch sucht seit eh und je nach Sinn. Und wenn die althergebrachten Religionen nicht mehr als Option wahrgenommen werden, wird diese Leerstelle mittels anderer Sinn- und Wertbezüge ausgefüllt.

Die Zukunft jetzt gestalten

Anhand der obigen Skizzierungen möglicher zukünftiger Entwicklungen in Bezug auf Religionsgemeinschaften in Deutschland habe ich versucht deutlich zu machen, dass die Organisation der religiösen Vielfalt eine der bedeutenden Herausforderungen für diese Gesellschaft darstellt. In dem ersten Ausblick beschreibe ich die politischen Prozesse, die eine erfolgreiche Integration von Minderheitenreligionen auf gesamtgesellschaftlicher und politischer Ebene begünstigen. Hierbei ist eine generelle Dialogbereitschaft aller Beteiligten, die auf Respekt und Anerkennung gründet, zentral für das Funktionieren einer auch in der religiösen Dimension pluralistischen Gesellschaft.

Im Anschluss schildere ich eine Situation, die durch Stagnation im Integrationsprozess gekennzeichnet ist. Der fehlende politische Wille und die fehlende bzw. anhaltend negative mediale Repräsentation von Minderheitenreligionen führen hier zu einem Ausbleiben notwendiger Maßnahmen zur Eingliederung und Aufnahme neuer Religionsgemeinschaften.

Schließlich skizziere ich einen Prozess, der zu einer zunehmenden Ausgrenzung von religiösen Minderheiten führt. Aufgrund von Ängsten und Ignoranz gegenüber Minderheiten und ihren Religionsgemeinschaften wird hier eine restriktive Politik betrieben, die zum Rückzug führt und Radikalisierungseffekte auslöst.

Diese drei Szenarien sollen verdeutlichen, dass der Anerkennungs- und Integrationsprozess religiöser Minderheiten getragen wird von den drei Säulen Politik, Öffentlichkeit (inkl. Massenmedien) und aktiver Kommunikation auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Werden diese drei Mittel richtig eingesetzt, kann und wird die Organisation religiöser Vielfalt gelingen.

 

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Hasret Karacuban ist Soziologin und stellvertretende Sprecherin des Arbeitskreises Grüne MuslimInnen.