Exodus von Deutsch-Türken in die Türkei?

Deutsch-türkische Flagge auf einer Auto-Motorhaube
Teaser Bild Untertitel
Viele in Deutschland lebende TürkInnen kehren wieder in die Türkei zurück, um eine Arbeit zu finden. Die meisten sind bereit, auch ein weiteres Mal auszuwandern

 

von Kamuran Sezer

Ein geschmackloser Witz, der zu meiner Schulzeit in den 1980er und frühen 1990er Jahren kursierte, lautete: Was passiert, wenn eine Atombombe in der Türkei explodiert?! Nichts! - Alle Türken sind schon in Deutschland!“ Dieser Witz ist längst überholt. Der aktuelle Migrationsbericht 2008, in dem u.a. Erhebungen des Bundesamts für Statistik zur Zu- und Abwanderung in Deutschland gespiegelt werden, geben an, dass im Jahr 2008 mehr Personen aus Deutschland ins Ausland abgewandert als vom Ausland zugezogen sind. Wie ist es um das Abwanderungsverhalten der Türken in Deutschland bestellt, die in Deutschland geboren wurden bzw. eine sehr lange Zeit in Deutschland leben? Relativ aktuelle Studien über Deutsch-Türken belegen, dass es in dieser Bevölkerungsgruppe eine hohe Abwanderungsbereitschaft gibt. Daher gehe ich in diesem Artikel der Frage nach, ob die Türkei insbesondere für Deutsch-Türken ein attraktives Auswanderungsziel geworden ist. Der Artikel beginnt mit meinen persönlichen Erfahrungen in der Türkei als Deutscher türkischer Abstammung.

 

In der Tat war für viele Türkei-Türken Deutschland ein attraktives Auswanderungsziel. Das Fehlen sozialer Absicherungssysteme in der Türkei und hohe Arbeitslosigkeit waren vordergründige Motive, die Türkei in Richtung Deutschland verlassen zu wollen. In Deutschland wiederum sind durch die ab den 1960er Jahren eingewanderten Gastarbeiter aus der Türkei ethnische Milieus entstanden, welche die Hemmschwelle die Türkei-Türken in ein fremdes Land abzuwandern senkte. Aus Sicht der Türkei-Türken existierten also im fremden Deutschland durch die bereits in Deutschland lebenden Landsleute für sie naheliegende Anknüpfungspunkte, um ein neues Leben beginnen zu können.

Was einige Deutsche vielleicht nicht wissen, ist, dass Deutschland-Türken in ihrem Sommerurlaub, den sie sehr häufig in der Türkei verbrachten, mehr unfreiwillig als freiwillig Werbung für Deutschland als attraktives Auswanderungsziel machten. Der wohl wichtigste Werbeträger war das deutsche Auto mit dem Stern vorne als physisches Symbol des deutschen Wohlstands, im Gegensatz zu den türkischen Autos wie Tofas, die mehr seufzten als fuhren und den Staub der kurvigen Landstraßen gegen Windschutzscheiben schleuderte.

Nachdem ich einige Türkei-Urlaube damit verbracht hatte Freunden eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten, die mit „Stimmt es, dass in Deutschland…“ begannen, bemühte ich mich, nicht mit meinen – extra für den Urlaub eingekauften, nagelneuen Jeans in meinen ersten Urlaubstag zu starten und meine sehnlichst vermissten Freunde und Verwandten zu begrüßen.

Schenkt man den jüngsten deutschen Abwanderungsstatistiken und Wirtschaftsdaten der Türkei Glauben, so würde ich – als ehemaliger unfreiwilliger Werbeträger von Almanya - am Liebsten erleichtert „Gott sei dank, sind diese Zeiten vorbei“, herauspusten, „in denen ich vom Wunderland Deutschland berichten muss.“ Denn jüngsten Daten zur Folge geht es der Türkei und ihren Einwohnern viel besser.

Türkei auf der Überholspur?!

Als ich 2008 nach vielen Jahren erstmals wieder in Istanbul landete und mich von dort aus erst nach Bursa und später nach Kütahya durchschlug, erblickte ich mit vor Staunen geöffnetem Mund eine veränderte Türkei. Früher fuhr ich über kurvige Landstraßen, die spiralförmig einen Berg erklommen, um dann wieder spiralförmig denselben Berg hinunterzufahren. Nun fuhr ich auf geraden, glatt-asphaltieren Autobahnen, die mich mehr an Deutschland als an die Türkei erinnerten. Der angenehm-klimatisierte Inlandbus, das wohl wichtigste überregionale Verkehrsmittel in der Türkei, wurde von zuverlässig brummenden Autos überholt, die mich an die legendären Tofas erinnerten. Aber wo war das Seufzen und Knattern dieser niedlichen Rostlauben von damals geblieben?

Je mehr ich ins Landesinnere eindrang, umso mehr entdeckte ich gewohnte Bilder aus meiner Zeit als unfreiwilliger Werbeträger von Almanya. Aber trotzdem – auch in der Region, in der ich einst geboren wurde, hat sich Vieles verändert. Der Höhepunkt meines dreiwöchigen Aufenthalts im Jahr 2008 war aber, als ein Bekannter aus meinem Dorf von seiner Karriere als Consultant, Trainer und Coach für ‚Human Resouces’ erzählte, und mit mir fachsimpelte. Nachdem er sich von meinen Qualifikationen überzeugte, vermittelte er mir zwei Gespräche mit Human Resources Directors von zwei türkischen Unternehmen, die händeringend nach Unterstützung für ihre Abteilungen im Bereich ‚Organizational Development’ suchten. Sie boten mir 1.500 Neue Türkische Lira als Einstiegsgehalt an, das sich im zweiten Jahr verdoppeln sollte verbunden mit der Perspektive auf eine Führungsposition.

Die Sorgenfalten eines „eurozentrierten“ Deutschland-Türken

Es mag an dieser Stelle etwas Gönnerhaft klingen – aber ich freue mich sehr für die Türkei und ganz besonders für meine Verwandten und Freunde, dass sie an Lebensqualität und Perspektive gewonnen haben. Als jemand, der sich in seinem Karrierebestreben und mental auf Deutschland als Lebensmittelpunkt eingestellt hatte, errötete mein Kopf damals vor Neid aber auch vor Sorgen um die eigene Lebensqualität in Deutschland. Am Bosporus, da braut sich etwas zusammen, das nicht ohne Folgen für den deutschen Wirtschaftsstandort bleiben würde…

Aus deutscher Sicht stellt sich die Frage, ob die Türkei für die in Deutschland lebenden Türken inzwischen ein attraktives Auswanderungsziel geworden ist und auch in Zukunft sein wird. Denn die deutsche Gesellschaft wird ab 2020 mit einem Fachkräftemangel konfrontiert sein, da viele Angehörige der so genannten Babyboom-Generation in Rente gehen werden. Die Lücke, die sie hinterlassen, wird nicht durch heutige und nachfolgende Generationen geschlossen werden können. Humankapital ist für Deutschland, das arm an natürlichen Ressourcen ist, sehr wichtig geworden.

Um die Frage, ob die Türkei ein attraktives Auswanderungsziel für die Deutsch-Türken geworden ist, zu beantworten, werden die Daten aus dem Migrationsbericht 2008 herangezogen und analysiert. Der Migrationsbericht beschreibt sehr umfangreich das Migrationsgeschehen in Deutschland und in Europa und liefert hierzu wertvolle Statistiken. Hierbei baut er auf Erhebungen u.a. des Bundesamts für Statistik und des Ausländerzentralregisters (AZR) auf, die im Bericht gespiegelt und diskutiert werden.

Deutsch-Türken möchten in die Türkei abwandern

Drei relativ junge Studien vom Marktforschungsinstitut Liljeberg Research International Ltd. Sti., von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und vom futureorg Institut für angewandte Zukunfts- und Organisationsforschung führen vor, dass in der türkischen Community eine durchaus hoch einzustufende Abwanderungsbereitschaft in die Türkei vorhanden ist.

Tabelle 1: Übersicht der die Ergebnisse zur Abwanderungsabsicht und zum Heimatbegriff von Deutsch-Türken
Bild entfernt.

Die Übersicht zeigt auf, dass bei allen Studien die Ergebnisse zur Abwanderungsabsicht von in Deutschland lebenden Türken ähnlich bis gleichgelagert ist. Da die Differenz zwischen Ergebnissen der drei Forschungsinstitute gering ist, ist sie unter Beachtung einer in der Statistik üblichen Fehlerquote von (+/-) 5% kaum bis gar nicht relevant. Auffallend hingegen ist, dass bei den in NRW lebenden Deutsch-Türken eine geringe Abwanderungsbereitschaft vorhanden ist.

Interessant hingegen sind die Heimatbegriffe. Während die Ergebnisse der Studien vom Liljeberg Research International und der Stiftung Zentrum für Türkeistudien sich stark gleichen, wonach eher die Türkei als Heimat wahrgenommen wird, lässt sich unter deutsch-türkischen Studierenden und Akademikern aus der TASD-Studie des futureorg Instituts ein positiver Heimatbegriff gegenüber Deutschland feststellen.

Wollen Deutsch-Türken wirklich in die Türkei abwandern?

Gleich vorweg muss angeführt werden, dass es sich bei den Angaben im Migrationsbericht 2008 um aggregierte Daten handelt, die kaum bis gar keine qualitativen Aussagen z.B. zu den Abwanderungsgründen zulassen. Desweiteren kommen weitere erschwerende Faktoren hinzu:

  • Bei den in die Türkei fortgezogenen deutschen Staatsbürgern wird nicht nach Migrationshintergrund unterschieden. Diese Dimension wäre allerdings hilfreich, um einzuschätzen, wie viele deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund (bzw. türkischer Herkunft) in die Türkei fortgezogen sind.
  • In Bezug auf die in die Türkei fortgezogenen ausländischen Personen bzw. türkischen Staatsangehörigen wird im Migrationsbericht auch auf die Daten des Ausländerzentralregisters (AZR) zurückgegriffen. Dies ist insofern problematisch, als dass im AZR sowohl die Fortzüge in die Türkei, als auch die Abwanderungen deutlich unterschätzt werden. Es erfasst unter Fortzüge auch Sterbefälle. So wird ein in Deutschland verstorbener türkischer Staatsbürger in der Statistik als fortgezogen erfasst. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist, dass in der AZR-Statistik die Abwanderung von Fällen, die ihren Wohnortswechsel ins Ausland nicht ordnungsgemäß melden, nicht berücksichtigt werden. Dazu schreibt der Migrationsbericht: „So melden sich nicht alle Abwanderer, die aus Deutschland fortziehen, ab.“ (Migrationsbericht 2008: 10)

Die Daten vom Migrationsbericht 2008 müssten zumindestens Hinweise darauf geben, ob in der Vergangenheit eine Abwanderung von Deutsch-Türken in die Türkei erfolgt ist. Schließlich war die Türkei 2008 hinter Polen das zweitwichtigste Auswanderungsziel: 5,3% aller Fortzüge aus Deutschland erfolgten in die Türkei. Der Anteil von 5,3% Fortzügen über die deutschen Grenzen hinaus in die Türkei umfasst sowohl ausländische (auch türkische) Staatsangehörige als auch deutsche Staatsbürger.

Abbildung 1: Fortzüge im Jahr 2008 nach den häufigsten Zielländern (Kreisdiagramm – Abbildung 1-5 im MB)
Bild entfernt.

Laut des Migrationsberichtes 2008 haben 34.843 Angehörige mit türkischer Staatsbürgerschaft Deutschland verlassen (vgl. Migrationsbericht 2008: 25). Von denen sind 34.280 türkische Staatsbürger in die Türkei fortgezogen. Diesen stehen 4.609 Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft gegenüber, wobei unklar bleibt, wie hoch der Anteil der deutschen Staatsbürger mit türkischer Herkunft ist. Hieraus ergibt sich eine Summe, wonach 2008 38.889 Personen aus Deutschland in die Türkei fortgezogen sind.

Fortzug der türkischen Staatsangehörigen in die Türkei

2002 existierte noch ein positives Wanderungssaldo von +21.098. Seitdem ist die Nettozuwanderung aus der Türkei rückläufig. 2007 zogen 25.599 türkische Staatsangehörige nach Deutschland. Im selben Jahr sind aber 29.879 türkische Staatsangehörige aus Deutschland fortgezogen (Wanderungssaldo 2007: -2.280). Dieser Trend setzte sich im Jahr 2008 fort. In diesem Jahr betrug das Negativsaldo schon -8.190 türkische Staatsangehörige (Zuzüge 2008: 26.653; Fortzüge 2008: 34.843).

Abbildung 2: Fortzüge von türkischen Staatsangehörigen in die Türkei zwischen 1991 bis 2008, eigene Darstellung
Bild entfernt.

Die Betrachtung der Fortzüge aus Deutschland in Richtung Türkei im Zeitverlauf lässt, wenn auch nur bedingt, die Aussage zu, dass immer mehr Menschen in die Türkei fortziehen. Denn zwischen 1992 und 2000 sind jedes Jahr über 40.000 Personen in die Türkei fortgezogenen. In den Folgejahren flachte die Zahl der Fortzüge ab. Erst 2008 erreichte sie mit knapp 39.000 Fortzügen einen erneuten Höhepunkt.

Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass in dieser Gruppe verschiedene Personenkreise zusammengefasst sind. Über die Gastarbeiter, die sich mittlerweile häufiger im Rentenalter befinden, müssen Studierende aus der Türkei, Angehörige der zweiten und dritten Generation von Deutsch-Türken aber auch Asylbewerber gezählt werden.
In der AZR-Statistik wird ausgewiesen, dass sowohl 35,7% der türkischen Staatsangehörigen aus einem unbefristeten Aufenthaltstitel heraus als auch 36,4% der fortgezogenen türkischen Staatsbürger sich mindestens 20 Jahre in Deutschland aufhielten (24,5% mehr als 30 Jahre). Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gehörte ein großer Teil der Fortgezogenen zur Gastarbeiter- bzw. zur nachfolgenden Generation an. 36,4% der fortgezogenen türkischen Staatsbürger hielten sich weniger als vier Jahre in der Türkei auf, wobei 32,9% hielten sich zwischen vier und 20 Jahren in Deutschland aufhielten. (vgl. Migrationsbericht 2008: 335 ff.; Tabellen 3-6 und 3-8)

Abbildung 3: Fortzüge von Ausländern in die Türkei nach Aufenthaltsstatus und -dauer
Bild entfernt.

Fortzug der deutschen Staatsbürger in die Türkei

Interessant sind die Zahlen der Fortzüge deutscher Staatsbürger in die Türkei. Wobei hervorgehoben werden muss, dass das Merkmal „deutsche Staatsbürgerschaft“ nicht aussagt, ob dabei auch Personen türkischer Herkunft gemeint sind, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Seit 1991 hat die Zahl der Fortzüge deutscher Staatsbürger in die Türkei kontinuierlich zugenommen. Haben 1991 noch wenige hundert deutsche Staatsbürger Deutschland in Richtung der Türkei verlassen, so wurden 2008 4.609 Personen registriert.

Die Abbildung unten weist darauf hin, dass die Zahl der Fortzüge zwischen 1991 und 2001 zwar kontinuierlich zugenommen hat, aber seit 2002 kann ein steiler Anstieg festgestellt werde.

Abbildung 4: Fortzüge von deutschen Staatsbürgern in die Türkei zwischen 1991 bis 2008, eigene Darstellung
Bild entfernt.

In der Abbildung unten wiederum wurden auf der Grundlage der Daten aus dem Migrationsbericht 2008 die Veränderungen der Fortzüge zum jeweiligen Vorjahr berechnet, so dass das Phänomen der Fortzüge von deutschen Staatsbürgern in die Türkei etwas differenzierter betrachtet werden kann. Demnach ist zwar eine – wenn auch flache aber kontinuierliche – Zunahme der Fortzüge in den Jahren zwischen 1991 und 2001 abgebildet. Die Grafik unten zeigt allerdings auf, dass diese Fortzüge in diesem Zeitraum sehr unbeständig waren.

Abbildung 5: Vorjahresvergleiche der Fortzüge von deutschen Staatsbürgern zwischen 1991 und 2008 in Prozent, eigene Berechnung und Darstellung
Bild entfernt.

In den Jahren 2002 bis 2008 haben die Fortzüge einerseits kontinuierlich und ohne nennenswerte Zäsuren zugenommen und andererseits sich – vergleichsweise - extrem vervielfacht. Die Türkei scheint insbesondere für die deutschen Staatsangehörigen ein attraktives Auswanderungsziel geworden zu sein. Dies gilt insbesondere für die erwerbsfähige Altersgruppe zwischen 25 und 50 Jahren. 2008 haben über 1.500 deutsche Staatsbürger dieser Altersgruppe Deutschland zugunsten der Türkei verlassen (vgl Migrationsbericht 2008: 339; Tabelle 3.10).

Der Migrationsbericht gibt auch an, wie viele deutsche Staatsbürger in den Jahren zwischen 1991 und 2008 aus der Türkei nach Deutschland zurückgekehrt sind. In den Jahren 1991 bis 2002 sind mehr deutsche Staatsbürger aus der Türkei zurückgekehrt, als in die entgegensetzte Richtung fortgezogen sind. Seit 2003 konnte aber die Zahl der Rückkehrer die der fortgezogenen deutschen Staatsbürger nicht einholen. Der Abstand ist sogar stark angestiegen (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2: Fortzüge und Rückkehrer zwischen 1991 bis 2008 im Vergleich

Fazit: Die Türkei eher als attraktives Auswanderungsziel für deutsche Staatsbürger

Ist die Türkei nun ein attraktives Auswanderungsziel für Deutsch-Türken? Bei dieser Frage muss zwischen fortgezogenen Ausländern bzw. türkischen Staatsangehörigen und fortgezogenen deutschen Staatsbürgern unterschieden werden. Die Frage muss bei erster Gruppierung mit „wahrscheinlich Nein“ und bei der Zweiter mit „sehr wahrscheinlich Ja“ beantwortet werden – vorrausgesetzt unter den deutschen Staatsbürgern befinden sich sehr viele mit türkischer Herkunft.

Fortgezogene türkische Staatsangehörige: Die Daten aus dem Migrationsbericht 2008 weisen eher darauf hin, dass die Fortzüge von türkischen Staatsangehörigen in Richtung Türkei nicht zugenommen sondern abgenommen haben. Insbesondere in den 1990er Jahren wurden Fortzüge um die 40.000 Personen pro Jahr registriert. Diese Zahl nahm in den Jahren 2000 bis 2007 kontinuierlich ab. 2006 und 2007 erreichte sie ihren Tiefpunkt. (Fortzüge 2006: 29.778; Fortzüge 2007: 28.346).

Diese Abnahme der Fortzüge beruht wahrscheinlich darauf, dass immer weniger Asylberwerber nach Deutschland zugezogen sind. In den 1990er Jahren setzte Deutschland zudem eine restriktive Regelung der Asylpolitik um, die offensichtlich Wirkung zeigte. Zwischen 1991 und 1996 haben pro Jahr um die 20.000 Personen aus der Türkei einen Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Ab 1997 ist diese Zahl rapide gesunken. Ab 1999 betrug die Zahl der Asylanträge von türkischen Staatsangehörigen weniger als 10.000, im Jahr 2004 halbierte sich diese Zahl auf weniger als 5.000 und im Jahr 2008 betrug sie 1.400 Personen. Es lässt sich daher mit Vorsicht vermuten, dass ein Teil der Fortzüge zwischen 1991 und 1996, bzw 1999 auf abgelehnten Asylbewerbern beruht.

Im Jahr 2008 erreichten die Fortzüge einen vorläufigen Höhepunkt, der angesichts ihrer relativ unbeständigen Bewegung in den Vorjahren wenig dazu einlädt und zur Vorsicht mahnt, diesen Wert zu überschlagen. Erst in den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob die Fortzüge türkischer Staatsangehörige anhält, wobei die Studierenden und nach Deutschland eingewanderten Fachkräfte aus der Türkei betrachtet werden müssen.

Des weiteren ist es in der türkischen Community nicht unüblich, insbesondere unter jenen türkischen Staatsangehörigen, die sich im Ruhestand befinden, einige Monate in der Türkei und den Rest des Jahres in Deutschland zu verbringen. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die Gastarbeiter und nachfolgende zweite Generation Wurzeln geschlagen haben. Ihre Kinder, Enkelkinder, Verwandte, (ehemaligen) Arbeitskollegen und Freunde leben in Deutschland. Daher werden sie ein natürliches Interesse daran haben, ihr über Jahrzehnte aufgebautes soziales Netzwerk nicht aufzugeben, sondern weiterhin zu pflegen. In diesen Fällen kann man nicht streng von Fortzug oder Abwanderung sprechen. Naheliegend ist die Bezeichnung Transmigrant. Daher kann davon ausgegangen werden– trotz aller quantitativer Unschärfe – dass die Zahlen zum Fortzug von Ausländern bzw. türkischen Staatsangehörigen insbesondere der Gastarbeiter- und der zweiten Generation diese Gruppe der Deutsch-Türken nur marginal betrifft. Damit ist auch die Annahme verbunden, dass viele türkische Staatsbürger ihren Wohnortswechsel in die Türkei nicht melden. Vor allem jungen türkischen Staatsbürgern im erwerbsfähigen Alter wird unterstellt, dass sie von einem solchen Schritt absehen, solange sowohl ihre (berufliche) Existenz, als auch sicheres Einkommen nicht gewährleistet sind.

Es existiert also eine Dunkelziffer von Deutsch-Türken, die gewissermaßen in einer Pendelmigration leben und von amtlichen Statistiken gar nicht erfasst werden. Fortgezogene deutsche Staatsbürger: Diese Gruppe hingegen ist für die Analyse und die Fragestellung nicht nur sehr interessant, zumal viele Unklarheiten in der Statistik zu fortgezogenen Ausländern mit besonderem Blick auf das AZR wegfallen. Sie bietet auch wertvolle Hinweise zur Beantwortung der Frage, ob die Türkei für die Deutsch-Türken ein attraktives Auswanderungsziel geworden ist.

Zunächst muss hervorgehoben werden, dass die Zahl der in die Türkei fortgezogenen deutschen Staatsangehörigen insbesondere ab 2002 stark zugenommen hat, sodass sie seit dem auch die Zahl der deutschen Rückkehrer übertrifft. Bemerkenswert ist, dass insbesondere in den Jahren 1991 und 2002 die Fortzüge sehr unbeständig waren (vgl. Abbildung 5). Es scheint, als würde 2002 eine Zäsur darstellen, die die Frage aufwirft, warum in den 1990er Jahren die Fortzüge unbeständig aber seit 2002 kontinuierlich zugenommen haben.

Die 1990er Jahre waren durch vielfältige innenpolitische Krisen und Herausforderungen gekennzeichnet, eben solche werden als Erklärung für die unbeständigen Fortzüge von deutschen Staatsbürgern in die Türkei vermutet wird. Der Kampf gegen die Terrororganisation PKK befand sich auf einem Höhepunkt, der fast zu einem Krieg zwischen der Türkei und Syrien führte. Zwischen 1996 und 1997 wurde Necmettin Erbakan Ministerpräsident der Türkei. Seine – mehr oder minder offene – politische Position, die türkische Republik nach islamischen Vorstellungen umzugestalten, provozierte Konflikte mit den kemalistischen Akteuren des türkischen Staates, insbesondere mit dem Militär und der Justiz, die sich bis heute als Wächter einer säkularen Staatsordnung verstehen. Nicht zuletzt geriet die Türkei 1997 in eine schwere Wirtschaftskrise. Wuchs das Bruttoinlandsprodukt der türkischen Volkswirtschaft in den Jahren 1995 und 1996 um knapp 7% brach sie 1997 um -7,5% ein. Mithilfe des IWF und tiefgreifender Wirtschaftsreformen gelang es der türkischen Wirtschaft, sich bis 2001 zu erholen und ab 2002 spürbar zu erstarken.

Seit 2002 hingegen befindet sich die türkische Innenpolitik, aber auch die türkische Wirtschaft im Aufbruch. Viele innenpolitische Konflikte wie der Kampf gegen die PKK haben sich gefestigt. Zumindest ist die Schlagkraft dieser Terrororganisation geschwächt. Gleichzeitig bemühte sich die Regierung in Ankara die Kurden verstärkt in die türkische Gesellschaft zu integrieren. Die kurdische Sprache wurde erlaubt, kurdischsprachige Fernsehsendungen wurden gegründet, Anstrengungen zur Verbesserung der Bildungssituation der Kurden in Südostanatolien wurden unternommen. Hinzukommt, dass die türkische Regierung - angetrieben vom anvisierten EU-Beitritt – demokratische Reformen einleitete. Durch eine disziplinierte Einhaltung der Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Reform der türkischen Wirtschaft nach der Krise Ende 1990er Jahre, aber auch durch die Privatisierung der Staatsbetriebe, Verbesserung der Außenhandelsbeziehungen und Erschließung internationaler Märkte für die Unternehmen bis zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise möchte die Türkei ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 7% erzielen.

Die unbeständigen Fortzüge deutscher Staatsbürger in den 1990er Jahre und ihre kontinuierliche Zunahme ab 2002 signalisiert, dass der Fortzug in die Türkei krisenanfällig ist. Gelingt es der Türkei sich innenpolitisch zu stabilisieren und die demokratische Öffnung zu forcieren, sich außenpolitisch weiterhin zu etablieren und damit zur Stabilität der Region beizutragen, ihre Wirtschaft intelligent aus der Finanzkrise zu manövrieren, dann ist die Aussage, die Türkei sei nicht nur für Türken in Deutschland ein attraktives Auswanderungsziel durchaus realistisch.

 

Bild entfernt.

Kamuran Sezer ist Gründer des futureorg Instituts für angewandte Zukunfts- Trend- und Organisationsforschung in Dortmund.