Zweite Generation: Vom Musterschüler-Image zur Selbst-Repräsentation

Zusammen durch die deutsche Wildernis. Foto: © Kien Hoang Le
Teaser Bild Untertitel
Zusammen durch die deutsche Wildernis

Eine multiperspektivische Diskussion mit Uta Beth, Urmila Goel, Kien Nghi Ha, Tamara Hentschel, Jee-Un Kim, You Jae Lee, Thúy Nonnemann, Pham Thi Hoai, Petra Schlagenhauf, Thi Minh Tam Ta, Anja Tuckermann und vietnamesischen Deutschen

 

Im November 2010 fand im Rahmen der Vortrags- und Diskussionsreihe „Vietnamesische Diaspora and Beyond“ im Berliner Hebbel-Theater ein Gespräch über vietnamesisch-deutsche Communities, zweite Generation und differente Migrationserfahrungen statt. Der Kurator Kien Nghi Ha lud dazu die Schriftstellerin Pham Thi Hoai, die Journalistin Uta Beth, die Autorin Anja Tuckermann und die Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf als Podiumsgäste ein. Nachdem Uta Beth und Anja Tuckermann Wahrnehmungen, Gedanken und Selbstbilder vorstellten, die deutsch-vietnamesische Jugendliche für das von ihnen herausgegebene Buch „Heimat ist da, wo man verstanden wird. Junge VietnamesInnen in Deutschland“ (2008) größtenteils selbst verfasst hatten, entwickelte sich eine vielstimmige Debatte mit dem Publikum.

Die Musterschüler der Integration

Publikum: In der Integrationsdebatte wird häufig gesagt: „Je besser die Bildung, desto höher die Integration“. Wenn die Vietnamesen Musterschüler sind, dann müssten sie demnach besser integriert sein. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

You Jae Lee: Wir von korientation haben vor zwei Jahren das Projekt Die Musterschüler der Integration im Bezug auf die Koreaner durchgeführt, die in der zweiten Generation meist etwas älter sind als die Kinder der vietnamesischen Vertragsarbeiter. Ich fand den Titel damals sehr gut, weil wir damit ein Problem aufgreifen konnten, um die Position der Musterschüler in der Integrations- und Ausländerdebatte aufzuzeigen. Wir wollten diese Chance nutzen. Ich teile die Kritik, dass man hier über jemand spricht, anstatt dass die zweite Generation selbst über ihre Positionierung sprechen kann. Die Zitatauswahl legt nahe, die Frage der Musterschüler, die wir eigentlich umdrehen wollten, hier wiederum aus einer pädagogischen Sicht zu beleuchten – im Sinne der Schattenseiten der Musterschüler. Wo gibt es Probleme in der Familie? Wo gibt es den Zwang in der Erziehung zu besseren Noten? In dieser Hinsicht will ich die erste Generation gar nicht angreifen oder ihnen daraus einen Vorwurf machen. Ich bin selbst so aufgewachsen. Was meine Eltern mir damals gesagt haben und was ich damals wirklich gehasst habe, aber inzwischen verstehe, war: „Du muss immer besser sein als die Deutschen“. Dieser Satz besagt – ich habe es damals wirklich nicht verstanden – welche Diskriminierungserfahrungen die erste Generation hatte, wo sie selbst nicht in der Lage war, diese zu überwinden. Den einzigen Weg, den sie gesehen haben, war bessere Bildung, intellektuell über jenen zu stehen, die diskriminieren. Der Ehrgeiz, den man dann entwickelt, bringt Disziplin mit sich, weil man sich einschränken muss, weil man rausgehen will, aber nicht rausgehen kann, weil man gleichzeitig studieren will. Ich denke, man müsste die Zitate aus so einer komplexen Perspektive analysieren. Deshalb würde ich die Kategorie „Musterschüler“ an sich problematisieren anstatt die positiven und negativen Seiten der Erziehung gegenüberzustellen.

Petra Schlagenhauf: Ja, aber die Frage bleibt: Ist das graduell oder absolut zu sehen? Jedoch ändern sich die diskriminierenden Strukturen nicht, nur weil ich studiert habe. Aber mit einer höheren Bildung habe ich vielleicht bessere Chancen mich dagegen durchzusetzen.

Der Begriff des „Musterschülers“ ist in der sowieso unsäglichen Sarrazin-Debatte eines der unsäglichen Elemente. Er stigmatisiert die Betroffenen erneut. Ich würde jederzeit den Ansatz teilen, dass die Bildungsziele auch eine Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen sind, die an die nächste Generation weitergegeben wird. Aber die Frage bleibt: Nützt es der zweiten Generation, dass die Eltern einem damit zu helfen versuchen, um den eigenen Weg in dieser Gesellschaft zu schaffen? Aber das müssten Sie beantworten. Das kann ich nicht beantworten.

Anja Tuckermann: Die Haltung „besser sein als die Deutschen“ gibt es auch in anderen Communities – ich habe sehr viel mit türkischen und arabischen Jugendlichen zu tun –, denn es hängt soviel von einer guten Bildung ab. Wenn man einen anerkannten Berufsabschluss hat, dann kann man sich freier bewegen. Aber ich will die anderen Probleme nicht verleugnen. Ich weiß beispielsweise, dass sehr viele junge, gut ausgebildete Türken in die Türkei ziehen, weil sie dort gut bezahlt werden und sofort eine Stelle finden. Diese Chancen haben sie hier nicht. Trotzdem stelle ich fest: Wenn man nicht einmal den Hauptschulabschluss hat, was macht man dann? Ich will nicht die Diskriminierung leugnen, die es überall gibt, wenn man zum Beispiel einen türkischen Namen hat.

Jee-Un Kim: Soziale Mobilität ist aber nicht gleichbedeutend mit Integration. Sie erhöht sicherlich meinen Lebensstandard, wenn ich mir ein Auto oder eine schicke Wohnung leisten kann. Es kann sein, dass mir diese materielle Sicherheit reicht, aber trotzdem hat das nichts mit Integration zu tun. Aber ich weiß auch nicht, was Integration eigentlich bedeutet und wo hinein ich mich integrieren soll. Dementsprechend komisch kommt es mir vor, wenn es heißt, die jungen, gut ausgebildeten Deutsch-Vietnamesen seien gut integriert. Mein Appell ist, die deutsche Gesellschaft sollte sich in eine neue gemeinsame Zukunft integrieren.

Thúy Nonnemann: Vietnamesische Jugendliche stehen unter einem großen Druck: einerseits von der Schule und andererseits von den Eltern. Sie müssen besser sein und ganz viel Leistung bringen, aber gleichzeitig müssen sie auch ihren Eltern helfen. Viele stehen sehr früh auf, um zum Beispiel auf dem Großmarkt für die Geschäfte der Eltern einzukaufen und gehen danach zur Schule, um gute Noten nach Hause zu bringen. In den letzten Jahren haben wir immer wieder Selbstmorde junger Vietnamesen zu beklagen, die das nicht länger ausgehalten haben.

Sie sind aber auch von Rassismus betroffen. So werden bei Bewerbungen häufig Menschen mit ausländisch klingenden Namen einfach aussortiert. Ein Mittel dagegen könnten anonyme Bewerbungen sein, wo es nicht nach Namen, Aussehen, Geschlecht, Familienstand oder Alter, sondern nur nach Qualifikation geht. Das wäre ein kleiner Fortschritt.

Thi Minh Tam Ta: Ich bin eine vietnamesische Psychologin aus der ersten Generation und habe momentan eine schwer depressive Patientin aus der zweiten Generation, die starke Konflikte mit ihrer Mutter hat. Auf Anraten ihrer deutschen Freunde hat sie den Kontakt mit ihren Eltern abgebrochen, was sich stark verschlechternd auf ihren Zustand auswirkte. In der Therapie mit ihr habe ich die positiven Aspekte in der Beziehung zu ihren Eltern herausgearbeitet und versucht ihr zu erklären, welche Motive und Gründe sich hinter dem Verhalten ihrer Eltern verbergen. Diese Therapie hat ihr sehr geholfen. Daher ist es wichtig, auch die Perspektive der ersten Generation anzuerkennen, die ihr ganzes Leben viel Liebe, Zuwendung und Mühe für ihre Kinder aufbringen. Diese Konflikte sind auch eine Chance für die Familie sich besser zu verstehen und gegenseitiges Verständnis zu entwickeln.

Uta Beth & Anja Tuckermann (Hg.) (2008): „Heimat ist da, wo man verstanden wird“: Junge VietnamesInnen in Deutschland

Wer ist die zweite Generation?

Junge deutsch-vietnamesische Frau: Von dem Buch Heimat ist da, wo man verstanden wird habe ich erst heute erfahren. Die Zitatausschnitte sind sehr anrührend und erzählen als Momentaufnahme viel aus einer bestimmten Periode im Leben eines Jugendlichen. Sie sind aber weniger eine zurückblickende Reflexion mit größerem zeitlichen Abstand, so dass sie oftmals anrührend wirken, wenn sie von den Betroffenen selbst geschrieben werden. Aber ich möchte diesem Buch damit gar nicht seine Qualität nehmen – ich finde es toll und werde es wohl lesen.

Ich finde es aber schwierig, wenn des Öfteren nicht so deutlich differenziert wird, ob die familiären Probleme vor dem Hintergrund der vietnamesischen Migration zu sehen sind oder auf die vietnamesische Erziehung an sich zurückgeführt werden, die sich aber ganz woanders abspielt. Bei Migranten ist das anders, da sie zunächst in einem fremden Umfeld leben und die Kinder sich damit arrangieren müssen. Das ist bei Jugendlichen in Vietnam anders, die junge Vietnamesen mit denselben Problemen als Freunde haben und sich nicht von der sie umgebenden Gesellschaft unterscheiden. Das scheint mir wichtig zu sein.

Autoritäre Erziehung gibt es überall und der Ruf nach Freiheit ist dann groß. Das kann zu Konflikten bis hin zum Kommunikationsabbruch führen. Sicherlich gibt es diese Probleme auch in vietnamesischen Familien und im Besonderen in der vietnamesischen Gesellschaft aufgrund ihrer Geschichte und der konfuzianischen Erziehung. Aber es gibt sowohl in Vietnam als auch unter vietnamesischen Migranten Familien, die nicht in diesem Denken verharrt sind.

Kien Nghi Ha: Ich stehe irgendwo zwischen der 1,5 und der zweiten Generation, da ich in Hanoi geboren wurde, als 7-Jähriger in West-Berlin ankam und dann im Märkischen Viertel deutsch sozialisiert wurde. Ich habe später an der Freien Universität in Berlin Politikwissenschaft studiert und 2009 in Bremen im Bereich Kulturwissenschaften promoviert. Ich bin einen Weg gegangen, der nicht unbedingt typisch war, vor allem was meine Studienwahl angeht. Im ersten Semester wurde mir erzählt, Politikwissenschaftler können alles, arbeiten später aber meistens als Taxifahrer. Mit dieser Zukunftsprognose hätte ich in einer „klassisch“ vietnamesischen Familienkonstellation diesen Weg nicht weiter beschreiten können.

Was ich als Mensch aber auch als Migrationsforscher erfahren habe, ist, dass Einwanderungsprozesse sowohl Familienbeziehungen als auch die Machtbeziehungen innerhalb der Familie sehr stark verändern. Was Pham Thi Hoai auf humorvolle Weise zum Ausdruck gebracht hat, ist das Anwachsen der Qualitäten und des Wissens der zweiten Generation. Gerade die Aneignung der deutschen Sprachkompetenz ist ein wichtiges Kriterium und was das angeht, so ist die erste Generation meist in einer nachteiligen Position, um sich Formen der kulturellen Anerkennung zu verschaffen. Dadurch verändern sich auch Erziehungsmuster, weil die Machtverhältnisse nicht mehr so eindeutig sind. Von daher muss man diese Aspekte mitberücksichtigen, genauso wie man Effekte des Rassismus nicht ausklammern kann.

Um ein Beispiel zu nennen: Wenn Männer in Deutschland aufgrund ihres Asiatisch-Seins diskriminiert und feminisiert werden als schwache, verweichlichte Männer, als nicht-wirklich-Mann. Diese Form von Rassismus macht sicherlich auch etwas mit den betroffenen Männern. Eine Reaktionsweise besteht darin, wenn man die gesellschaftliche Anerkennung nicht bekommt als Mann, dann kann das umschlagen in die Unterdrückung der eigenen Familie, in eine Verschärfung der Geschlechterverhältnisse, um auf diese Weise sein eigenes Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Das sind Effekte, die nichts mit vietnamesischer Kultur zu tun haben, sondern mit der Migrationserfahrung hier in Deutschland. Diese Aspekte sind wichtig bei der Beurteilung bzw. bei der Sichtweise auf die Generationsverhältnisse – nämlich welche Rolle spielt die deutsche Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Regelungen, Maßnahmen und Bildern, die sie von den Vietnamesen entwirft, die in all ihren Unterschieden hier in Deutschland leben.

Urmila Goel: Ich gehöre einer anderen zweiten Generation an und bin darüber irritiert, wer auf dem Podium sitzt und über diese zweite Generation spricht. Ich möchte fragen, wie es sich anfühlt für andere zu sprechen, bestimmte Zitate auszuwählen, die sie vorher selbst produziert haben, um über eine zweite Generation zu sprechen, die selbst gar nicht da ist. Sie kreieren damit ein Bild der zweiten Generation aus einer dominanten deutschen Perspektive. Für mich fühlt sich das komisch an.

Petra Schlagenhauf: Wir wurden zu diesem Gespräch eingeladen und haben nicht definiert, wer auf dem Podium sitzt. Bei mir ist der Hintergrund: Ich habe seit 20 Jahren vietnamesische Mandantinnen und Mandanten. An dieser Thematik und an den damit verbundenen Konflikten habe ich aufgrund meiner Erfahrungen ein gesteigertes Interesse.

Urmila Goel: Wenn ich als Expertin angefragt werde, kann ich mir die Frage stellen, ob ich die Richtige bin. Ich kann eine Einladung annehmen oder auch nicht. Wenn ich sie annehme, könnte ich darüber entscheiden, ob ich über die Perspektive der zweiten Generation, über meine Perspektive auf die zweite Generation spreche oder sage, ich kann dazu nichts sagen.

Kien Nghi Ha (Hg.) (2012): Asiatische Deutsche – Vietnamesische Diaspora and Beyond. Cover: Ngan Thi Dang

Für sich selbst sprechen

Pham Thi Hoai: Was mich betrifft, so bin ich nicht die Vertretung der zweiten Generation und nicht mal die Vertretung der ersten Generation. Ich vertrete nur mich und meine persönliche Meinung. Wenn meine Meinung Ihnen etwas sagt, ist das schön und wenn Sie völlig dagegen sind, dann ist das Ihr gutes Recht.

Uta Beth: Wir haben drei Jahre intensiv gefragt, und was wir hier wiedergeben, ist nicht unsere Meinung, sondern das Ergebnis aus ganz vielen lebensgeschichtlichen Interviews, die uns unsere Gesprächspartner aus der zweiten Generation erzählt haben. Es ging uns nicht darum, die Interviews aus unserer Perspektive auszuwerten. Wir haben sie in Form von editierten Gesprächen oder als selbst geschriebene Text- und Bildbeiträge veröffentlicht. Es gibt kein Interview im Buch, das nicht vor der Veröffentlichung der betreffenden Person vorgelegt worden ist. Wir haben auch Kürzungs- oder Anonymisierungswünsche akzeptiert, wenn sie geäußert wurden. Das Buch hat über 400 Seiten und die Zitate, die wir heute ausgeführt haben, können nur einen kleinen Ausschnitt darstellen. Wir haben vielfältige Rückmeldungen aus den vietnamesischen Communities erhalten, die alle verwundert waren, wie offen die Jugendlichen sich uns mitgeteilt haben.

Anja Tuckermann: Ich kann erzählen wie wir auf die jungen Menschen zugegangen sind und wie wir die Gespräche geführt haben. Es war ein sehr langer Prozess. Ich sitze hier nicht als die Expertin, die über die gesamte Generation spricht. Das war genau unser Thema: Wir können nicht einfach über irgendwelche Leute reden, sondern nur über die, die wir kennengelernt haben, die uns großes Vertrauen geschenkt haben und deren Worte können wir wiedergeben. Alles andere wäre für mich auch nicht möglich gewesen, und so haben wir es hier auch gemacht.

Wir haben am Anfang unserer Arbeit viele Jugendliche durch ihre Eltern vermittelt bekommen. Sie sagten:„Sprechen Sie mit unseren Kindern“ und gaben uns die Telefonnummern. Die ersten Interviewpartner waren zwischen 16 und Anfang 20 Jahren alt. Wir haben uns getroffen und sie hatten wie wir ihre Freude am Gespräch. Sie vermittelten uns dann oft auch an ihre Freunde, die zum Teil in anderen Städten leben.

Eine Grunderfahrung war: viele Interviewpartner wollten nicht über sich sprechen, wenn anderen Vietnamesen zugegen waren. Sie wollten sich mit uns alleine treffen, und wir haben einige sehr gut auch über den Kontext dieses Buches hinaus über einen längeren Zeitraum kennengelernt. Sie haben die Chance genutzt, sich ihre Probleme von der Seele zu reden. Wir haben uns mehrmals getroffen und nicht alle Inhalte sind im Buch enthalten. Was einen großen Vertrauensbeweis, aber vielleicht auch einen großen Kraftakt darstellt, ist, dass sie einerseits in Anwesenheit anderer Vietnamesen sich nicht selbst thematisieren wollten, aber andererseits mit der Veröffentlichung zum Teil mit Foto und ihrem realen Namen einverstanden waren. Das ist für mich etwas ganz Besonderes. Wir hatten auch schon Veranstaltungen, wo hauptsächlich die Jugendlichen gesprochen haben. Allerdings ist das dann etwas anderes.

Tamara Hentschel: Ich arbeite seit etwa 23 Jahren mit Vietnamesen und kenne die Erfahrungen und Problematiken der Kinder und Jugendlichen aus der Nähe. Ich war sehr erstaunt und auch glücklich, dass sie sich in dem Buch „Heimat ist da, wo man verstanden wird“ so offen geäußert haben, wie es ihnen geht.

Jee-Un Kim: Ich fand es schade, dass die zweite Generation nicht auf dem Podium vertreten war. Was ich auch problematisch finde, sind die narrativen Muster, die uns auf dem Podium präsentiert wurden. Die Herausgeberinnen haben ihre Arbeitsweise mit den Jugendlichen zwar erhellend erklärt, aber es klang für mich recht wertend, in welche Kontexte sie bestimmte Erziehungsmuster gesetzt haben. Da mögen Aspekte auch richtig sein und der Wahrnehmung ihrer jugendlichen Gesprächspartner entsprechen. Ich konnte vieles nachvollziehen, obwohl ich nicht deutsch-vietnamesisch bin, sondern koreanische Eltern habe. Aber es gibt Parallelen. Was ich schade fand, war, dass es nicht die Möglichkeit gab, auf bestimmte Empfindungen und Wahrnehmungen der Jugendlichen näher einzugehen, weil die Perspektive der Herausgeberinnen natürlich eine andere ist.

Kien Nghi Ha: Ich möchte als Kurator dieses Diskussionsprogramms hier Stellung beziehen. Wie alle anderen kann auch ich nicht „die“ zweite Generation repräsentieren oder mich als ihr Fürsprecher ausgeben. Niemand kann das, weil es „die zweite Generation“ so gar nicht gibt und wir alle unterschiedlich sind. Das kann ich am eigenen Beispiel veranschaulichen: Aufgrund meiner chinesisch-vietnamesischen Boat-People-Geschichte gehöre ich mit meinen Eigenheiten einer Minderheit an – ein Teil meiner Familie gehörte zur chinesischen Arbeiterklasse Hanois und der andere Teil lebte als vietnamesische Bauern nahe der Halong-Bucht. Aber es gibt noch viele andere Minderheiten innerhalb der zweiten Generation, so dass es bei näherer Betrachtung gar nicht so einfach ist, eine umfassende und ausgeglichene Form der Selbst-Repräsentation zu finden. Daher freue ich mich sehr über die kritische Nachfrage, die Urmila Goel eingeworfen hat. Denn die Frage nach Repräsentation, das heißt nach Teilhabe ist eine ganz zentrale Frage – vor allem, wenn wir in dominanzgesellschaftlichen Kontexten sprechen, wo hegemoniale Blicke meistens rassifizierend und diskriminierend wirken, wenn sie etwa auf Menschen mit vietnamesischen Hintergrund gerichtet werden und dann entsprechende kulturelle und gesellschaftliche Bilder entfalten.

Meine kuratorische Entscheidung dieses Podium in dieser Form einzuladen ist relativ einfach zu begründen. Man muss zunächst anerkennen, dass die vietnamesische Präsenz in Deutschland auf kultureller und politischer Ebene massive Defizite hat. Auch ein Philipp Rösler kann diesem Defizit nicht wirklich abhelfen – ich weiß nicht einmal, ob er sich in irgendeiner Form als vietnamesisch versteht – und einen Beitrag dazu leisten, die Defizite in der Selbst-Repräsentation abzumildern. Bei dem Thema „Zweite Generation“ hätte diese Situation für mich bedeutet, dieses Thema entweder in dieser Zusammensetzung anzugehen oder es wegzulassen. Ich habe keine Menschen mit einer Perspektive aus der zweiten Generation gekannt, die sich in einem öffentlichen Rahmen hätten so repräsentieren können, dass es eine für mich gute Form ermöglicht hätte. Daher habe ich mich für die zweitbeste Lösung entschieden. Aus meiner Sicht der Dinge ist mit dem Buch von Uta Beth und Anja Tuckermann etwas entstanden, das viele Räume für Selbst-Repräsentation eröffnet hat. Wenn man sich das Buch genauer anschaut, stellt man fest, dass sehr viele Beiträge von vietnamesischer Seite geschrieben worden sind. Daher ist es naheliegend, wenn diese Leistung in diesem Rahmen erbracht wurde, die Herausgeberinnen für diese Leistung zu würdigen. Es ist meine kuratorische Verantwortung dieses Panel in dieser Form einzuladen. Ich finde diese Kontroversen wichtig und lade dazu ein. Wenn wir wirklich weiterkommen wollen, dann kann es nicht darum gehen, unangenehme Fragen zu vermeiden. Vielmehr müssen wir genau diese Fragen thematisieren und dieser Raum ist ein Rahmen dafür.

Was bei der kuratorischen Zusammenstellung dieses Panels in der Vorbereitung nicht in dieser Form absehbar war, ist die Erkenntnis, dass der Gesprächsverlauf sich so stark auf Generationsverhältnisse und dabei sich so sehr auf die zweite Generation konzentrieren würde. Von der kuratorischen Perspektive her sollten interne Differenzierungen in den deutsch-vietnamesischen Communities betrachtet werden, und das ist am Anfang auch angesprochen worden. Diese inneren Differenzierungen sind nicht nur Generationskonflikte, sondern – das wurde auf dem Panel gesagt – auch Konflikte beziehungsweise Unterschiede zwischen Ost und West sowie Nord und Süd. Dazu gehören die unterschiedlichen Migrationserfahrungen, die Teil der Erfahrung der vietnamesischen Communities sind.

Junger deutsch-vietnamesischer Mann: Ich möchte gar nicht den Kurator persönlich angreifen, aber ich rege mich gerade etwas auf: Zu sagen, es gäbe niemand aus unserer Gruppe, der die zweite Generation hier repräsentieren kann, ist ein unglaubliches Statement. Aber vielleicht habe ich das falsch verstanden. Ich habe mich schon komisch gefühlt: Da reden sie auf dem Podium die ganze Zeit über dich als wären wir eine Gruppe Kinder. Trotzdem muss ich für jene sagen, die es nicht aus erster Hand kennen, das meiste kann ich schon bestätigen, auch wenn es vor allem für eine Gruppe galt.

Junge vietnamesisch-deutsche Frau: Was vollkommen fehlte, war die Situation der „Mischlingskinder“. Vor 1980 war es auch von vietnamesischer Seite nicht erlaubt sich mit Ausländern einzulassen. Diese Kinder mussten auch sehr kämpfen. Ich bin jemand, die in Deutschland geboren wurde und noch Vietnamesisch lernen konnte. Meine Mutter die oft zwischen Vietnam und Deutschland pendelte, hat mich häufig mitgenommen. Ich kenne Vietnam in seiner Entwicklung seit mehr als 20 Jahren. Ich bin dankbar für jedes Wort, das ich dort gelernt habe, für jede typische vietnamesische Geste und für jedes Kulturelement, mit dem ich aufgewachsen bin. Das ist ein Geschenk für jedes bilinguale Kind.

Dann muss ich noch sagen: Man hätte sicherlich jemand finden können aus der zweiten Generation, der gerne bereit wäre auf dem Podium mitzusprechen und sich dafür auch vorbereitet hätte. Es gibt gerade in der Diaspora Künstler und Schriftsteller, die sich trauen, Dinge kritisch zu sehen, weil Diaspora vor allem Andersartigkeit bedeutet. Gerade in der neuen Generation liegt viel Hoffnung.

Kien Nghi Ha: Ich bin sehr dankbar dafür, dass soviel Dynamik und auch so viele unterschiedliche Ansichten diese Diskussion belebt haben. Vor allem bin ich froh, dass die zweite Generation sich mit unterschiedlichen Stimmen eingebracht hat. Ich habe mein Wissen an diesem heutigen Abend erweitern können, nämlich etwa zu wissen, dass es hier Menschen gibt, die kulturell weiter kommen wollen und entsprechende Ambitionen haben. Ich hoffe, dass es nicht mehr lange dauert, bis sich daraus Netzwerke entwickeln. Wenn die heutige Veranstaltung dazu einen kleinen Beitrag geleistet hat, dann hat sie in meinen Augen durchaus einen Sinn erfüllt.

 

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des Buchbeitrags „Uta Beth, Pham Thi Hoai, Anja Tuckermann und Petra Isabel Schlagenhauf im Gespräch: Vietnamesisch-deutsche Communities und zweite Generation“ in Kien Nghi Ha (Hg.): Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond. Assoziation A: Berlin-Hamburg. 2012. S. 170-189. Das Gespräch wurde von Kien Nghi Ha transkribiert und bearbeitet. Informationen zu den Gesprächsteilnehmer_innen können auf der Buch-Website abgerufen werden.