Meine Filme sind eine Form des Protests gegen Konflikte, Ungerechtigkeit und die Verletzung der Menschenrechte

Saeed Taji Farouky fotografiert von Inzajeano Latif
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Saeed Taji Farouky

Lieber Saeed, lieber Michael, wir gratulieren zum Gewinn des Amnesty International Preises der Berlinale 2015. Euer Dokumentarfilm Tell Spring Not to Come This Year über den Einsatz afghanischer Soldaten in der Provinz Helmand hat das Publikum an ein Kriegsgebiet erinnert, das leider zunehmend in Vergessenheit gerät. Könnt ihr uns etwas über die Entstehungsgeschichte eures gemeinsamen Projekts erzählen?

Saeed: Danke für euer Interesse. Ich weiß das sehr zu schätzen. Meine Beteiligung an diesem Projekt begann damit, dass Mike mich über eine gemeinsame Freundin kontaktierte und mich fragte, ob ich ihm helfen könne, diesen Film zu drehen. Er hatte zuvor neun Monate für die afghanische Armee in Helmand gearbeitet. Nach Beenden seines Arbeitsvertrages dachte er sich, dass seine persönlichen Eindrücke und die gesamte afghanische Perspektive einen interessanten und überzeugenden Dokumentarfilm ausmachen würden, da es eine Perspektive war, zu dem niemand sonst Zugang hatte. Mike und ich haben eine gemeinsame Freundin. Sie war eine frühere Schülerin von mir, die vor einigen Jahren an einem kurzen Workshop über das Filmen teilgenommen hatte, an dem ich ebenfalls beteiligt war. Mike hat sie gefragt, wen sie empfehlen würde, um den Dokumentarfilm gemeinsam mit ihm zu drehen, und sie empfahl mich. Nach einer mehrwöchigen Diskussion über das Projekt und der abschließenden Erkenntnis, dass wir die gleichen Ansichten teilten, was die Filmgattung des zu produzierenden Films betraf, beschlossen wir gemeinsam Regie zu führen.

Bei mir persönlich war es so, dass ich schon in den ersten Jahren des Krieges einen Film über Afghanistan drehen wollte, aber ich arbeite bedächtig. Ich drehe nicht gerne dieselben Filme wie alle anderen. Bevor ich mit der Produktion eines Films beginne, ziehe ich es lieber vor, mir Zeit zu lassen und die Situation aus der Distanz zu betrachten. Ich schaue mir immer erst an, was die anderen machen und frage mich dann „was fehlt noch? Welche Ereignisse sehen wir nicht in diesem Bericht?“ Die Invasion Afghanistans ist eines der Ereignisse, von denen ich glaube, dass sie diese Generation prägen werden. Somit war klar, ich musste es auf eine besondere Art und Weise angehen, aber wie? Als Mike mich kontaktierte, erkannte ich ganz klar die Gelegenheit, sowohl die einseitige Berichterstattung der Mainstreammedien herauszufordern, die über den Krieg ausschließlich aus der Sicht des Besatzers berichteten, als auch eine ehrliche und menschlich berührende Geschichte zu erzählen, die zuvor nur wenige Menschen gesehen hatten.

Michael: Da ich als Dari und Pashto sprechender Verbindungsoffizier sehr eng mit Mitgliedern der afghanischen Streitkräfte in der Provinz Helmand zusammengearbeitet habe, hatte ich das Glück, dass mir eine Zeitlang ein Einblick in ihre Welt gewährt wurde. Als ich nach meiner Rückkehr die Berichterstattungen über Afghanistan verfolgte, wurde mir deutlich, dass die meisten Journalisten in den Berichterstattungen über die afghanische Armee immer nur über die afghanischen Soldaten sprachen, aber kaum mit ihnen. Es schien in den westlichen Medien unüblich zu sein, dass ein afghanischer Soldat für sich selbst sprach. Das hatte zur Folge, dass Klischees, wie z.B. afghanische Soldaten seien „faul”, „korrupt”, „drogensüchtig”, „unzuverlässig” und „nicht engagiert in der Verteidigung ihres Landes“ in den Mainstream-Medien sehr weit verbreitet waren. Sicherlich gab es Einzelfälle dieser Art, aber meine Erfahrung aus der Zusammenarbeit mit der afghanischen Armee bestätigte mir, dass diese Klischees nicht den ganzen Sachverhalt widerspiegelten. Mit diesen Erfahrungen in petto war ich motiviert, den Krieg aus der Sicht der afghanischen Soldaten darzustellen, aber ich war unschlüssig, wie ich es am besten angehen sollte. Letztendlich kam ich zu dem Entschluss, dass ein Dokumentarfilm der effektivste Weg sei, und da ich keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet hatte, konnte ich mich glücklich schätzen, Saeed zu finden. Mit seiner Kompetenz in Dokumentarfilmen und meinem Zugang zu der Welt der afghanischen Soldaten war es uns möglich, das Vorhaben anzugehen, und während des Arbeitsvorgangs brachte er mir das Handwerk bei: das Filmen, die Tonaufnahme und das Bearbeiten des Filmmaterials.

Für den Dokumentarfilm habt ihr über einen Jahr die dritte Kompanie des afghanischen Militärs ANA begleitet. Gemeinsam mit den Soldaten ward ihr den Angriffen der Taliban ausgesetzt. Es gab Tote und Verwundete bei den Gefechten. Wie blendet man als Regisseur und Kameramann die Gefahr für das eigene Leben aus?

Saeed: Ich denke diese Antwort lässt sich in zwei Teile gliedern. Zuerst einmal muss man als Filmproduzent in einem Kriegsgebiet ein unmittelbares Verständnis der Gefahren haben und diese akzeptieren. Man muss richtig beurteilen, was genau man machen will und ehrlich fragen „bin ich bereit dafür zu sterben?” Ich würde nie an einem Film arbeiten, wenn ich diese Frage mit „Nein” beantworten müsste. Wenn ich mein Leben riskiere, dann für Filme, die ich für einzigartig halte und von denen ich überzeugt bin, dass sie bleibenden Eindruck hinterlassen. Aber um diese Entscheidung zu treffen, muss man sich zuvor viele Fragen stellen: Was sind die konkreten Gefahren? Welche Konsequenzen können folgen? Kann ich oder können die Menschen, die ich liebe, mit den möglichen Konsequenzen umgehen? Vertraue ich den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite oder filme? Sobald man den Entschluss gefasst hat, die Risiken in Kauf zu nehmen, sollte man sein Augenmerk darauf richten, den bestmöglichen Film unter diesen Bedingungen zu drehen.

Der zweite Teil der Antwort klingt wie ein Klischee, aber es ist wahr: durch ein Kameraobjektiv zu schauen, vermittelt einem ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Es ist ganz einfach sich während des Drehs aus der Realität auszuklinken, vorausgesetzt man ist erfahren genug. Sicherlich ist zu viel Distanz aus verständlichen Gründen eine schlechte Sache, aber ich denke für Dreharbeiten in einem Kriegsgebiet ist dieser feine Balanceakt, das sich Lösen aus der Situation, ein notwendiger Schritt, um ganz einfach zu funktionieren. Wenn man gute, visuell berührende Filme machen, und nicht nur schlampiges Nachrichtenbildmaterial präsentieren will, bedarf es ungeachtet des Chaos um einen herum viel mehr Konzentration. Für mich ist es so: je mehr ich mich auf das Filmemachen fokussiere, ohne meine eigene Perspektive oder Menschlichkeit zu verlieren, umso eher bin ich auch in der Lage die unmittelbaren Gefahren auszublenden.

Michael: Ich nehme mal an, dass für mich persönlich die Tatsache, dass ich vor dem Dreh schon ähnliche Situationen in Helmand erlebt habe, mir dabei half, besser einzuschätzen, wann es sicher war zu drehen und wann nicht. Ich würde dennoch nicht behaupten, dass das Ausblenden der Angst vor möglicher Gefahr empfehlenswert ist. Meiner Meinung nach können Angst und Instinkt sehr nützlich sein, um die eigenen Grenzen besser einzuschätzen, vorausgesetzt man kann sie kontrollieren.

Ich glaube nicht, dass man gedanklich zu sehr bei den möglichen Gefahren für das eigene Leben verweilt, wenn man diese Momente durchlebt. Vielleicht setzt man sich in diesen Momenten damit logisch auseinander, aber weniger aus einer emotionalen Perspektive. Das Emotionale spielt sich für gewöhnlich vorher oder nachher ab. Aber jeder ist da anders, ich kann nur für mich sprechen.

Haben sich in diesem Jahr Freundschaften mit den Einheimischen gebildet, die über die Filmproduktion hinaus bestehen?

Saeed: Trotz der sprachlichen Barrieren würde ich die Frage bejahen. Ich betrachte die meisten Menschen, die ich gefilmt habe, als meine Freunde. Ich habe letztendlich genug Dari gelernt, um mich mit ihnen zu unterhalten. Einige konnten Englisch sprechen, andere wiederrum sprachen Arabisch. Bei jedem Film, den ich drehe, betrachte ich die Menschen als gleichwertige Mitarbeiter. Sie müssen das Gefühl haben, genau wie der Produzent in den Film mit einbezogen zu sein. Denn eines ist klar: ohne sie gibt es keinen Film. Ich glaube nicht an den Ansatz sich in ein Kriegsgebiet hineinzukatapultieren und vorzugeben, man sei Herr der Lage und sich dann wieder zurückzuziehen, als wenn man nie dagewesen wäre. Einen realen, intensiven und menschlichen Film zu drehen, erfordert Verständnis zwischen dem Filmproduzenten und den Menschen, die gefilmt werden. Nur so kann man eine bessere Zusammenarbeit und ein Mitwirken gewährleisten. Im Grunde benutzen wir uns gegenseitig, hoffentlich im positiven Sinne, aber oft aufgrund von verantwortungslosen Filmemachern auch in negativer Weise. Es ist ein Balanceakt. Man möchte die eigene Fähigkeit, eine ehrliche Geschichte zu erzählen, nicht durch die Freundschaft mit den Menschen trüben. Man will aber auch nicht allzu entfernt von ihnen sein, so dass sie nur noch Fremde werden.

Wenn man mit jemandem ein ganzes Jahr verbringt, das Essen miteinander teilt, im selben Raum schläft, all die intensiven Momente im Einsatzgebiet gemeinsam durchlebt, 24 Stunden eines Tages beisammen ist, dann entwickeln sich selbstverständlich auch Freundschaften. Mit den meisten der Menschen, die wir gefilmt haben, bin ich mittlerweile auf Facebook befreundet. Es haben sich dauerhafte Freundschaften gebildet. Wir halten sie über die Entwicklung des Films auf dem Laufenden und informieren sie darüber, was mit ihrer Geschichte passiert und sie informieren uns über ihre Lebenszustände und die Kriegssituation.

Michael: Ich stehe immer noch in Kontakt zu mindestens einem Duzend derjenigen, die wir gefilmt haben. Ich telefoniere mit Jalaluddin, dem Einheitsführer, der einer meiner engsten Freunde ist, gewöhnlich alle vierzehn Tage.

Wie lange dauert es in der Regel einen Dokumentarfilm vorzubereiten? Wie lange dauerte die Vorbereitung für Tell Spring Not to Come This Year? Und was waren die Schwierigkeiten?

Saeed: Das hängt ganz vom Film ab, aber in der Regel brauche ich für die Vorbereitung meiner Filme etwa ein Jahr. Entweder ich recherchiere, finde Quellennachweise, arbeite an der Handlung oder arrangiere den Zugang zu offiziellen Stellen und organisiere die Logistik. Für Tell Spring Not to Come This Year hatten wir in der Vorbereitungsphase eine besondere Herausforderung zu bewältigen, nämlich die Erlaubnis zu bekommen, „eingebettet“ mit der ANA filmen zu dürfen. Damals war das ein komplett neues Verfahren, also mussten viele Hürden genommen werden. Sowohl die NATO als auch ANA waren sich unschlüssig darüber, was eigentlich in wessen Zuständigkeitsbereich lag. Es kostete uns ganze sieben Monate, um den gesamten Papierkram zu erledigen. Gleichzeitig war unser Zeitplan ziemlich eingeschränkt, denn geplant war ein Jahr lang zu filmen und wir wollten unsere Dreharbeiten im selben Jahr und so nah wie möglich zu dem Zeitpunkt beenden, an dem auch die NATO ihre Mission beendet. Es war also wichtig im Oktober 2013 mit den Dreharbeiten zu beginnen. Wir haben uns so gut wie möglich vorbereitet, aber im Krieg zu sein bedeutet, mit der unberechenbarsten Situation auf der ganzen Welt fertig zu werden. Es gilt so viele Vorbereitungen zu treffen, vieles muss einkalkuliert werden, ehe der Punkt erreicht ist, an dem man einfach ins kalte Wasser springt und mit den Dreharbeiten beginnt.

Michael: Einerseits kann man sagen, dass die Vorbereitungen für den Film mehr als anderthalb Jahre in Anspruch genommen haben, miteingerechnet meine Zeit als Verbindungsoffizier, in der ich die Männer kennengelernt habe, die eventuell Teil des Film werden würden. Wenn man aber nur die Zeit von der Entwicklung des Konzepts bis zum Beginn der Produktion betrachtet, waren es ungefähr sieben Monate. Tatsächlich war es unkompliziert, die nötigen Genehmigungen vom afghanischen Verteidigungsministerium zu bekommen: es dauerte nur einen Tag in Kabul. Kurzum, eine gründliche Aufklärung zu betreiben, unsere Gedanken zusammenzutragen und der Versuch – in der Regel scheiterten die Anläufe in den Anfangsstadien – die  Finanzierung zu gewährleisten, hat gewiss Zeit in Anspruch genommen.   

Der Titel Tell Spring Not to Come This Year ist sehr poetisch, beschreibt aber auch die Angst vor einer ungewissen und gefahrvollen Zukunft. Würdet ihr den Kampf der regulären afghanischen Armee gegen die wiedererstarkenden Taliban als aussichtslos beschreiben?

Saeed: Das Gedicht ist von dem afghanischen Dichter Khalilullah Khalili und wurde von Jalaluddin ausgesucht, einem der Hauptprotagonisten des Films. Das Gedicht handelt von der sowjetischen Besetzung Afghanistans und bezieht sich auf den Frühlingsanfang im persischen Kalender, das den Jahresanfang symbolisiert. Das Gedicht beklagt die Tatsache, dass so viel Blut vergossen wurde und das Land eigentlich nicht bereit ist für ein neues Jahr, für eine Erneuerung und Wiedergeburt, während der Tod überall präsent ist. Es schien passend, um die Stimmung in dem Film widerzuspiegeln, die Verzweiflung über Erneuerung inmitten all dem Chaos und der Gewalt. Es gibt die Erneuerung aus der Sicht der NATO, die Krieg bedeutet, und dann ist da das afghanische Verständnis von Erneuerung, das Frieden ist. Leider unterscheiden sich beide Visionen grundlegend.

Ich denke nicht, dass die Situation in Afghanistan hoffnungslos ist, eher denke ich, dass die Art und Weise der Kriegsführung hoffnungslos ist. Und in der Tat war der Krieg von Anfang an hoffnungslos. Der Aufstand in weiten Gebieten Afghanistans wird von einer Ideologie geleitet. Diese kann nicht wie eine traditionelle Armee bekämpft und besiegt werden. Der Krieg wurde seit der Invasion 2001 so geführt, als wenn man einen territorialen Krieg gegen eine reguläre Armee führen würde. Das sind im Wesentlichen Taktiken aus dem ersten Weltkrieg. Diese sind lächerlich angesichts eines derartigen Aufstands, denn diese Taktiken resultieren in mehr zivilen Verlusten, in mehr Zerstörung und Entfremdung als jeder noch so strategische Sieg einbringt. Auch das Konzept der NATO einer aufgezwungenen Demokratie durch Invasion und Besetzung ist grundsätzlich pervers. Da die ANA leider mit der Vision der NATO gegründet wurde, führen sie den Krieg auf dieselbe Weise fort. Wie uns in der Vergangenheit schon oft verdeutlicht wurde, ist ein Krieg gegen eine Ideologie ein nie endender Krieg.

Michael: Ich würde die Situation nicht als hoffnungslos bezeichnen. Im Militärjargon benutzen Militärkommandeure eher die Phrase „den Rasen mähen“. Das bedeutet, dass die afghanischen Streitkräfte ein geographisches Gebiet von den Rebellen „bereinigen“ können, aber es dauert in der Regel nicht lange, und sie müssen wieder zurückkehren, um die gleiche Operation im gleichen Gebiet wieder durchzuführen. Die NATO war mit demselben Problem konfrontiert. Der Grund liegt hauptsächlich darin, dass weder die NATO, noch eine andere traditionell strukturierte Armee dazu trainiert oder dementsprechend ausgestattet ist, mit den Hauptursachen solcher Aufstände fertig zu werden, die nicht militärischen Ursprungs sind, sondern eher in sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen liegen. Das Militär hat eine Rolle zu spielen, aber in der Aufstandsbekämpfung sollte diese Rolle eher eine unterstützende und keine führende oder dominierende Rolle sein. Unglücklicherweise war das in Afghanistan meistens nicht der Fall.

Ihr habt mit eurer Kamera einzigartige Bilder eingefangen. Sowohl die vom Krieg überschattete Landschaft Afghanistans als auch die Einzelschicksale der Menschen hinterlassen einen tiefen Eindruck beim Zuschauer. Gab es für euch einen ganz besonderen Moment oder ein Erlebnis, das euch unvergessen blieb?

Saeed: Vielen Dank für das Kompliment. Natürlich ist es tragisch, dass die Bilder von so viel Tod und Zerstörung zeugen, aber ich hoffe, dass sie letztendlich das Mitgefühl der Zuschauer berühren und dazu beitragen, dass eine Verbindung mit den Menschen auf der Leinwand hergestellt wird. Auf diese Weise können sie vielleicht auf einer menschlichen Ebene die Konsequenzen eines Krieges begreifen.

Es fällt mir schwer, mich auf einen besonderen Moment festzulegen. Da waren so viele und die meisten lassen sich nur schwer in Worte fassen. Aber generell kann ich sagen, dass das, was mich an der ANA am meisten überrascht hat und was ich immer mit mir tragen werde, die Tatsache ist, wie oft die Soldaten miteinander gelacht haben, obwohl sie von so viel Schrecken und Leid umgeben waren.

Michael: Für mich waren die Momente unvergesslich, in denen wir mit den Soldaten, die wir filmten, gemeinsam über Witze lachen konnten, obwohl wir uns augenblicklich in der extremsten Situation befanden. Zum Schluss waren die Soldaten weniger Darsteller des Films, sie wurden mehr und mehr zu Freunden. Egal, wie sehr man versucht unparteiisch zu sein, es ist einfach unmöglich in solchen intensiven Situationen nicht ein Teil der Gruppe zu werden. So gesehen würde ich, auch wenn dieser Film mit Sicherheit kein einseitiger Propagandafilm der afghanischen Armee ist – und ich hoffe jeder Zuschauer wird dies bestätigen – ihn auch nicht als Werk eines objektiven Journalismus bezeichnen. Er ist vollständig subjektiv, wobei der für uns wichtige Ansatz darin lag, den Film möglichst nur subjektiv aus der Sicht der Protagonisten zu machen und nicht aus unserer Perspektive zu berichten. Es gibt Meinungen in dem Film, die weder Saeed noch ich befürworten, aber wir waren der Ansicht, dass diese Meinungen dennoch im Film gezeigt werden sollten, da sie einen Teil ihres Lebens widerspiegeln.

Kann die Kunst die Welt zu einem besseren Ort machen? Und ist der Dokumentarfilm eure persönliche Waffe, um für Gerechtigkeit und Menschenrechte zu kämpfen?

Saeed: Meine Filme sind eine Form des Protests gegen Konflikte, Ungerechtigkeit und die Verletzung der Menschenrechte. Es ist auch ein Protest gegen das Versagen des Mainstream-Journalismus, ihre Pflicht der vollständigen Untersuchung der Konsequenzen von Kriegen mit der gebührenden Genauigkeit, der nötigen Skepsis und mit Anteilnahme durchzuführen. Es ist ein Protest gegen die allgemeine Nachfrage nach einer unmittelbaren, kurzen und oberflächlichen Darstellung von Ereignissen, insbesondere auch gegen die koloniale oder gar rassistische Herangehensweise, das immer noch den westlichen Journalismus und die Dokumentarfilme charakterisiert. Selbstverständlich protestiert jeder Mensch auf seine Art. Meine Filme sind keine Art von politischer Aktivität, denn ich befasse mich mehr mit dem Erzählen einer fesselnden, menschlichen und mitfühlenden Geschichte, zu der die Zuschauer eine Bindung aufbauen können und durch diese Verbindung etwas sehr Grundlegendes über das Leben der Menschen verstehen, die mit Krieg, Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten leben müssen. Ich ziehe nicht los, um mit meinen Filmen politische Veränderungen zu bewirken, aber wenn das aufgrund meiner Filme passiert, ist das ein positives Ergebnis. Ich möchte einfache Geschichten erzählen, bei denen die meisten Zuschauer nicht einmal die radikale Vorgehensweise des Films erkennen. In diesem Sinne ist es eine Waffe gegen den Mainstream, hauptsächlich gegen die „westliche“ Darstellung von Kriegen als etwas, das „da drüben“ den „anderen Menschen“ passiert, also unbedeutend bis es einen „von den unseren“ trifft. Ich will diese Haltung so weit wie möglich in Frage stellen.

Ich beabsichtige mit meinen Filmen nicht „die Welt zu einem besseren Ort zu machen“. Wenn sie einen Schritt in diese Richtung bewirken, ist das großartig. Ich will auch keine Moralpredigten halten. Das wäre allzu einfach und generell nur bei schwachen und banalen Filmproduktionen üblich. Meine Filme sind komplex, hintergründig, oft ohne ein Richtig oder Falsch und ohne einfache Antworten. Sie haben keinen „erzieherischen“ Charakter, aber wie gesagt, wenn jemand etwas durch das Anschauen der Filme lernt, dann ist das ein positiver Nebeneffekt. Ich bin daran interessiert, anspruchsvolle Filme zu drehen, die den Zuschauer zum Nachdenken anregen sollen.

Michael: Ich betrachte Kunst weder als ein Mittel für das Gute, noch für das Böse. Es ist, was es ist. Es ist ein Instrument, dass für jeden Zweck verwendet werden kann, je nachdem was der Urheber oder manchmal auch der Interpretierende darin zu sehen wünscht. Ich persönlich bin eher bestrebt den Dokumentarfilm als ein Mittel zum besseren Verständnis der Menschen untereinander zu benutzen und die Welt aus der Sicht eines Andere zu betrachten. Aber ich denke auch, dass es wichtig ist, die Zuschauer nicht von einem gewissen Standpunkt zu überzeugen. In der Regel reagieren die Menschen nicht gut auf etwas, dass ihnen aufgezwungen wird. Ich denke, dass ein starker Film Probleme hinterfragt, aber dennoch dem Zuschauer die Entscheidung überlässt. Letzten Endes können Kunst und Film die Zuschauer informieren und ihnen dabei helfen, ihre eigenen Ansichten zu hinterfragen, aber ein Film kann in praktischer Hinsicht nichts verändern. Man kann sich einen hervorragenden Film über die Auswirkungen des Klimawandels anschauen, aber das bedeutet nicht, dass man danach sein Verhalten ändert. Es sind die Menschen, die letztendlich die Lehren, die sie der Kunst abgewinnen, auf ihr Handeln übertragen müssen.

Wir bedanken uns für das Interview, es war uns ein Vergnügen! Wir wünschen euch auch weiterhin viel Erfolg für die Zukunft.

Dieses Interview führten Safiye Can und Hakan Akçit im Mai 2015