Ziel und Auftrag der Fachkommission

Konstituierende Sitzung im Herbst 2015
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Konstituierende Sitzung im Herbst 2015

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Die Heinrich-Böll-Stiftung setzt eine Kommission zu Flüchtlings- und Einwanderungspolitik ein. Sie wird in den kommenden zwei Jahren die Herausforderungen auf dem Feld von Flucht und Arbeitsmigration beleuchten.

1. Ausgangslage: Deutschland - Europa - global

Weltweit befinden sich derzeit über 65 Millionen Menschen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit. 2014 suchten etwas mehr als einer halben Million Schutz in der Europäischen Union, im darauffolgenden Jahr 2015 waren es 4.4 Millionen Menschen. Im internationalen Vergleich bleiben diese Zahlen dennoch verhältnismäßig klein (für die Bundesrepublik im vergangenen Jahr ca. 1,36 Prozent). Die Länder des Südens (wie Pakistan, Libanon, Iran, Türkei oder Jordanien) beherbergen weiterhin das Gros der internationalen Flüchtlinge. Allein Jordanien hat nach UNHCR-Angaben über 635 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen (bei einer Einwohnerzahl von ca. 6,5 Millionen).  Die Verschärfung kriegerischer Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, Menschrechtsverletzungen, Umweltkatastrophen und ökonomische Perspektivlosigkeit in verschiedenen Regionen Afrikas und Asiens werden auch in den kommenden Jahren die Situation von Flucht und Migration weiter antreiben. Auch innerhalb Europas wird die Wanderungsbewegung hoch bleiben. Allein in der Ukraine gibt es zurzeit rund 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge.

Angesichts der globalen Entwicklung ist die Zahl der Schutzsuchenden auch in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. 2015 beantragten nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge 476.649 Menschen Asyl in Deutschland (2014 waren es 202.834 und im Jahr 2012 lediglich 77.651 Asylbewerber/innen). Die Zahl der tatsächlichen Einreisen von Schutzsuchenden lag im Jahr 2015 jedoch bei fast 1,1 Millionen.

Gestiegen ist aber nicht nur die Zahl von Geflüchteten, sondern auch die Einwanderung nach Deutschland insgesamt. Deutschland gehört heute neben den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien oder Großbritannien zu den wichtigsten Einwanderungsländern der OECD-Staaten. Die Nettoeinwanderung für 2014 betrug 676.730 (2013 wanderten 429.000 Personen in die Bundesrepublik ein; und im Jahr davor etwa 400.000 Menschen). Der weitgrößte Teil der Einwanderer/innen (75 Prozent) kommt aus europäischen Ländern über die geltende Personenfreizügigkeit - meistens als Arbeitsmigrant/innen, die als dauerhafte Migrant/innen eingestuft werden können.

Technologisch hoch gerüstet, überwacht Europa mit Hilfe sogenannter „smart borders“ den Mittelmeerraum mit Drohnen und Satelliten teilweise bis nach Nordafrika. Die seit Jahren stattfindende Verschärfung der Grenzen und des Zauns hat zur Dramatisierung des Sterbens vor den Toren Europas, dem "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" geführt. Allein zwischen dem 12. und 20. April 2015 sind schätzungsweise 1.600 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Seit 1990 starben an den Außengrenzen Europas mindestens 30.000 Menschen. Die genauen Zahlen kennt niemand. Diese Entwicklung wurde in den letzten Monaten durch die faktische Grenzöffnung in Südosteuropa gemildert, die allerdings politisch hoch umstritten ist und voraussichtlich nicht von Dauer sein wird.

2. Zukunftsperspektiven und nachhaltige Politik

Die Willkommenspolitik, die Deutschland seit Spätsommer 2015 gegenüber Geflüchteten gezeigt hat, hat in weiten Teilen der Welt Respekt erlangt. Diese Offenheit markiert eine Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik. Auch was Resettlement angeht, versucht Deutschland neue Wege zu gehen. Zwischen 2012 und 2014 wurden im Rahmen eines Pilotprogrammes jährlich 300 Schutzbedürftige aufgenommen. Für 2015 wurde das Aufnahmekontingent auf 500 Personen erhöht.

Die Europäische Union tut sich schwer, adäquate Antworten auf den stetig zunehmenden Migrationsdruck zu finden. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben sehr deutlich veranschaulicht, dass in Europa Antworten auf Krisen und eine langfristig ausgerichtete Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik fehlen. Vielmehr driften die EU-Staaten an der Flüchtlingsfrage weiter auseinander. Während derzeit Deutschland und Schweden maximale Anstrengung unternehmen, innerhalb der EU den Großteil der Schutzsuchenden aufzunehmen, wird deutlich, dass die EU der aktuellen Krise nicht gewachsen ist. Von einer solidarischen Lastenverteilung ist keine Rede, stattdessen werden Zäune und Schranken als Ultima Ratio feilgeboten. Zwar hat sich die Europäische Union immerhin einigen können, 120.000 Asylbewerber/innen in Griechenland und Italien auf 23 Mitgliedsstaaten zu verteilen. Doch bislang wurde nur ein sehr kleiner Bruchteil der Flüchtlinge weiter verteilt - während der Druck weiter wächst. Es besteht die akute Gefahr, dass eine zentrale Errungenschaft der EU – die Öffnung der innereuropäischen Grenzen – verloren geht.

Es ist auch zu befürchten, dass die humanitären Katastrophen an den Außengrenzen der EU (sowohl im Osten als auch südlich des Mittelmeers) in absehbarer Zeit kein Ende nehmen werden. Nicht auszuschließen ist auch die Gefahr einer Verschärfung des innenpolitischen Klimas in Deutschland wie auch in anderen Ländern der Europäischen Union. Der Aufschwung rechtspopulistischer, fremdenfeindlicher Bewegungen und Parteien ist unübersehbar. Außenpolitische Initiativen (wie die EU-Türkei-Verhandlungen oder das EU-Afrika-Gipfeltreffen auf Malta), die auf Abwehr von Flüchtlingen oder Verhinderung von Migration  gerichtet sind, springen zu kurz, wenn sie die Fluchtursachen nicht bekämpfen.

Trotz der intensiven Debatte der letzten Monate fehlen weiterhin mutige Visionen und konkrete Konzepte für einen kohärenten Umgang mit Flucht und Migration. Weder nationale gesetzliche Regelungen wie der „Asylkompromiss“ vom 1993 oder das 2005 von rot-grün verabschiedete Zuwanderungsgesetz, welches Deutschland auf den Weg zu einem modernen Einwanderungsland führen sollte, noch europäische Vereinbarungen wie das Dublin-Verfahren geben auf die Flucht- und Migrationsentwicklungen der letzten Jahre eine angemessene Antwort. Über kurzfristige Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen und die Skandalisierung bestehender Flüchtlings- und Einwanderungspolitik hinaus fehlt vielerorts der Politik die Kraft, durch neue Konzepte und praktische Umsetzungsformen die Themen Migration, Flucht und Asyl glaubwürdig zu vermitteln.

Die Bundesrepublik steht in der rechtlichen und moralischen Verantwortung, Flüchtlingen in humaner und angemessener Form Schutz und Sicherheit zu bieten. Gleichzeitig muss Deutschland als globale Wirtschaftsnation und angesichts tiefgreifender demografischer Veränderungen zukunftsfähige politische Mechanismen zur Steuerung und Gestaltung von Einwanderung entwickeln. Es muss ein neuer, belastbarer Konsens für eine nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik gefunden werden, der ein möglichst breites politisches und gesellschaftliches Spektrum einbezieht. Er muss kohärente Antworten auf tiefgreifende soziale, ökonomische und demografische Entwicklungen geben, von denen Deutschland und Europa unmittelbar betroffen sind.

Der demografische Wandel und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme werden in naher Zukunft zu den treibenden Kräften der Migration nach Deutschland gehören. Die heutige Bevölkerungszahl von 80,8 Millionen wird bereits ab 2023 merklich sinken. Nach den neuesten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (April 2015) wird die Einwohnerzahl Deutschlands 2060 67,6 Millionen (bei schwächerer Zuwanderung) bzw. 73,1 Millionen (bei stärkerer Zuwanderung) betragen. Diese Entwicklung wird vor allem auf die Rente und andere Sicherungssysteme des Sozialstaates dramatische Auswirkung haben (2015: 34 Rentenbezieher/innen pro 100 Erwerbstätige; 2060: 60 Rentenbezieher/innen pro 100 Erwerbstätige.)

Es geht also um eine menschenrechtsbasierte und verantwortungsbewusste Flüchtlingspolitik, die sowohl den Schutzbedürftigen als auch der Aufnahmegesellschaft klare politische Grundlagen für das Zusammenleben bietet. Im Zeitalter zunehmender Migration und Arbeitsmobilität bleibt eine Einwanderungspolitik unerlässlich, die den sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen einer demografisch verändernden Gesellschaft Rechnung trägt. Komplexe Migrationsströme erfordern eine Migrationspolitik, die vielmehr ist als eine statische Ordnungspolitik. Eine moderne Einwanderungspolitik, die mit den Dynamiken von Migration und Integration Schritt hält, muss transparent und durchlässig sein und sich mit anderen Politikfeldern verzahnen. Last but not least: Ein Kernelement einer modernen Einwanderungspolitik muss auch eine aufstiegsorientierte Integrationspolitik sein. Chancen und Perspektiven werden hierbei nicht nach Herkunft und Einwanderungskategorien (Drittstaaten, Flucht, Arbeitsmigration, Familienzusammenführung etc.) verteilt, sondern Rechte und Möglichkeiten für alle zur raschen Eingliederung und Staatsbürgerschaft geöffnet. Ohne erfolgreiche Integration in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt, ohne Perspektiven sozialen Aufstiegs für Immigrant/innen werden die sozialen und politischen Konflikte in Zukunft noch zunehmen.

3. Ziel und Auftrag der Kommission

Die Heinrich-Böll-Stiftung richtet in den Projektjahren 2015 - 17 die Kommission „Perspektiven für eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik“ (Arbeitstitel) ein, um konkrete Ansätze und Konzepte zu entwerfen. Die verschiedenen nationalen, europäischen und internationalen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen für Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zusammenzudenken und die Durchlässigkeit der Migrationssysteme zu überprüfen, gehören zu den zentralen Fragestellungen der Kommissionsarbeit. Die Themen und die politischen Empfehlungen der Kommission werden den Dreh- und Angelpunkt der vielfältigen Aktivitäten der Stiftungsarbeit (Inland, Ausland und Landesstiftungen) bilden.

Das zentrale Ziel der Kommissionsarbeit wird es sein, einerseits die menschenrechtlichen und politischen Zusammenhänge von Flucht, Migration und verwandte Politikbereiche (wie Demografie, Arbeitsmarkt, Entwicklungspolitik, Sicherheitspolitik etc.) zu beschreiben, andererseits politische Optionen und Empfehlungen zu formulieren, die eine humane Flüchtlingspolitik und eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Migrationspolitik skizzieren. Dabei gilt es sowohl nationale, europäische und internationale humanitäre Verpflichtungen als auch eine zukunftsfähige Einwanderungspolitik, auf die Deutschland zunehmend angewiesen sein wird, zusammenzudenken. Eine wichtige Aufgabe wird es sein, Gestaltungsspielräume für Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und andere Akteur/innen nachvollziehbar zu formulieren.

Die inhaltliche Präzisierung des Auftrages wurde auf der konstituierenden Sitzung der Kommission am 11. Dezember 2015 mit den Mitgliedern der Kommission erarbeitet und vereinbart.

4. Themen der Kommission

Die Arbeit der Kommission findet in folgenden Arbeitsgruppen statt:

1. Unterschiede und Überschneidungen von Migrations- und Fluchtbewegungen –  und die Folgen für eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Politikgestaltung

2. Whole of Government - Ressort- und Ebenenübergreifende Zusammenarbeit in der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik

3. Akteursperspektive der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, Zivilgesellschaftliches Engagement

5. Projektzeitraum

2015 - 2017

Eine Liste der Mitglieder der Kommission finden Sie hier.