„Fliegender Sonnenschein - Vom Leben meiner Schwester“ Leseprobe von Luo Lingyuan

 

Auszug aus dem Roman

Meine kleine Schwester wurde 1974 geboren. In einer Zeit, als Mütter noch Heldinnen waren. Denn damals wollte der Große Vorsitzende die militärisch weit überlegenen Großmächte USA und Sowjetunion durch eine chinesische Bevölkerungslawine besiegen. 

Seine Parolen fielen auf fruchtbaren Boden, denn Kinder sind für Chinesen das höchste Glück. Meine Eltern bekamen gleich fünf. Vier Töchter – und zuletzt einen Sohn. Im Volksmund: 4 Tausendgold und 1 Zehntausendgold.

Meine Eltern waren Lehrer in einer Kreisstadt und finanziell mehr schlecht als recht gestellt. Als die vierte Tochter auf die Welt kam, durfte meine Mutter sich nach dem Gesetz 56 Tage lang um sie kümmern, dann übergab sie das Kind einer Bäuerin, um wieder zur Arbeit zu gehen.

Die Amme lebte in einem 15 Kilometer entfernten Dorf und hatte selbst gerade ein Kind bekommen. Nun sollte sie meiner Schwester gegen Bezahlung einen Teil ihrer Milch geben.

An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass meine Mutter schon bei ihrem ersten Kind kaum Milch gehabt hatte. Die Hungersnöte zu Anfang der 60er Jahre und die ständige Angst vor der Zukunft hatten ihre Milch früh versiegen lassen. 

Kaum waren sechs Wochen vergangen, kam von der Amme die Nachricht, dass meine Schwester sehr krank sei. Meine Eltern eilten zu ihrem Kind. Der Anblick des kleinen Mädchens war so erschütternd, dass meiner Mutter Tränen in die Augen traten. Das Baby bestand nur noch aus Haut und Knochen und hatte überall eiternde Wunden. Besonders an den Beinen waren aufgequollene Striemen zu sehen, weil die Amme das Baby an den Beinen festgebunden hatte, damit es nicht zappelte. Während ihr eigenes Kind munter herumkrabbelte, konnte meine Schwester nur noch das Weiße im Auge zeigen und röcheln. Sie war dem Tod nahe.

Meine Eltern brachten sie zum Krankenhaus in der Kreisstadt. Dort bekam selbst der Arzt einen Schreck: Am Zahnfleisch des Babys wuchsen dicke weiße Beulen, als hätte es Pferdezähne bekommen – ein Zeichen, dass sein Immunsystem völlig zerstört war. Einige Tage lang kämpfte der Arzt um das Leben meiner Schwester. Aber weil die Ärzte damals nur sehr oberflächlich ausgebildet wurden, wusste er bald nicht mehr weiter. Er riet meinen Eltern, das Kind aufzugeben. 

Meine Mutter weinte bitterlich und wollte sich in das Schicksal fügen. Doch mein Vater gab nicht auf. So eilten sie mit dem halbtoten Baby in die Provinzhauptstadt. Diesmal fanden sie tatsächlich einen kompetenten Arzt. Nach dem Absaugen des Eiters und einer Bluttransfusion geschah ein Wunder: Meine Schwester verließ das Ufer der Toten und kehrte ins Leben zurück. Aber die Qualen ihrer ersten Lebensmonate hinterließen Spuren an ihrem Körper: Als sie laufen lernte, zeigte sich, dass sie hinkte. Um die Behinderung wettzumachen, gaben die Eltern ihrem Kind einen neuen Namen: Feixia (gesprochen: Fee-scha), das heißt Fliegender Sonnenschein.

Kaum war Feixia zu Hause, musste sie noch einmal leiden. Eines Tages, es war ein sonniger Sonntag, saß ich im Flur unserer Wohnung und passte auf sie auf. Sie konnte noch nicht laufen, wollte es aber unbedingt versuchen. Ich war das älteste Kind und musste im Haushalt viel helfen: Wäsche waschen, Brennholz sammeln, den Hühnern Futter geben und so weiter. So bald ich ein wenig Ruhe hatte, wollte ich nur lesen und lesen. An dem Tag hatten meine Eltern Feixia in einen chinesischen Kinderstuhl gesteckt, der wie eine Festung en miniature aussieht und als ziemlich sicher gilt. Ich setzte mich also in einen Schaukelstuhl und vertiefte mich in einen Roman. 

Feixia wurde ungeduldig. Sie zappelte und hüpfte in ihrem Stuhl herum. Ich gab ihr einen Holzlöffel zum Spielen, während mein Blick ganz dem Roman gewidmet war. Plötzlich hörte ich einen Schlag, und Feixia schrie wie am Spieß – sie war aus dem Stuhl gefallen. Ich hob sie eilig vom Boden, aber sie schrie noch heftiger und hörte gar nicht mehr auf. Mein Vater kam aus dem Zimmer und stellte fest, dass ihr Arm gebrochen war. Er trug sie sofort zum bekanntesten Orthopäden der Stadt und ließ den zarten Arm verbinden. 

Als er wieder zu Hause war, wartete ich darauf, dass er mir eine Lektion erteilte. Aber nein. Er machte mir keinen einzigen Vorwurf. An diesem Tag nicht und später auch nicht. Auch meine Mutter machte mir keinen Vorwurf. Feixias Knochen wuchsen schnell wieder zusammen, aber noch heute versetzt es mir einen Stich, wenn ich an ihren Arm denke.

Trotzdem wurde Feixia ein fröhliches Mädchen. Sie war ehrgeizig und scharte stets viele Freunde um sich. Gegenüber ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder zeigte sie sich sehr selbstbewusst. Wenn sie mit ihm nicht zufrieden war, gab sie ihm ohne weiteres einen Klaps auf den Hintern, so dass er weinend zu den Eltern flüchtete und dort Schutz suchte. Erst als er in die neunte Klasse kam und einen Kopf größer als sie war, hörte sie damit auf. Trotzdem waren die zwei dicke Freunde. Wenn Feixia zum Beispiel etwas Leckeres wie eingelegten Ingwer aus Mutters Schrank stahl, teilte sie die Beute stets mit dem Kleinen. Und wenn andere Kinder ihn angriffen, war sie sofort zur Stelle. Als sie Teenager waren, schwänzten sie gemeinsam die Schule und vergnügten sich im Stadtkino, bis sie ein Nachbar erwischte und meinen Eltern Bescheid sagte.

In der Grundschule waren Feixias Leistungen mittelmäßig. In der Realschule schnitt sie aber zusehends schlecht ab und blieb sogar einmal sitzen. Vor der Staatlichen Aufnahmeprüfung zur Universität gab mein Vater den beiden zu Hause anderthalb Jahre lang Nachhilfe. Der Sohn machte große Fortschritte und schaffte den Sprung an die Qinghua Universität, die beste Hochschule Chinas. Meine Schwester dagegen fiel bei der Prüfung glatt durch. Sie war die einzige von uns, die es nicht schaffte. Damit war sie ausgeschlossen von der staatlich geförderten Weiterbildung und musste zu Hause bleiben.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Früher nahmen die Unis nur hochqualifizierte Schulabsolventen, heute wollen sie Geld verdienen und öffnen ihre Tore deswegen auch für die Durchgefallenen – wenn sie bereit sind, horrende Studiengebühren zu zahlen. Meine Eltern liehen sich Geld bei mehreren Freunden und schickten Feixia auf die Uni nach Peking. Sie sollte Sprachen lernen und zu mir nach Berlin kommen. Doch sie fiel erneut durch. 

Aber meine Eltern ließen nicht locker. Sie ließen meine Schwester die Abendschule besuchen. Da zu dieser Zeit Buchhalter gefragt waren, sollte Feixia Betriebswirtschaft lernen. Und diesmal schien sie ihr Fach gefunden zu haben. Nach drei Jahren hatte sie ihr Diplom in den Händen.

So begann sie 1996 mit zweiundzwanzig Jahren ihre Karriere als Buchhalterin – und wurde vom wirtschaftlichen Aufschwung in China nach oben getragen. Bei einer Fabrik für Kohlepapier lernte sie Soll und Haben zum ersten Mal in der Realität kennen. Ein Jahr später fand sie eine besser bezahlte Stelle bei der örtlichen Filiale einer Firma für Computerzubehör. Am Anfang hatte sie fünftausend Mitarbeiter, heute hat sie 20.000 – und die Finanzabteilung wuchs mit. Da Feixia sehr fleißig arbeitet (sieben Tage die Woche) und mit anderen Menschen gut auskommt, wurde sie mehrmals befördert. Zuerst Leitende Buchhalterin, dann Stellvertretende, schließlich Erste Finanzchefin. 

Einmal hab ich sie gefragt, wie es sei, wenn der Chef einen Fehler in ihrer Arbeit entdeckt. Da hat sie große Augen gemacht und gelacht: „Man wird immer vom Boss geschimpft. Wenn der nicht mit dir schimpft, dann ist es fast ein Zeichen, dass du die Firma verlassen sollst. Wichtig ist, dass man aus jedem Fehler lernt und ständig besser wird.“ Dann verriet sie mir, dass der Boss sie einmal streng getadelt habe, weil sie Außenstände bei einem Schuldner nicht rechtzeitig eingetrieben hatte. Nun sei der pleite gegangen, und das geschuldete Geld – es war übrigens keine kleine Summe – sei verloren. „Ich musste den Verlust ins Finanzbuch eintragen“, gab sie zu. „Aber von da an habe ich besser aufgepasst.“

Doch dabei blieb es nicht. Feixia wechselte zu einer großen Aktiengesellschaft, um Kenntnisse über die Bilanzvorschriften zu sammeln. Heute ist sie tatsächlich ein echter Überflieger und hat bereits sieben Firmen mit ihrem Können verblüfft. Einmal war sie sogar Geschäftsführerin einer Textilfirma. Zurzeit bereitet sie einen Börsengang vor.

Sie war schon früh ein hübsches Mädchen. Mit dunkelrot gefärbtem Haar und modischer Kleidung sah sie noch hübscher aus. Sie war noch nicht mal zwanzig, da verliebte sich ein gut verdienender Manager in sie. Aber sie hatte ihre eigenen Vorstellungen und ließ den Mann laufen. Und je höher sie aufstieg, desto höher wurden auch ihre Ansprüche. Als sie 28 wurde und immer noch keinen Heiratskandidaten zu Hause vorgestellt hatte, wurden meine Eltern unruhig. Sie gaben im Internet eine Anzeige für ihre Tochter auf, und schon bald hörte Feixias Handy nicht mehr auf zu klingeln. Ein Jahr lang ging sie in Restaurants ein und aus und traf sich mit sorgfältig ausgewählten Männern. Umsonst.

Meine Eltern waren besorgter denn je und planten schon die nächste Kampagne. Da platzte Feixia mit der Neuigkeit heraus: Ein ehemaliger Kollege, der Sohn eines Fischers, der sich zum Computertechniker hatte ausbilden lassen, war der Mann ihrer Wahl. Wie es scheint, hatte er sie schon seit Jahren geliebt. Bald folgte die Hochzeit. Im August letzten Jahres ist Feixia schwanger geworden. Nun trägt sie ihr erstes und einziges erlaubtes Kind im Bauch und schleppt sich jede Woche sechs Tage zur Arbeit. Jetzt spürt sie ihr schlimmes Bein wieder. Und meine Eltern? Sie sind glücklich. „Wir werden uns um das Enkelkind kümmern, damit Feixia weiter der fliegende Sonnenschein bleibt“, sagt mein Vater.

Und was hat meine kleine Schwester in Zukunft vor? „Ich werde nach der Geburt bald wieder arbeiten“, sagt sie vor dem Haus meiner Eltern und hält mit einem Lächeln ihr rundes, ein wenig kindliches Gesicht in die Sonne. „Ich bin doch im Jahr des Tigers geboren.“

 

Bild entfernt.
Luo Lingyuan (Foto: Michael Leh)

 

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"Zum Glück sind alle sehr freundlich."
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