„Gartenchroniken aus der neuen Welt“ Leseprobe von María Cecilia Barbetta

Auszug aus dem Buch

I.

Ofelia schien von einem Geheimnis umwoben. Wir betrachteten sie aus der Ferne – mein kleiner Bruder ungezwungen, ich verstohlen –, wenn wir von der Schule, an ihrem Haus vorbei, heimgingen und der Zufall wollte, daß wir sie zu dieser Stunde bei der Arbeit im Garten erwischten.

"Schau nicht hin", echauffierte sich Ana – den Blick starr nach vorne gerichtet. Sie zerrte an Tomás, zog ruppig an seinem Hemdsärmel und spielte wieder ältere Schwester. Während Anas Schritte schneller wurden, legte sie nach: "Paß auf, du stolperst!" Tomás streckte mir hilfesuchend seine verschwitzte Hand entgegen, ich blieb für einen Sekundenbruchteil stehen, gerade so lange, um meinem sehnsüchtigen Blick Gelegenheit zu bieten, ein zweites Mal Ofelias Sommerkleid zu streifen. "Beeilt euch, ich habe schließlich nicht alle Zeit der Welt", beklagte sich Ana erneut.

Ich vermag nicht genau zu sagen, wie alt Ofelia damals war. Ich selbst war gerade dreizehn geworden, als sie jenes steinalte Anwesen bezog, worauf bis dahin niemand außer den herumstreunenden Katzen unseres Viertels Anspruch erhoben hatte. Die ausgewachsenen Tiere und ihre Jungen hatten sich merkwürdigerweise von Anfang an um Ofelia geschart, sie auf ihre Art umworben, als hätten sie mindestens zwei Leben lang auf dieses Eintreffen gewartet, wären bloß ihre Vorboten gewesen und würden ihre Herrin endlich auf dem Terrain willkommen heißen dürfen, welches sie für sie entdeckt, erkämpft, okkupiert und nach den Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Natur markiert hatten, um unser Leben von dem ihrigen klar abzugrenzen.

Um das verschnörkelte Gittertor rankten sich blaue Prunkwinden, jenseits des verrosteten Zaunes erstreckte sich eine wilde Ansammlung von Blumen, Sträuchern, Gräsern und Obstbäumen. In der hintersten Ecke des Grundstücks, unweit des Hauses, erhob sich ein Berg aus Schuttbrocken und morschen Holzbrettern, eine der letzten klar erkennbaren Bastionen jener Müllhalde, die Ofelia vorgefunden hatte und nach zwei Jahren immer noch zu bekämpfen versuchte.

Der Garten lebte. Er wucherte und forderte seinen Tribut. Das Haus dagegen stand still, bewacht von einer Trauerweide, deren weit ausladende, rutenförmige Äste Zweige trieben, die auf der einen Seite die Außenwand streiften und auf der anderen die dichte, dunkelgrüne Wasseroberfläche eines Teiches berührten. "Giftgrün ist das Wasser des Teiches", dichtete Ana, die offensichtlich neidisch auf alles war, was Ofelia gehörte, und die Überzeugung vertrat, daß diese Ruine von der Pflanzenwelt einzig und allein geduldet wurde; der Efeu hatte das einstöckige Bauwerk beschlagnahmt und zugleich vor dem völligen Zerfall bewahrt, doch irgendwann würde es unter dem strengen Regiment der Blätter und der gelbgrünen Blüten in sich zusammenkrachen.

Das Gerede über den Zerfall der Sitten nahm seinen Ausgang bei dem Gurren und Schreien der Katzen, obwohl Katzen, wenn sie rollig sind und gedeckt werden, nichts dafür können und im Grunde Sklaven ihrer Veranlagung sind. Neu war es, daß die Nachbarn begannen, sich in ihrem Anstand verletzt zu fühlen, und über das Spektakel indigniert waren, dem Passanten ausgesetzt wurden, vor allem Kinder und Enkelkinder im Schulalter, die gleichen – darauf hätte ich schwören können – die, als das Anwesen nur den Vierbeinern gehört hatte, über den Zaun kletterten, um die armen Viecher in ihrem Revier mit Wasserpistolen zu quälen, was ihnen ersichtlich einen Heidenspaß bereitete.

Man brauche unter gar keinen Umständen ein zweites römisches Kolosseum, posaunte Doña Julia in ihrem Laden, das Gesicht von der Anstrengung puterrot angelaufen, die Hände mehlig, die Backwaren vom Vortag – der heraufzubeschwörenden Endzeitstimmung entsprechend – zum halben Preis. Der Vermehrung der Katzen solle Einhalt geboten werden, sie ginge schließlich mit der Verbreitung häßlicher Seuchen und Krankheiten einher.

Von dieser Gerüchteküche ausgehend pflanzte sich nichts als der blanke Unfug fort – daran dachte ich, als ich gefragt wurde, ob ich das übliche wünsche, und im selben Atemzug den Rest zu hören bekam: Gerade jetzt, wo Doña Julias Tochter einen Mann geheiratet habe und trotz ihrer labilen Gesundheit schwanger geworden sei, solle der Kontakt mit Krankheitserregern unterwunden werden, man frage sich nur wie, denn an die frische Luft müsse Doña Julias Tochter ja, und neuerdings würden die Katzen einem ständig über den Weg laufen, vor allem die schwarzen. Man erblicke sie überall: auf dem Dach dieser Baracke, auf den Bäumen, zwischen den Hecken, vor dem Tor, und Jesus bewahre, denn der Frau des Schusters sei letzte Woche eine dickleibige, kohlschwarze zwischen die Beine gelaufen, mit der Folge, daß die Arme gestolpert sei und sich beinahe alle Zähne rausgeschlagen hätte, mitten in der Nacht. Und ob jemand im obszönen Gerangel gefleckte gesichtet hätte und ob gefleckte genau so unheilvoll wie die pechschwarzen wären? Doch im Endeffekt würde jegliche Plage (Katzen, Tauben, Heuschrecken ...) unheilvoll sein, und ob man – mit Mariens Verlaub – etwas streuen sollte, um mit ihr fertig zu werden? Mit ihr und dem Sündenpfuhl müsse man ja fertig werden! Und wie sie denn noch mal heißen würde, das junge Ding?

Ich bezahlte, vergaß, den Marillenplunder für Tomás zu bestellen; schlecht war mir geworden bei dem Gedanken, daß man offensichtlich darauf aus war, nach einem Erdklumpen zu suchen, der – geschickt ins Rollen gebracht – zur Schlammlawine werden könnte und am Ende möglicherweise Ofelia überrollen würde, um sie mitsamt ihrer Schönheit und Zartheit vor unser aller Augen ins Verderben zu stürzen.

Um solche Absichten zu vereiteln, würde ich mich meinem um etliche Erfahrungen reicheren Cousin in einem Brief anvertrauen müssen und mit seinem Beistand einen Gegenplan schmieden ...

II.

Erlauchter Herr,

ich, Ulrich Schmidel, schreibe Euch den vorliegenden Brief aus jenem fernen Ort, an dem wir eine Stadt gebaut haben, welche man genennet Buenos Aires, zu teutsch Gute Luft, wohl wissend, daß Ihr Euch über die großen Siege freut, die der liebe Herrgott unserem Obersten Don Pedro de Mendoza auf unserer Fahrt zuteil werden läßt.

Wir haben auf diesem Land einen Flecken gefunden, darinnen indianisches Volk. Es hat keine Wohnung, sondern zieht herum gleich wie bei uns die Zigeuner. Und so diese Leut einen Hirschen oder ein anderes Gewild überkommen, trinken sie dessen Blut; finden sie auch zu Zeiten eine Wurzel, die essen sie für den Durst. Ihre Armut an Fischen und Fleisch haben sie uns geteilet und ins Lager gebracht, aber einen Tag ausgesetzt, an welchem sie gar nicht zu uns gekommen sind. Derowegen schickte unser Oberster Don Pedro de Mendoza seinen leiblichen Bruder Don Diego mit dreihundert Landsknechten – darunter ich dann auch einer gewesen – und dreißig wohlgerüsteten Pferden gegen sie mit dem Befehl, alle zutot zu schlagen und ihre Flecken einzunehmen.

Als wir zu ihnen gelangten, hatten sie ihre Freunde zusammen gerufen und waren ihrer bei viertausend. (...) Dem zu Trotze  konnten wir sie alsbald in einen Hinterhalt locken – und unter ihnen: ein Wesen nicht weniger wunderlich als die Greife. Es enthielt zweierlei Naturen und war von der Sorte einer Katzenfrau, geschmückt von der Mitte des Körpers aufwärts mit schwarzen Federn und bedeckt von den Beinen bis zum Schwanz mit glattem, kurzem, rötlichem Fell.

Meine Kameraden haben sich auf die Schreckenskreatur gestürzt, welche – wie Don Diego behauptet – aus einem Ehebruch stamme oder aus dem Zusammengehen einer Häuptlingsfrau mit einer Raubkatze. Die Kürze meiner Schilderung entspricht der Schnelligkeit ihres Handelns. Lebend hätte ich sie Euch überbringen lassen wollen oder meinen Umhang für etwas Salz gegeben, um sie zu konservieren, damit unsere Landsleute sie sehen und sich weiterhin in Gottesfurcht üben.

Behaltet mich in Eurer Gnade, 

Euer Ulrich Schmidel
Die Kurzgeschichte ist erschienen in: Literaturblatt Baden-Württemberg, Heft 3, Stuttgart 2010, Sonderbeilage, S. 3-5.

 

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"Mich interessiert immer die Schnittstelle."
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