Frauen und Flucht: Politische Handlungsempfehlungen

Am 8. März 2018, dem Internationalen Frauentag, präsentierte die Heinrich-Böll-Stiftung das Dossier "Frauen und Flucht" im Refugio Berlin. Notwendige politische Maßnahmen wurden diskutiert, um geflüchteten Frauen auf ihrer Flucht und im Ankunftsland Schutz zu gewähren sowie ihre Selbstbestimmung und umfassende gesellschaftlichen Teilhabe zu stärken. Hier finden Sie die gesammelten Handlungsempfehlungen.                                         

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Bei der Tagung am Internationalen Frauentag gab es Raum für Diskussion und Vernetzung

I. Fluchtursachen und Erfahrungen auf der Flucht

Es ist anzuerkennen, dass Frauen und Kinder besonders gefährdet sind, Opfer von Gewalt zu werden. Daraus müssten politische Konsequenzen gezogen werden:

1. Die Verstärkung humanitärer Aufnahmeprogramme im Sinne eines großzügig angelegten Resettlement-Programms speziell für schutzbedürftige Frauen ist dringend erforderlich. Ebenso empfiehlt sich die Ausweitung von Familienzusammenführung mithilfe eines europäischen Rückverfolgungssystems und einer Rechtsberatung für getrennte Familien. Weitere Restriktionen der Familienzusammenführung sind zu vermeiden. Am härtesten betroffen sind vor allem die Frauen , die weiterhin in Kriegsgebieten vom Tod bedroht sind. Zum anderen sind restriktive Regelungen gesundheits- und integrationspolitisch kontraproduktiv: Das Ankommen in Deutschland wird erschwert, da eine Trennung von Angehörigen auf Dauer krankmacht - eine Situation, die wiederum das hiesige Gesundheitssystem belastet.

2. Flüchtende und geflüchtete Frauen und Mädchen brauchen praktische Lösungskonzepte gegen Gewalt in Flüchtlingslagern, sodass die eigene Fluchterfahrung in Anlaufstellen der hiesigen und internationalen Hilfestrukturen nicht weitergelebt wird. Es ist unerlässlich, die Gewaltspirale zu durchbrechen und Frauen auf allen Stationen ihrer Flucht vor Ausbeutung und sexueller und (geschlechtsbezogener) Gewalt zu schützen. Es empfiehlt sich, rechtliche Unterstützung zu institutionalisieren, damit Frauen sich gegen (sexualisierte) Gewalt zur Wehr setzen und Täter anzeigen können.

II. Aufnahmepolitik und Aufnahmebedingungen

3. Bestehende rechtliche Schutzkonzepte werden oftmals nicht wirksam umgesetzt, daher empfiehlt sich eine Evaluation der Schutzmechanismen. Zudem empfiehlt sich, in jeder Gemeinde ein transparentes Beschwerdemanagement mit unabhängigen Ombudspersonen einzurichten, an das sich geflüchtete Frauen im Falle gewalttätiger Überfälle, Diskriminierungserfahrungen und/oder Fehlbehandlungen wenden können.

4. Professionell qualifizierte Dolmetscher/innen sollten bei allen Anhörungen sowie psychosozialen, rechtlichen und medizinischen Beratungen eingesetzt werden. Es besteht die Gefahr, dass Laienübersetzer/innen in der Anhörung Inhalte nicht präzise wiedergeben und somit die Chancen auf eine Anerkennung der Fluchtursachen negativ beeinflussen können.

5. Es ist unerlässlich, dass das gesamte Personal von Einrichtungen, die mit Geflüchteten arbeiten, umfassende interkulturelle Schulungen durchlaufen sollten. Darüber hinaus:

•    Interkulturell geschulte Integrationskurslehrkräfte sind gefragt. Gleichzeitig ist eine Evaluierung der Integrationskurse vonnöten.
•    Behandelnde Ärztinnen und Ärzte sollten im kultur- und gendersensiblen Umgang geschult sein.
•    Sicherheitspersonal in Unterkünften muss gendersensibel reagieren.

6. Zugang zu eigenem Wohnraum sollte der Unterbringung in Massenunterkünften stets vorgezogen werden. Wo nicht anders möglich, ist in gemischten Massenunterkünften (mindestens) das Einrichten sicherer Schutz- und Rückzugsräume für Frauen notwendig. Nur so kann Schutz vor (sexualisierter) Gewalt und ein gewisses Maß an Privatsphäre und Autonomie gewährleistet werden.

7. Als grundsätzliches Problem unserer Gesellschaft muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesamtgesellschaftlich bearbeitet werden und sollten daher von der politischen Ebene stärker forciert werden. Ein erleichterter Zugang zu Alphabetisierungs- und Deutschkursen und Arbeits- bzw. Weiterbildungsmöglichkeiten ist unerlässlich für soziale Teilhabe und sollte im Zusammenhang mit einer flächendeckendenden und flexiblen Kinderbetreuung konzipiert werden, um Müttern die Teilnahme an Arbeit, Freizeit- und Sprachangeboten zu ermöglichen.

8. Eine ausbildungsfreundliche Auslegung der 3+2-Regelung und eine Nivellierung innerdeutscher Unterschiede in der Ausbildungsregelung und -praxis sind gefragt, damit Geflüchtete und Unternehmen Planungssicherheit erlangen. Ein gezieltes Jobcoaching im Sinne der Vorbereitungskurse an Berufsschulen ist sinnvoll, um Qualifizierungen nachzuholen. Darüber hinaus ist es empfehlenswert, Hürden in der Rechtspraxis abzubauen, sodass Geflüchtete auch nach einem abgelehnten Asylverfahren zur Ausbildungsduldung wechseln können.

III. Gesundheit

9. Es gilt, Chronifizierung von Krankheiten durch eine standardmäßige ganzheitliche Gesundheitsversorgung aller Geflüchteten zu vermeiden. Um Versorgungslücken abzubauen, sind Screenings und umfassende Informationen zu Gesundheitssystem, Frauengesundheit und kostenfreien Angeboten sinnvoll. Kostspielige Faktoren für das Gesundheitssystem können dauerhaft gesenkt werden, wenn die Einschränkungen in der Gesundheitsversorgung im Asylbewerberleistungsgesetz aufgehoben und Asylverfahren verkürzt werden.

10. Bei psychotherapeutischen Behandlungen mit traumatisierten geflüchteten Frauen sind Schulungen in der sensiblen Sprach- und Kulturvermittlung unerlässlich. Es empfiehlt sich eine komplette Kostenübernahme von Sprachmittler/innen sowie das Einrichten von Übersetzer/innenpools für alle Sprachen. Des Weiteren ist es ratsam, im Beratungs- und Behandlungssetting auf Telefon- und Videodolmetschen zurückzugreifen. Außerdem sollte Supervision ein fester Bestandteil der interkulturellen traumazentrierten Psychotherapie darstellen.

IV. Empowerment

11. Forcierte Passivität und Mangel an Autonomie geflüchteter Frauen müssen aufgelöst werden. Es ist politisch dringend notwendig, die Stimme der Geflüchteten miteinzubeziehen und Selbstorganisation und Wissen als unmittelbare Vorrausetzung für Selbstermächtigung zu fördern. Darüber hinaus sind partizipative Ansätze wichtig, denn umfassende Teilhabe kann nur durch Begegnung und soziale, kulturelle, ökonomische und politische Partizipation ermöglicht werden.

12. Sprachbarrieren beim Zugang zu Hilfsangeboten sollten mithilfe von mehrsprachigem Informationsmaterial und Informationsquellen für Analphabetinnen gezielt abgebaut werden.

13. Die vielschichtigen Bedürfnisse und Anliegen geflüchteter Frauen sollten vermehrt an öffentliche Einrichtungen getragen werden. Eine bessere Vernetzung und Kommunikation zwischen Behörden, medizinischen Einrichtungen und (Selbsthilfe-)Organisationen ist sinnvoll. Dies ermöglicht die Etablierung effektiver Hilfsstrukturen, in denen Frauen befähigt werden, sich selbst helfen zu können und sich zu vernetzen.

14. Durch die Verschärfung der Asylgesetze nehmen restriktive Maßnahmen für alle Geflüchtete zu. Dies hat auch Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in Deutschland. Diffamierungen in Medien und öffentlichen Räumen müssen durch Aufklärung und Engagement entschieden entgegnet werden. Es wäre an der Zeit, durch ein Bundespartizipationsgesetz, die Teilhabechancen und eine stärkere Repräsentanz von Geflüchteten und Menschen mit Migrantionshintergrund voranzubringen.

 

Fotos der Veranstaltung

 

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