Leseprobe von Nassir Djafari

Leseprobe aus dem Roman "Eine Woche, ein Leben" von Nassir Djafari, erschienen im Februar 2020 im Sujet Verlag.

Buchcover "Eine Woche, ein Leben" von Nassir Djafari
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Buchcover von "Eine Woche, ein Leben", dem Debütroman von Nassir Djafari

Leseprobe aus "Eine Woche, ein Leben" von Nassir Djafari, erschienen im Februar 2020 im Sujet Verlag.

Beflügelt eilte Hamid nach Hause, die Sorgen um Timm wogen mit einem Mal weniger schwer als noch am Morgen. Er wollte seinem Sohn eine Chance geben, selbst damit herauszurücken, dass er die Schule schwänzte. Anschließend würde er ihm die Konsequenzen in aller Klarheit vor Augen führen. Kaum zu Hause angekommen, ging er geradewegs zu Timms Zimmer.

Der Junge saß schon wieder vor dem Computer, als wäre er daran festgewachsen. Immerhin hatte er keinen Kopfhörer auf, er war ansprechbar. Das Zimmer bot den üblichen Anblick. Im Grunde ge­nommen müsste Timm doch nur einmal ordentlich aufräumen, es war keine große Sache. Und ein neues Sweatshirt könnte er auch anziehen, dachte Hamid, das hier trug er bestimmt seit Wochen. Wahrscheinlich war es mal wieder eine Phase, die, ehe man sich versah, wieder zu Ende gehen würde, genauso wie die Zeit, als er sich zweimal täglich rasierte und sich anschließend die halbe Flasche Rasierwasser ins Gesicht klatschte.

Die ganze Wohnung stank damals nach diesem fürch­terlichen Aftershave, alles Lüften nutzte nichts. Hamid musste grinsen.

„Hallo Timm. Alles klar? Kommst du bitte mal ins Wohnzimmer? Ich möchte mit dir sprechen.“

Bevor der Junge etwas erwidern konnte, machte er auf dem Absatz kehrt.

Er setzte sich auf das rote Ledersofa und wartete. Im Geiste zerlegte er das Gespräch mit der Erbel und ging Aussage für Aussage durch. Je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Sie hatte tatsächlich mit Schulverweis gedroht, was völlig übertrieben war. Trotzdem musste er handeln, jetzt sofort.

Hamid schaute auf die Uhr, es waren schon zwanzig Minuten vergangen und Timm war immer noch nicht gekommen. Er sprang auf. Er würde ihm schon Beine machen. In dem Moment hörte er, wie die Zimmertür aufging und der Junge angeschlurft kam.

„Ich musste mir sagen lassen, dass mein Sohn seit drei Wochen nicht in die Schule geht! Was sagt der Herr Sohn dazu?“, schleuderte er ihm entgegen.

„Hää?“

„Ich habe mit Frau Erbel gesprochen.“

„Was?“

Hamid sog scharf die Luft ein und musterte den Jungen.

Der machte einen bejammernswerten Eindruck. Blass und mit weit aufgerissenen Augen saß er da.

„Angeblich bist du seit drei Wochen krank. Stimmt das?“

Timm betrachtete die Familienfotos auf der gegen­überliegenden Wand, die Arme verschränkt wie ein renitenter Schüler.

Hamid konnte sich nicht mehr zurückhalten und herrschte ihn an: „Sag endlich was!“

Timm zuckte zusammen.

Sofort tat es ihm Leid. Er wartete, bis sich sein Atem normalisiert hatte. Dann beugte er sich vor und versuchte es in ruhigem Ton. „Also, was ist los?“

„Ich hatte Magenschmerzen.“

Der Magen war tatsächlich einer seiner Schwach­punkte, dachte Hamid. Timm hatte als Kleinkind Phasen gehabt, in denen er nicht gut gegessen hatte. Immer wieder klagte der Kleine über Bauchweh, meis­tens nachts. Dann stand er mit seinem Teddy im Arm im Türrahmen des Schlafzimmers und weinte. Hamid quälte sich aus dem Bett und machte Kamillentee, tat etwas Kandis hinein und gab ihm zu trinken. Danach setzte er sich mit dem Kleinen aufs Sofa, den Arm um ihn gelegt, eine Decke über sie beide gebreitet und las ihm vor. Schon nach wenigen Seiten schlief Timm, nicht selten auch er ein. Am nächsten Morgen war keine Rede mehr von Bauchweh. Mit etwa elf Jahren waren die Magenschmerzen zurückgekehrt. Eva hatte vermutet, der Stress sei der Grund. Der Junge war gerade auf das Gymnasium gekommen. Aber das war natürlich Unsinn. Im Leben muss man sich eben anstrengen, hatte Hamid ihr erklärt. Auch er habe es in der Schule nicht leicht gehabt, na und?

Das habe er durchgestanden, und Timm würde es genauso schaffen, schließlich seien sie aus dem gleichen Holz geschnitzt.

„Magenschmerzen!“ Hamid wog ab, was er gehört hatte. „Warum hast du uns denn nichts davon ge­sagt? Du weißt, dass du mit deinen Eltern über alles reden kannst.“

Timm murmelte etwas.

„Was sagst du da?“

„Eva ist nicht meine Mutter.“

„Wovon redest du? Mensch, dein Abitur steht auf dem Spiel! Ist dir das klar?“

Der Junge zuckte lässig die Schultern.

Hamid starrte seinen Sohn ungläubig an. „Ist dir denn alles egal?“

Timm sagte nichts. Seine schlaffe Haltung und sein abwesender Blick waren Antwort genug.

Hamid hob die Stimme und spürte, wie er in Rage geriet. „Ein für alle Mal, damit das klar ist: Ab mor­gen gehst du wieder in die Schule! Kapiert? Ende der Debatte.“

Timm zeigte keine Regung.

Hamid steigerte seine Lautstärke: „Ist das klar?“

Nachdem Timm in sein Zimmer zurückgekehrt war, trat Hamid auf den Balkon. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft war merklich abgekühlt. Die Straße unter ihm glänzte schwarz, und die wenigen Autos, die vorbeifuhren, spritzten Wasser auf den Bürgersteig. Er stützte sich mit beiden Händen auf das Balkongeländer und atmete tief ein und aus. Langsam beruhigte er sich. Er musste den Dingen auf den Grund gehen.