Zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg

Essay

Am 24. Februar 2022 ist für Viele die Welt in sich zusammengebrochen. Die Schriftstellerin Julia Grinberg, die in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurde, später in der Ukraine lebte und mittlerweile ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hat, beschreibt in ihrem Essay die Risse, die seit dem Krieg durch viele Familien gehen, das zwiespältige Verhältnis zu ihrer Muttersprache und die Kraft der freien Kunst, neue Welten zu erschaffen.

Portrait von Julia Grinberg

als ich am 24.02 aufwache, den laptop hochfahren lasse, nachrichten mitbekomme und sie dann erst begreife, sackt meine welt in sich zusammen, behält aber ihren schein. die maschine misst kaffee ab, gluckert im inneren, sondert den kaffeesatz ab. ich wecke meine kinder, sage alltägliche worte, aber meine welt wird in schutt und asche gelegt, langsam wie im kino. von außen ist mir fast nichts anzumerken. ich fahre zur arbeit dank einer trägheitskraft, als ob nichts wäre, aber da ist das nichts. es schaut mich an, gleichgültig und mit ein wenig ekel.
                    
in dieser zeit sitzt mein vater im keller seiner garage, seine frau valja mit ihm, auch ihre tochter olena (meine schulkameradin), mit ihren drei hunden und vier katzen. oder ist es umgekehrt? valjas sohn, ein offizier, meldet sich ab und zu per sms mit einem „noch am leben“ und geht wieder offline. sie beruhigen mich, wenn ich sie endlich, dumm von angst, erreiche. zurück aus dem keller, frühstücken sie, rührei mit reichlich speck. zwiebeln dürfen auch nicht fehlen. sie lächeln „alles wird gut“. mein vater grinst: „hätt‘ nie gedacht, dass die hunde so furzen“. valja lacht: „ich? weg? nur über meine leiche“. olena lacht nicht, aber ihre stimme ist munter. zu munter. am ende zögern wir, zögern wir, zögern, das fenster des smartphones zu schließen.
                    
in dieser zeit bricht tanja mit ihren zwei kindern auf, sie soll die kinder über die grenze schaffen, ich werde sie auffangen. es ist aber zu spät, der raketenbeschuss ist mittlerweile flächendeckend. sie bleibt in der stadt, bei den eltern. sie sagt: „in der u-bahn sind wir eigentlich sicher“. ich habe eine karte für einen vortrag, es geht um die korrektur des falschen essverhaltens. wut überkommt mich, ich kann den alltag hier nicht mehr rechtfertigen, so selbstgefällig, komfortabel-verwöhnt, zynisch-theoretisierend er doch ist. ich muss mich mit viel mühe auf die arbeit konzentrieren, sie verliert nun endgültig ihren sinn. wobei doch nicht ganz – ich brauche das geld, um es in die ukraine zu schicken, weil tolik für seine verteidigungseinheit dringend taktische handschuhe benötigt. ich brauche es, weil hier geflüchtete familien angekommen sind und auch hilfe brauchen.

„solidarität wird von einer losung zur einzig möglichen lebensform“

gottseidank, zu dieser zeit fragt mich meine chefin: „brauchst du urlaub?“ – „ja, unbedingt“. ein guter freund gibt mir den schlüssel seines lagerhauses, in dem nun innerhalb einer woche hilfsgüter gesammelt werden, so viel, dass täglich ein lkw benötigt wird, um vieles in richtung grenze zu bringen, um anderes direkt im lager an geflüchtete zu verteilen. hier vor ort spricht es sich herum, schneller herum, als ein feuer sich im wind verbreitet. so viele bekannte und unbekannte menschen organisieren sich plötzlich zu einem bienenschwarm. das ist überwältigend. nur das macht in dieser zeit sinn. solidarität wird von einer losung zur einzig möglichen lebensform. zu hause drucke ich ein plakat aus, heute gehe ich wieder zur demo. die kinder fragen, warum sollen sie mit? ich erkläre es irgendwie „stellung nehmen... jeder ist allein... aber alle sind wir ein heer“ und so weiter. nicht, dass ich wirklich daran geglaubt hätte, es bringe etwas. ich deklariere es für mich: die welt aus herrschern und sklaven ist nicht mehr meine.

familienzerwürfnisse

in dieser zeit denke ich an meine oma, sie ist siebenundneunzig, lebt noch in russland, veteranin des „großen vaterländischen“ krieges. als kind habe ich sie sehr gemocht. schleichend entwickelte sie eine passion für putin, nun schimpft sie über „ukrainische faschisten“. den kontakt zu ihr habe ich schweigend beendet. meine tante ruft mich an, weil vater nicht mehr mit ihr spricht. ja, ich weiß. auch ich versuche, ihr die welt zu erklären: schwarz ist schwarz, weiß ist weiß, nein, ukrainer zerbomben nicht sich selbst, nein, die leichen sind keine dekoration, nein, ihr seid die angreifer und führt einen vernichtungskrieg gegen die ukraine, auf ukrainischem territorium. auch mir will sie keinen glauben schenken.

das perfideste an dem krieg seit 2014 ist die tatsache, dass er das unmögliche zum alltäglichen gemacht hat und damit jede mir bekannte anti-utopie übertroffen hat. fast jede vierte ukrainische familie (ich las kürzlich eine soziologische umfrage) ist nicht mononational. das bedeutet: gemischte familien von ukrainer*innen, russ*innen, juden/jüdinnen, belaruss*innen, tatar*innen und viele andere wurden seit 2014 unter eine zerreißprobe gestellt. und ja, viele familien sind jetzt zerrissen, endgültig. in meiner familie verlief alles noch glimpflich – ich habe keinen kontakt mehr mit einer tante von mir und meiner oma. für mich persönlich ist es „nur“ bitter. die geschichte von meiner studienfreundin, die ursprünglich aus der region chernihiv kommt, wo ihre familie immer noch lebt, ist tragisch: in dnipro gab es keine arbeit für sie, sie ging, wie viele damals, nach moskau, irgendwann hat sie dort einen russen geheiratet und bekam ihre zwei kinder. seit der annexion der krim war der schwiegersohn nicht mehr willkommen, weil er auch die meinung „krim-nasch“ teilt (russischer slogan „die krim gehört uns“). dann besuchte meine freundin ohne mann, aber mit den kindern, in den ferien ihre mutter, während vater und bruder sie als „verräterin“ sahen. sie trägt auch viel groll auf die familie in sich und schlussendlich auf die ukraine – zum ersten kann man der propaganda in russland nicht entkommen, zum zweiten ist ihre familiäre geschichte alles andere als rosig. in den letzten wochen wurde ihr gesagt, dass sie nie wieder nachhause kommen darf, sonst kommt ihr eine heugabel entgegen. ich versuche es nüchtern aufzuschreiben, aber mich schaudert es vor dem verfahrenen konflikt, den der krieg zu einem gordischen knoten gemacht hat.

„der krieg hat meine muttersprache geschändet“

in dieser zeit schwört meine schwester, nie wieder russisch zu sprechen. ich kann es gut nachvollziehen. нажаль (nazhal, leider, ukr.), ist unser ukrainisch grottenschlecht, wir lebten östlich des dnipro, wo fast alle russisch sprachen, niemals deswegen bedrängt. das ist auch eine katastrophe, meine kleine, egoistische katastrophe – der krieg hat meine muttersprache geschändet. schon vor acht jahren schrieb ich „zu meiner muttersprache habe ich mittlerweile ein zwiespältiges verhältnis. ich wuchs in einem land auf, welches es nicht mehr gibt. ich wanderte aus dem land aus, das vom mutterspracheträgerland überfallen wurde. kann die sprache was dafür? – nein, kann sie nicht.“ aber das schreiben und sprechen auf russisch fühlte sich schon damals nicht richtig an, wie ein kiesel im schuh, ein sandkorn im auge. jetzt ist es kein kiesel mehr, ein harter brocken ist es geworden.

wie ein teenager, der seiner mutter vieles vorzuwerfen hat, beschränke ich mich auf meine deutsche „pflegemuttersprache“. ist es ein akt der befreiung? eher ein akt der verzweiflung. meine „pflegemuttersprache“ ist gut zu mir, ich fühle mich sowohl hierzulande als auch in der deutschen sprache geborgen und heimisch, aber was mache ich nun mit dem anderen teil meines selbstverständnisses? bücher, die ich las, filme, die ich sah, lieder, die ich sang, witze, über die ich lachte – seit dem kriegsanfang ist alles mit einer üblen schicht überzogen, mit grauen beschmiert.

russische und ukrainische kultur

in dieser zeit bleibt mir von der „russischen kultur“ nicht viel übrig. sie war nicht imstande das volk von katastrophalem verbrechen abzuhalten (wieder einmal), mutierte zu einem schirm, der die expansion des „großrussischen“ denkens verschleierte. die russische literatur verbreitete seit jahrhunderten mal ganz offiziell, mal unterschwellig, das verachtende gehabe gegenüber allen benachbarten völkern. sie seien allesamt „kleine brüder“ und müssten dementsprechend klein gehalten werden. bevor es mit der sogenannten russischen kultur weitergehen kann, muss sie einen weg zur reflexion finden und endlich umdenken. ich weiß, wovon ich spreche. ich selbst war in zeiten meines studiums in dnipro stolz, dass ich „hochrussisch“ sprach, mir kam damals nicht in den sinn, die ukrainische sprache zu lernen. ich lebte fünfzehn jahre in der ukraine und lernte die sprache des landes nicht – man verstand sich auch so. praktisch gesehen war es nicht nötig. ich, wie viele andere russischsprachige, hatten kein interesse an der ukrainischen kultur und literatur und kein lehrer in der schule hat jemals angeboten, ein buch auf ukrainisch zu lesen. die herrschende kulturelle landschaft hielt es für zweitrangig, etwas für provinzielle freaks und im grunde total überflüssig. wenn ich jetzt zurückdenke, sehe ich darin den puren kolonialismus. heute schäme ich mich für mein damaliges desinterresse, die nicht vorhandene neugier. wie kann ich es jetzt gut machen? ukrainisch lernen? mich auf russisch und deutsch für die ukrainische literatur einsetzten? ich habe werke von ukrainischen dichter*innen und schriftsteller*innen unserer zeit kennen und lieben gelernt, sie sind authentisch, aktuell, direkt und haben eine besondere schärfe. aber brauchen sie mich? wohl kaum. ich denke oft darüber nach, was ich überhaupt für das land machen kann, zu dem ich gehöre – und nicht gehöre.

die freie kunst hat die kraft, neue welten zu erschaffen

in dieser zeit wird mir zunehmend klarer, dass gewalt nur gewalt erzeugt und dass die gewaltspirale ein ende haben muss. ich sehe es ein, theoretisch. aber ich sehe keine lösung in der situation. in der vielfalt läge doch so ein immenses potential, was hätte ich dafür gegeben, mentale grenzen und gefängnisse abzuschaffen. vielleicht ist es das, was die kunst zu bewerkstelligen vermag. allerlei institute, die regeln aufsetzen, sind gezwungen zu moralisieren, vorzuschreiben, „vorbild“ zu sein, zu urteilen. die freie kunst aber hat die kraft, zu klären, ohne zu belehren, zusammenzubringen, ohne zusammenzupferchen, zu mischen, zu verschmelzen, zu kitten, ohne chaos zu stiften – und neue welten zu erschaffen.

in diesen zeiten, wie auch in allen anderen, ist auf nichts verlass. die welt ist nicht ein festes gebilde, sie besteht aus fragilen sätzen. bloß lasst uns die menschlichkeit als konstante deklarieren. lasst uns machen, was gemacht werden kann. lasst uns hoffen wie atmen, auch wenn es manchmal hoffnungslos ist.

Portrait von Julia Grinberg

Die Schriftstellerin, Übersetzerin und Lyrikerin Julia Grinberg ist in der UdSSR geboren und in der ehemaligen DDR und später in der Ukraine, wo sie Chemie studierte, aufgewachsen. Seit 2000 wohnt sie bei Wiesbaden. Sie veröffentlichte Werke in russischen und ukrainischen Magazinen, auf Deutsch bei Fixpoetry und Signaturen, sowie gedruckt in Mosaik, außer.dem, Ostra-Gehege und in den Anthologien „all over heimat“, „Seitenstechen“, „Jahrbuch der Lyrik 2021“. Übersetzungen aus dem Russischen auf lyrikline.org. Ihr Debütband „kill-you-darlinge“ ist im Herbst 2019 im Gutleut-Verlag erschienen. Sie ist Mitglied der Darmstädter Texwerkstatt von Kurt Drawert.