Dem Krieg etwas entgegensetzen

Interview

Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist und wurde in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren. Im Interview analysiert er die Rhetorik Putins und die Verfasstheit der heterogenen russischen Gesellschaft, spricht über Widerstände und oppositionelle Kräfte und beschreibt seine eigenen Versuche, dem Krieg etwas entgegenzusetzen.

Schwarz-weiß Portrait von Alexander Estis
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Schriftsteller Alexander Estis

Safiye Can und Hakan Akçit: Lieber Alexander, du wurdest in Russland in einer jüdischen Familie geboren und bist 1996 mit deiner Familie nach Hamburg übergesiedelt. Vor mehr als fünf Monaten begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine und täglich erreichen uns Bilder von Gräueltaten an der ukrainischen Bevölkerung und der Zerstörung von Städten durch das russische Militär. Wie hast du die ersten Stunden des Krieges erlebt und was empfindest du angesichts der schrecklichen Nachrichten aus der Ukraine?

Alexander Estis: Wie die meisten Menschen aus meinem Freundeskreis war ich in einer Art Schockstarre und konnte mich tagelang nicht vom Bildschirm lösen. Zwar hatte ich die Möglichkeit eines russischen Angriffs nicht ausgeschlossen – wenn man das System Putin kennt, weiß man, dass eigentlich alles denkbar ist –, hielt die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios aber für nicht sehr hoch.

Nun muss ich noch erwähnen, dass der Großteil meiner Familie aus der Ukraine stammt, aus einem typischen jüdischen Schtetl, wie es sie noch bis zum Zweiten Weltkrieg gab. Heute ist es die Stadt Chmylnik bei Winnyzja. Die meisten Familienmitglieder haben sich dann über die Welt verstreut, aber einige leben nach wie vor in der Ukraine, in Kiew. Zu Kriegsbeginn war ich in ständigem Kontakt mit den Kiewer Verwandten – soweit das möglich war, denn sie mussten sich immer wieder im Parkhaus verstecken. Einige von ihnen sind dann geflohen, andere geblieben.

Unsere Familie, darunter auch mein Vater, ist schon einmal nur knapp aus Kiew entkommen, 1942, während des deutschen Bombardements, damals evakuierte man sie nach Russland. Die Nachfahren mussten jetzt in einer Art schrecklicher Wiederholung – und zugleich Umkehrung – der Geschichte wieder vor den Bomben fliehen, nun allerdings in die andere Richtung. Inzwischen wurde auch Winnyzja bombardiert, in deren Umkreis das ehemalige Stetl Chmylnik liegt, wo mein Vater aufgewachsen ist und woher meine Vorfahren stammen. Dies und alles andere, was sich nach dem 24. Februar ereignete, hat mich in tiefste Bestürzung versetzt.

Zugleich verfolgte ich die Mitteilungen der russischen Pressedienste: Ein repressives Gesetz nach dem anderen wurde erlassen, um jeglichen Widerstand und jegliche unabhängige Berichterstattung im Keim zu ersticken. Angesichts dieser Meldungen empfand ich eine kaum aushaltbare Wut, gepaart mit dem Gefühl vollkommener Ohnmacht, und aus diesem Ohnmachtsgefühl heraus begann ich, diese Meldungen zumindest zu übersetzen. Erst nach und nach gelang es mir dank dieser und weiterer Übersetzungen, daneben auch dank einiger Arbeiten für die Presse, mich aus der anfänglichen Starre zu lösen und mir zu sagen: Ich muss zumindest das Wenige tun, was ich tun kann.

Was genau ist „das Wenige“, das du also Autor gegen den Krieg in der Ukraine aktuell tust?

Ich fürchte, das ist so wenig, dass man es nicht einmal erwähnen dürfte. Dank meiner Russischkenntnisse (und rudimentärer Ukrainischkenntnisse) konnte ich ein paar fliehenden Menschen behilflich sein, hier und da Personen miteinander in Kontakt bringen, einigen ukrainischen und regimekritischen russischen Koleginnen und Kollegen Publikationsmöglichkeiten vermitteln. Im Hinblick auf dies Letztere bin ich sehr dankbar für das Projekt #FreeAllWords. Darüber habe ich mich immer wieder mit Nina George ausgetauscht, der Präsidentin des European Writer’s Council, unter dessen Schirmherrschaft dieses Projekt steht. Es soll vor allem ukrainischen und belarussischen Autorinnen und Autoren honorierte Veröffentlichungen ermöglichen.

Dass meine eigene publizistische und literarische Tätigkeit überhaupt etwas gegen den Krieg helfen könnte, glaube ich leider nicht. Sie ist mehr Ausdruck des Wunsches, dem Krieg etwas entgegenzusetzen, hier und da natürlich auch zu informieren, das Bild zu nuancieren, bestenfalls einige schiefe Auffassungen zu korrigieren. Vor allem habe ich versucht, über die innerrussischen Realitäten zu schreiben, die zu dieser Katastrophe beigetragen haben und weiterhin beitragen. Aber zugleich auch den Widerstand zu zeigen, den es in Russland noch immer gibt, auch wenn er sich in der dortigen Öffentlichkeit mit jedem Tag weniger artikulieren kann und zusammen mit den russischen Auswanderern zunehmend ins Ausland migriert.

Der russische Präsident Putin spricht von einer "Spezialoperation" und betont immer wieder, dass die Ukraine "entnazifiziert" werden soll. Gleichzeitig befinden sich aktuell über 9 Millionen Ukrainer*innen auf der Flucht und es werden weiterhin Städte zerstört und Zivilist*innen getötet. Was sagt diese Form der Rhetorik über Putin und sein Regime aus?
 
Die Reizvokabeln »Nazisten« und »Faschisten« als stigmatisierende Markierungen des Feindes funktionieren in Russland außerordentlich gut, denn sie bekräftigen das Narrativ von den Russen als antifaschistischen Befreiern. Der Sieg über den Faschismus im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg bildete ein konstitutives Merkmal der sowjetischen Identität. In der putinistischen Ideologie, die ein widerwärtiges Potpourri aller möglichen russischen Chauvinismen darstellt, wird die Lizenz zur Faschismusbekämpfung von der multinationalen Roten Armee der Sowjetunion – die sich selbstverständlich aus einer enormen Vielheit von Ethnien rekrutierte, auch aus Ukrainern – unmittelbar auf das nationale Militär des postsowjetischen, neuimperialistischen Russlands übertragen. Wenn daher die russische Führung behauptet, in der Ukraine gegen den Nazismus zu kämpfen, mobilisiert sie ein gewaltiges identifikatorisches Potential – und erhebt die eigenen Streitkräfte in den Status einer von jeglichem Fehl erhabenen Heroik.

Dass der demokratisch gewählte Präsident der vermeintlich nazistischen Ukraine Jude ist, während Russland zu einem veritablen faschistischen Regime transformiert erscheint, stellt für diese Auffassung kein Hindernis dar. Ganz im Gegenteil: Auf diese Weise kann der immer schon mehr oder minder untergründig schwelende russische Antisemitismus in scheinbaren Antifaschismus transformiert und der berühmte großrussische Chauvinismus als solidarischer Befreiungsgedanke, der Krieg als eine Art Rettungsaktion (»Spezialoperation«) inszeniert werden, in deren Zuge das »Brudervolk« der Ukrainer »entnazifiziert« wird. Denn jene Nation, die den Faschismus besiegt hat, kann dieser pervertierten Logik zufolge per Definition nicht faschistisch sein.

Aus der Außenperspektive zeigt diese Rhetorik also auf erschreckend eindrückliche Weise, wie weit die Verdrehung der Wirklichkeit durch die Machthaber und deren Propagandamaschinerie gehen kann, ohne dass ein Großteil der Russen ihre Absurdität zu erkennen fähig oder willens wäre.

Hast du noch Kontakte zu Freund*innen und Bekannten in Russland? Kannst du aufgrund von Nachrichten und Gesprächen beurteilen, wie es sich mit der Relation von Unterstützer*innen Putins und seiner Kritiker*innen verhält?

Ich habe einen großen russischen Freundeskreis, und innerhalb dieses Freundeskreises kenne ich keine einzige Person, die Putins Herrschaft akzeptieren, geschweige denn den Krieg befürworten würde (bis auf eine mir nur flüchtig bekannte, nun offenbar durchgedrehte und von der Propaganda indoktrinierte ältere Dame auf der Krim). Das ist kein Wunder, denn erstens wäre ich auch schon vorher kaum in der Lage gewesen, mich mit Menschen anzufreunden, die solche Ansichten vertreten, zweitens komme ich aus einer schon seit der Sowjetzeit oppositionell geprägten, von den Behörden drangsalierten und von den Geheimdiensten beobachteten Familie mit entsprechendem Umfeld. Viele meiner Freunde sind in oppositionellen Medien tätig oder engagieren sich gegen das Regime. Mein Cousin, der vor wenigen Wochen verstorben ist, war einer der bekanntesten Bürgerrechtler Russlands. Er und seine Kollegen waren seit Kriegsbeginn furchtbarstem Druck ausgesetzt, manche glauben sogar, dass er vergiftet wurde, was mindestens im übertragenen Sinne zweifellos zutrifft.

Jedenfalls bietet mein Freundeskreis sicherlich keine repräsentative Stichprobe.

Der Zustimmung eines Großteils der russischen Bevölkerung scheint sich Putin gewiss zu sein und seiner Beliebtheit in Russland scheinen Kriege, wie aktuell gegen die Ukraine, und der Umgang mit Oppositionellen im eigenen Land auch nicht zu schaden. Würdest du dem zustimmen?

Dazu muss ich zunächst sagen, dass ich weder Soziologe noch Politologe bin, ebenso wenig habe ich mich vertieft mit Demographie und Statistik befasst. Ich spreche also aus einer laienhaften Perspektive, kann mich aber hier und da auf Meinungen von Experten stützen, mit denen ich gesprochen habe.

Wenn man etwas über »Russland« sagt, muss man immer bedenken, dass dieses Land auf extreme Weise heterogen ist – und was für den jungen mittelständischen Moskauer das eine bedeutet, kann für die arme Pensionistin in Wladiwostok das genaue Gegenteil heißen. Und doch – so tragisch es ist – kann man nicht leugnen, dass es eine breite Unterstützung Putins gibt. Die einzige Statistik, die wir dazu haben, beruht auf einer Umfrage des sog. Lewada-Zentrums. Und sie zeigt, dass Putins Politik sich bei 80 Prozent der Bevölkerung einer Zustimmung, wenn nicht gar Bewunderung erfreut – und dass seine Beliebtheit damit nach Kriegsbeginn beträchtlich zugenommen hat. Sicherlich muss man hier gewisse Abstriche machen, denn die Menschen sind verängstigt und eingeschüchtert, sie fühlen sich bei einer Umfrage wohl kaum frei in ihren Antworten. Doch selbst unter Berücksichtigung einer starken Messungenauigkeit bleibt dies ein ungeheuer hoher Wert.

Die Beliebtheit Putins hängt zweifellos zu einem großen Teil an der Macht der Propaganda und der Abschottung der Menschen von alternativen Informationsquellen. Dennoch gibt es auch große Teile der Bevölkerung, die zwar Zugang zu unabhängigen Daten haben und der Propaganda womöglich sogar misstrauen – nur misstrauen sie schlichtweg allen Nachrichten, und zumal auch den westlichen Medien, weil sie inzwischen daran gewöhnt wurden, in einer »postfaktischen« Medienlandschaft zu leben, in der alles behauptet werden kann – und das Gegenteil von allem. »Der Kreml lügt, natürlich, aber die Ukraine und der Westen sind ja auch nicht besser«, heißt es da etwa. Leider haben, wie ich befürchte, auch Figuren wie Trump ihre Rolle gespielt in dieser erbärmlichen Tragödie der Wahrheitserosion.

Also hält man Putin weiterhin die Treue, weil der Westen „auch nicht besser“ ist. Oder gibt es auch andere Gründe?

Für Teile der Bevölkerung trifft das zu, andere sehen den »maroden Westen« (so ein jahrhundertealtes Klischee) propagandakonform als den Feind, weshalb sie gerade im Fall von Krieg und äußerer Bedrohung patriotisch gegen diesen Feind zusammenstehen: »Wenn Krieg herrscht, übt man keine Kritik«, so das Motto. Das erklärt wohl teilweise die gerade in Krisenzeiten regelmäßig steigende Beliebtheit Putins – eine Gesetzmäßigkeit, die er natürlich genau kennt und ausnutzt.

Daneben scheint mir in Russland seit jeher eine große politische Trägheit und eine Tendenz zu privatistischem Denken zu herrschen. Viele Russen wollen ihre private Höhle um keinen Preis verlassen – sei ihre Höhle auch in Wahrheit ein Käfig. Diese Selbsteinkerkerung gründet nicht zuletzt darin, dass vor dem Käfig schon immer der Dompteur mit einem Dressurstab lauert, um sie damit zu malträtieren, sobald sie sich auch nur einen Zentimeter hervorwagen.

Auf den gestürzten martialischen Zaren folgte in Russland in der Regel ein bestialischer Zar, Revolutionen – ob sie nun reüssierten oder nicht – endeten mit endlosem Blut, und das Unrechtsregime wurde bestenfalls durch ein Regime des Unrechts ersetzt. Ständige Beschneidungen ihrer Freiheit haben die Russen zu erdulden gelernt, im Laufe mehrerer Jahrhunderte, in denen die Dompteure sie zu einer stumpfen Verfügungsmasse konditioniert haben.

Russland ist daher nicht einfach ein Schurkenstaat, sondern mehr noch ein Schergenstaat: Darin regieren Heere von Handlangern, die sich selbst aus der entmündigten und verschreckten Verfügungsmasse rekrutieren – nur um diese weiterhin in Schach zu halten. So ergibt sich ein Kreislauf des Grauens.

Und dennoch gibt es mutige Menschen in Russland, die trotz möglicher Repressionen zum Widerstand aufrufen. Siehst du eine Chance, dass in naher Zukunft der Widerstand innerhalb der Bevölkerung gegen das Regime zunimmt und vielleicht sogar das Ende der Ära Putins einläutet?

Tatsächlich sieht man Anzeichen dafür, dass die Unterstützung Putins zurückgeht – einigen neuen Umfragen zufolge soll die Zahl der Kriegsbefürworter sinken und inzwischen »nur noch« etwa die Hälfte der Befragten betragen. Und auch die Menge derjenigen Menschen, die dem staatlichen Fernsehen und der Propaganda vertrauen, scheint zurückzugehen.

Selbstverständlich gibt es nach wie vor auch mehr oder minder offenen Widerstand und Protest in Russland. Aber er wird durch drakonische Maßnahmen unterdrückt. Selbst einen Aufruf zu einer Demonstration zu verbreiten scheint kaum noch möglich. Und wenn Menschen sich zu einer Protestaktion versammeln wollen, ist die Polizei meist schon mit einem Großaufgebot vor Ort und steckt alle direkt in Polizeibusse. Darüber, wie die russischen Behörden gegen jeglichen Widerstand vorgehen, habe ich kürzlich einen Artikel für die NZZ geschrieben; daraus geht hervor, dass zielgerichteter Gruppenprotest in Russland eigentlich nicht mehr möglich ist. Dennoch gehen Menschen weiterhin auf die Straße, auch wenn sie wissen, dass sie dafür eingesperrt, geahndet und möglicherweise zu jahrelanger Haft in der Strafkolonie verurteilt werden. Für diese Menschen sind Prügel, Bußgelder oder Freiheitsentzug weitaus leichter zu ertragen als die Vorstellung, untätig zu bleiben, während ihr Land Krieg führt.

Selbst wenn größere Demonstrationen möglich wären, bleibt allerdings unklar, was sie gegen das Regime ausrichten könnten – es sei denn, sie wären militärisch unterstützt. Ansonsten ist ein Regimewechsel wohl nur dann realistisch, wenn sich die Eliten gegen Putin stellen. Die relevante Elite besteht aber nicht mehr aus den Oligarchen, wie im Westen oft noch fälschlicherweise angenommen wird. Die klassische Oligarchie ist in Russland meinem Verständnis nach ein Übergangsphänomen der Neunzigerjahre gewesen, letztlich eine historische Marginalie. Die Oligarchie hat nur dort überlebt, wo sie sich mit pseudoföderalen und geheimdienstlichen Strukturen verbandelt hat. Wie gesagt hat Putin einen Schergenstaat etabliert (genauer gesagt: reetabliert, denn er ist offenbar die eigentlich natürliche Staatsform Russlands, in die es immer wieder zurückfällt); und dieser wird nicht von einer Wirtschaftselite, sondern von einer geheimdienstlichen und quasimilitärischen Nomenklatura getragen, die auf Putins Person eingeschworen ist und in gleichen Mustern denkt.

Auch aufs Ganze gesehen haben sich sämtliche Eliten im Laufe der Zeit so sehr von der übrigen Gesellschaft abgespalten – selbst vom Mittelstand, geschweige denn von der völlig verarmten Landbevölkerung –, dass man nur schwer auf sie Druck ausüben kann. Dennoch muss man es mit allen Mitteln versuchen.

Alexander Estis sitzt an einem Tisch und liest aus einem Buch

Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren; 1996 siedelte er mit seinen Eltern nach Hamburg über. Nach Abschluss des Studiums in deutscher und lateinischer Philologie arbeitete er als Dozent für deutsche Sprache und Literatur an verschiedenen Universitäten. Seit 2016 lebt er als freier Autor in Aarau (Schweiz).

Seine Texte werden in Anthologien und Zeitschriften publiziert; außerdem verfasst er Essays, Glossen und Kolumnen (u.a. für Die Zeit, Deutschlandfunk Kultur, NZZ). Ferner übersetzt er Lyrik und Prosa aus dem Russischen und Lateinischen. Im Herbst 2022 erscheint als sein sechstes Buch die Prosasammlung »Fluchten«.

Alexander Estis ist Mitglied der Vereinigung Autorinnen und Autoren der Schweiz, des PEN Berlin und des Exil-PEN. Für seine Texte erhielt er mehrfach Auszeichnungen und Stipendien; derzeit ist er Stadtschreiber von Heilbronn.

 

Wie beurteilst du die Reaktionen und Sanktionen der Weltgemeinschaft gegen Russland? Können sie Putin stoppen?

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Sanktionen den engeren Kreis um Putin wirklich empfindlich treffen, halte ich für ziemlich gering, und dennoch – ich wiederhole mich – muss man es versuchen. Zielführend scheinen mir vor allem Sanktionen, die gegen eng umgrenzte Personengruppen, staatliche Institutionen und große Konzerne gerichtet sind.

Wenn hingegen die weniger wohlhabenden Schichten in der Folge der Sanktionen weiter verarmen, spielt das dem System Putin aufs Schönste in die Hände. Denn die russische Bevölkerung konzentriert sich in einem solchen Fall noch stärker auf das tägliche Überleben und fügt sich in ihr Los, während sie sich zugleich in verbittertem Trotz am nationalistischen Großmachtdenken und an der Verherrlichung der starken Führerpersönlichkeit Putin aufrichtet. Darüber hinaus bekommt sie einen augenfälligen Anlass serviert, den Westen zu verachten; Putin kann alles Übel auf die Machenschaften westlicher Feinde schieben und die Erzählung davon bekräftigen, alle Welt habe sich gegen Russland verschworen und die Russen müssten daher gerade jetzt zusammenstehen. So steigt, wie schon beschrieben, seine Beliebtheit, anstatt zu fallen. Das ist zwar ein kurzfristiger Effekt, der sicherlich nicht auf Dauer wirkt, wenn die Bevölkerung hungert; aber Putin lässt sich eben ständig eine neue Krise, eine neue Katastrophe, einen neuen Krieg einfallen. Ich denke also, dass man allgemeine Sanktionen sehr genau abwägen sollte, gezielte Sanktionen aber maximieren.

Welche weiteren Schritte im Hinblick auf Russland würdest du präferieren?

Ich glaube, dass es enorm wichtig ist, hier im Westen nach Wegen zu suchen, wie die russische Opposition unterstützt werden kann, zumal sie sich nun in der Emigration neu formiert. Einerseits kann man das Potential und die Expertise der Ausgewanderten nutzen, um die russische Führung und Bevölkerung besser einschätzen zu können. Ihr Wissen ist gerade auch in der Frage unersetzlich, wer wie sanktioniert werden sollte oder auch wie und wo die Schergen des Regimes ihre Besitztümer verstecken, wo ihre potentiellen Schwachpunkte liegen.

Andererseits muss man eruieren, wie diese oppositionellen Kräfte aus dem Westen wieder nach Russland zurückwirken können. Dazu gehört für mich insbesondere auch die Förderung regimekritischer Exilmedien, die auch weiterhin zu ihrem Auditorium in Russland finden.

Wenn du dich direkt an das russische Volk wenden könntest, was würdest du allen Russ*innen sagen?

Ihr seid eines Tages in einem faschistischen Staat aufgewacht, aber Ihr wollt Euch den Schlaf nicht aus den Augen reiben, nicht aus dem Bett steigen, nicht vor den Spiegel treten. Ihr versucht, weiterzuschlafen. Wacht auf.