Alle Teile der Gesellschaft müssen gesehen und gehört werden

Interview

Seit einem Jahr ist Misbah Khan Mitglied des Deutschen Bundestags für die Partei Bündnis 90/Die Grünen. Im Interview zieht sie eine erste persönliche Bilanz, erzählt uns von ihren Arbeitsschwerpunkten und spricht über die Hürden für Repräsentation und politische Teilhabe marginalisierter Gruppen.

Portrait von Misbah Khan

Misbah Khan ist studierte Politikwissenschaftlerin und erstmals seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags für die Partei Bündnis 90/Die Grünen. Als Abgeordnete ist sie ordentliches Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat sowie im Ausschuss für Digitales. Stellvertretend betreut sie außerdem den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Von November 2019 bis März 2022 war sie bereits Landesvorsitzende der rheinland-pfälzischen Grünen.

Ngoc Bich Tran: Du bist seit etwa einem Jahr Abgeordnete im Bundestag. Wie sah dein Leben davor aus?

Misbah Khan: Ich bin in Karatschi, Pakistan, geboren, mit vier nach Deutschland gekommen und in einem kleinen Dorf in der Pfalz großgeworden. Meine ersten wichtigen Berufsstationen waren bei der Landeszentrale für politische Bildung und dann für eine Obere Landesbehörde zu den Themen Extremismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Von 2019 bis März dieses Jahres war ich Landesvorsitzende der rheinland-pfälzischen Grünen. Das heißt, ich war, bevor ich in den Bundestag gekommen bin, bereits zwei Jahre Berufspolitikerin.

Welche Bilanz ziehst du nach diesem Jahr für dich? Was hat sich seitdem in deinem Leben und deiner Arbeit verändert?

Ich würde sagen, mein Alltag ist nicht groß anders, als ich dachte. Ich glaube, viele erwarten, dass man davon so ganz überrascht wird, aber bei mir war das nicht so. Ich bin mit 18 Jahren den Grünen beigetreten und mit 31 in den Bundestag gewählt geworden. Ich habe vor meinem Mandat viel ehrenamtlich und beruflich politisch arbeiten können. Ich wusste also, was auf mich zukommt.  

Aber was ich für mich total spannend finde und so nicht erwartet hätte, ist, dass ich nach einem Jahr manchmal immer noch nicht ganz fassen kann, was ich da jetzt eigentlich machen darf und wie privilegiert ich bin, politische Verantwortung übernehmen zu dürfen. Ich habe jedes Mal einen Endorphinschub, wenn ich die Betongebäude im Regierungsviertel sehe. Für mich ist es der schönste Beton der Welt. Ich hoffe, dass diese Dankbarkeit nie aufhört. Ich meine, es hat sich ein Mann in den Fünfzigern irgendwann dafür entschieden, vom anderen Ende der Welt nach Deutschland zu ziehen und heute sitze ich deshalb im Bundestag. Wo und wie wäre mein Leben, wenn das nicht passiert wäre? Ich bin mir dieser Situation sehr bewusst.

Wann war für dich der Moment, in dem du für dich entschieden hast, in die Politik zu gehen?

Ich weiß es nicht so ganz genau, ehrlich gesagt. Für manche Menschen gibt es ja den Moment. Ich glaube, für mich gab es den Moment nicht so wirklich, sondern ich habe einfach im Teenageralter – so wie alle anderen – angefangen, mich mit mir und der Gesellschaft zu beschäftigen. Und ich habe mich viel geärgert über Ungerechtigkeiten in der Welt und irgendwann dann entschieden, mitzumachen und progressive Politik unterstützen zu wollen.  

War für dich von Anfang an klar, welcher Partei du beitreten wirst?

Anfangs dachte ich ehrlich gesagt nicht, dass ich mal eine Grüne werde. Ich hatte so ein ganz seltsames, verworrenes und stereotypes Bild davon, wer Grüne sind und was Grüne machen. Für mich waren das so Birkenstock tragende Müsli-Esser. Und ich war weder Birkenstock tragend noch habe ich Müsli gemocht. Ich habe aber auf dem Mitte-Links Spektrum für mich keine andere Alternative gesehen und bin dann deshalb doch den Grünen beigetreten. Ich dachte, ich probiere es jetzt und wenn es mir nicht gefällt, bin ich in einem halben Jahr wieder raus. Ich bin aber, wie man sieht, hängen geblieben. Ich trage jetzt übrigens auch Birkenstockschuhe und esse Müsli – aber das hat wenig mit der Partei zu tun.

Was hat dich bei den Grünen überzeugt?

Für mich waren die richtigen Werte ein Faktor: Welche Werte möchte ich in die Politik tragen oder von der Politik widergespiegelt sehen? Was mich motiviert hat, bei den Grünen beizutreten, waren drei Faktoren: Ich bin eine junge, migrantisierte Frau mit muslimischer Sozialisation. Ich habe also erstens meine Wahl danach sortiert, welche Narrative und welchen Umgang die jeweiligen Parteien mit diesen Identitätsmerkmalen haben. Ich wollte mich bei meinem politischen Zuhause nicht über rassistische Äußerungen zum eigenen Vorteil, Stimmenfang oder wegen plumper Insensibilität ärgern müssen.

Zweitens habe ich, durch die Tatsache, dass ich Familie in Pakistan habe, schon immer eine krasse Schere zwischen Arm und Reich gesehen, die dort nochmal in einer anderen Perversion existiert als in Deutschland. Und mir war deshalb wichtig, dass die Partei, für die ich aktiv sein möchte, eine Partei ist, die ihre Werte nicht an der nationalen Grenze abgibt, sondern ihre Werte auch global denkt. Und ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass bei den Grünen die Würde des Menschen eben nicht nur die Würde des deutschen Menschen bedeutete, sondern auch die des Syrers oder des Inders oder wessen auch immer.

Und zum Schluss glaube ich, haben wir Grünen als einzige Partei wirklich verstanden, dass die Prämisse für soziale und gesellschaftliche Gerechtigkeit eine Politik ist, die nicht Raubbau betreibt an unseren Lebensgrundlagen – alles andere ist ein verkürztes Verständnis von Gerechtigkeit.

Mit welchen Themen beschäftigst du dich gerade und was möchtest du in der laufenden Legislaturperiode bewirken und verändern?

Als ordentliches Mitglied im Innenausschuss sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe darf ich für meine Fraktion am nächsten Arbeitsmigrationsgesetz arbeiten. Das heißt, ich will das Thema Arbeitsmigration und Fachkräfteeinwanderung so umstrukturieren, dass es den faktischen Bedürfnissen in Deutschland entspricht und eine Willkommenskultur etabliert, die wir in Deutschland noch nicht haben. Das ist eines der beiden großen politischen Vorhaben, die die Ampel im Bereich Migration und Integration hat. Das zweite ist das Staatsangehörigkeitsrecht, das wir in dieser Legislatur anpassen werden.

Ich bin für meine Fraktion auch für das Thema Rechtsextremismus zuständig, darüber freue ich mich sehr. Die Arbeit gegen Rechte und gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist eine, die mir schon immer sehr wichtig war. Und ansonsten arbeite ich als Mitglied im Ausschuss für Digitales zu Themen der digitalen Identität, digitaler Staat/Verwaltungsmodernisierung sowie Transparenz. Ich finde, noch viel zu wenig ist angekommen, wie gesellschaftspolitisch relevant Digitalpolitik ist. An einer inklusiven und partizipativen Digitalpolitik will ich arbeiten.

Was sind für dich die größten Herausforderungen in deiner politischen Arbeit?

Die Herausforderungen sind vielfältig. Individuell betrachtet ist das einfach ein wahnsinnig anstrengender Job, das sind locker 80/90 Stunden die Woche. Und natürlich hat man da seine eigenen Ansprüche, denen man gerecht werden will, um wirklich gute Arbeit zu leisten. Das liegt vielleicht auch ein bisschen unterbewusst am Migrantisiertsein, dass ich das Gefühl habe, auch in irgendeiner Form Repräsentantin einer gesellschaftlichen Minderheit zu sein. Und anders als bei einem weißen, alten Mann kann das vielleicht auch mehr auf Gruppen zurückfallen, die genauso markiert sind oder gelesen werden wie ich, wenn ich die Arbeit nicht gut genug mache. Und an sich, auch davon abgesehen, will ich der großen Verantwortung und dem Privileg gerecht werden.

Und dann ist die Arbeit in der Ampelkoalition auch eine Herausforderung. Es gab noch nie eine Dreierkonstellation und wir sind zum Teil auch sehr unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Perspektiven, Werten und Prioritäten. Gleichzeitig haben wir global so viele Krisen auf einmal, die zu bewältigen sind. Und trotzdem kann ich mir gerade in Deutschland keine andere mögliche Regierungskonstellation vorstellen, die das besser machen würde, als wir.

Apropos Repräsentation: Wir wissen ja, dass der Bundestag bisher noch nicht divers aufgestellt ist und dieser die Gesellschaft auch nicht so wirklich repräsentiert. Was ist aus deiner Sicht der Grund dafür, dass besonders marginalisierte Gruppen Schwierigkeiten haben, an der Politik teilzuhaben?

Ich glaube, es gibt nicht die eine Antwort darauf, sondern es gibt unterschiedliche Faktoren. Rein faktisch ist Politik ein wahnsinnig elitärer Bereich und du musst überhaupt die Kapazitäten haben, dich in deiner Freizeit zu engagieren. Ich glaube, dass gesellschaftliche Minderheiten oft auch in so einem – ich nenne es mal – Selbstfürsorge-Prozess sind, was auch noch mal stärker Kapazitäten beansprucht als bei jemandem, der zur Mehrheitsgesellschaft gehört. Gleichzeitig trifft man immer wieder und überall, auf sichtbare und unsichtbare Hürden. Daran scheitert es zum Teil.

Es scheitert auch daran, dass Gruppen zum Teil nicht das Gefühl haben, willkommen zu sein. Politik impliziert manchmal, dass Teile der Gesellschaft nicht gesehen und nicht gehört werden. Wir müssen wahrnehmen und anerkennen, dass das ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, wenn Teile der Gesellschaft das Gefühl haben, ihre Perspektive sei nicht interessant für die Politik oder den Rest der Gesellschaft. Parteien machen nicht genug, um zu signalisieren, dass diese gesellschaftlichen Minderheiten gewünscht sind. Und da mag ich auch nicht alle Parteien über den Kamm scheren, da gibt es Unterschiede: Parteien, die Quoten haben, Frauenquoten zum Beispiel, oder welche, die keine haben, welche, die erkennen, dass es in dem Bereich eine Notwendigkeit zur Veränderung gibt und welche, die das Problem nicht sehen und sehen wollen. Und meine Partei – da bin ich wahnsinnig stolz drauf – hat seit 2020 ein Vielfaltsstatut. Und ich glaube, das ist vielleicht nicht die komplette Lösung des Problems, aber es ist das Signal anzuerkennen, dass es Ungerechtigkeiten gibt und gleichzeitig ein ernstzunehmender Versuch, strukturelle Hürden und Ungerechtigkeiten durch strukturelle Maßnahmen entgegenzuwirken.

Gleichzeitig sind viele ja auch extrem davon abgeschreckt, überhaupt in der Politik aktiv zu sein, weil sie Angst vor Anfeindungen haben. Hast du in deiner politischen Laufbahn damit schon Erfahrungen gemacht?

Ja, habe ich. Aber ich glaube, es wäre noch schlimmer, wenn ich anders aussehen würde, meine Haut, angenommen, noch dunkler wäre oder ich ein Kopftuch tragen würde. Ich kenne im Übrigen auch keine Berufspolitikerin mit Kopftuch. Aber gleichzeitig erlebe ich natürlich auch Anfeindungen insofern, dass ich fast täglich auf meinen Migrationshintergrund, mein Alter oder mein Geschlecht reduziert werde.

Wie gehst du damit um?

Unterschiedlich und tagesformabhängig. Wenn ich auf Personen treffe, bei denen ich eine Form von Reflexionsvermögen wahrnehme, versuche ich sie zu sensibilisieren. Was ich für mich aber gelernt habe ist, dass es gerade als politische Strategie meines Gegenübers sein kann mich zu reduzieren. Dann zeige ich Grenzen auf, dass ich so nicht mit mir umgehen lasse. Ich stehe dann zum Beispiel, nachdem ich ruhig darauf hinweise, dass ich so nicht mit mir reden lasse, auch einfach von einem Gespräch auf und gehe. Das führt oft zu einer Irritation meines Gegenübers, mit der sie überfordert sind.

Was motiviert dich? Gibt es denn konkret etwas, was dich morgens noch besser aus dem Bett bringt, um deinem politischen Alltag nachzugehen?

Ich glaube noch dran, dass Politik einen großen Einfluss auf Gesellschaft hat und ich will meinen Beitrag dazu leisten. Politische Arbeit ist mühsam aber gleichzeitig so wertvoll. Ich werde dafür bezahlt, meiner Leidenschaft nachgehen zu können. Ich bin auch sehr überzeugt davon, dass die nächsten drei Jahre eine faktische gesellschaftspolitische Veränderung zum Besseren für Deutschland und die Welt mit sich bringt. Und daran mitwirken zu können, das motiviert mich genug.

Welchen Rat hast du für junge Menschen of Color, die sich politisch engagieren möchten?

Traut euch. Und wenn ihr da seid, bildet eine Gruppe und supported euch. Findet like-minded People. Und ich glaube ehrlich gesagt auch, dass ich da bin, wo ich heute bin, weil ich mir bewusst Gruppen und Strukturen ausgesucht habe, die für Rassismus und Sexismus sensibilisiert sind. Ich musste dadurch zum Beispiel weniger Kraft darin investieren, mich gegen diskriminierende Hürden durchzusetzen, weil es immer wieder Safer Spaces gab, wo ich gleichwertig war. Und das hat es auch einfacher gemacht, heute hier zu sein. Deshalb: Traut euch und sucht euch Safer Spaces und wenn ihr sie nicht findet, macht Randale, bis sie gebildet werden.

Vielen Dank!