Hanau: „Zu viele Fragen bleiben offen“

Interview

Das rassistische Attentat in Hanau jährt sich am 19. Februar zum dritten Mal. Doch viele Fragen bleiben weiterhin offen, kritisiert Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die Hinterbliebene der Opfer in Hanau vertritt und bereits Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess war. Welche Kontinuitäten die Aufarbeitung in Justiz, Polizei und im Umgang mit Hinterbliebenen und Betroffenen offenlegt, erklärt sie im Interview.

Gedenkkundgebung für die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau, Menschen halten Schilder mit den Gesichtern und Namen der Opfer hoch
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Gedenkkundgebung in Hanau sechs Monate nach dem rassistischen Anschlag

Sarah Ulrich: Am 19. Februar jährt sich das rassistische Terror-Attentat in Hanau zum dritten Mal. In Hanau selbst gibt es eine Ausstellung zum Thema, die Geschehnisse, Versäumnisse und den Kampf der Hinterbliebenen nachzeichnet. Eine von der Initiative 19. Februar gestellte und auch in der Ausstellung prominente Frage ist: „Wer glaubt noch der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder einem Innenminister?“ Worauf gründet sich dieses Misstrauen in die Sicherheitsbehörden?

Seda Başay-Yıldız: Die Tatnacht war eine Nacht der Pannen – vor allem, was das Vorgehen der Polizei anbelangt. Das fängt damit an, dass der Notruf unterbesetzt war. Ich bin jetzt 19 Jahre lang Anwältin und ich hätte es nie für möglich gehalten, dass man in Deutschland bei einem Notruf nicht durchkommt. Nun war es tatsächlich so, dass eines der späteren Opfer versucht hat, den Notruf zu erreichen. Sowas sollte in Deutschland eigentlich nicht möglich sein. Herausgestellt hat sich das aber erst auf Drängen der Angehörigen hin. Das zweite ist die mangelnde Aufarbeitung. Es wird kein Versagen eingestanden, niemand übernimmt Verantwortung. Dabei sind Menschen gestorben. Das ist sehr unzufriedenstellend für die Angehörigen.

Ein Untersuchungsausschuss zu Hanau soll klären, ob es rund um die Tat zu einem Behördenversagen gekommen ist. Überlebende und Angehörige der Anschlagsopfer kritisieren die Arbeit etwa der Polizei teils heftig. Auch die Recherchegruppe hinter der Ausstellung, Forensic Architecture, hat neue Erkenntnisse ans Licht gebracht. Zum Beispiel, dass das Haus des Attentäters in der Tatnacht über mehrere Stunden nicht überwacht war.

Ja, oder die Frage mit dem verschlossenen Notausgang. Die wurde von den Angehörigen immer wieder aufgeworfen. Es war ein langer Weg, bis eingestanden wurde, dass dieser Notausgang zu war. Und es steht im Raum, dass das sogar von der Polizei im Vorfeld angeordnet wurde. Die Ermittlungsverfahren dazu sind eingestellt worden, aber es geht einfach darum, dass jemand die Verantwortung übernimmt – und es gibt sehr, sehr viele offene Fragen.

Welche Zwischenbilanz lässt sich aus dem laufenden Untersuchungsausschuss zu Hanau des hessischen Landtags ziehen?

Ja, Gott sei Dank gibt es diesen Ausschuss. Ein Strafverfahren gibt es ja nicht, daher ist es die einzige Möglichkeit, die Fragen der Angehörigen zu stellen. Aber man muss abwarten, zu welchem Ergebnis sie kommen. Ob dann auch die richtigen Konsequenzen gezogen werden, werden wir sehen. Man muss das zunächst abwarten. Die Erkenntnisse, die Forensic Architecture erarbeitet hat, wie beispielsweise, dass der Polizeihubschrauber in der Tatnacht gar nicht wusste, wo er hinfliegen soll, sind ja eigentlich Aufgabe von Polizeiermittlungen. Das Video des Hubschraubers soll im Untersuchungsausschuss ausgewertet werden – wurde nun aber als geheim eingestuft. Da werden Nebenschauplätze geschaffen, um vom eigentlichen abzulenken. Das ist ein Trauerspiel – und es tut mir leid für die Angehörigen. Es ist ein langer Weg, tatsächlich aufzuklären.

Erst kürzlich wurde entschieden, dass die Bundesanwaltschaft die Akten zum Attentat von Hanau ungeschwärzt an den Ausschuss herausgeben muss. Zuvor hatte der Ausschuss geklagt. Warum muss ein Untersuchungsausschuss erst klagen, um solche Akten zu bekommen?

Eigentlich dürfte das nicht der Fall sein. Vom Grundsatz her habe ich Verständnis dafür, dass sehr persönliche Daten und Informationen nicht einfach in Umlauf kommen und der Generalbundesanwalt (GBA) darauf achten muss. Aber in diesem Fall gibt es ja den Untersuchungsausschuss, der zentrale Fragen klären soll. Da versteht es sich nach meinem Rechtsempfinden von selbst, dass der GBA das Material zur Verfügung stellt. Aber dass jetzt ein Untersuchungsausschuss den Generalbundesanwalt verklagen muss – das ist schon ein peinlicher Vorgang. Und es ist frustrierend für die Angehörigen, weil sie nicht einmal ihren Frieden mit den offenen Fragen finden können.

Der Umgang mit den Hinterbliebenen wird von vielen Seiten kritisiert, beispielsweise auch in der Tatnacht. Die Angehörigen haben erst spät die Namen der Opfer erfahren, auch gab es keine muslimische Seelsorge. Gibt es Konsequenzen daraus? Welche Schritte wurden unternommen, um einen würdigen Umgang mit Opfern, Angehörigen, Betroffenen zu gewährleisten?

Zumindest wurde das versprochen. Es wird ja auch gesagt, dass die Polizei überfordert gewesen sei – aber das kann doch nicht die Antwort sein. Ich war auch im NSU-Prozess Nebenklagevertreterin und weiß daher, wie der Umgang der Polizei mit Angehörigen ist. Das hört sich hart an, aber: Der Umgang mit Angehörigen mit Migrationshintergrund ist einfach anders. Es gibt Opfer erster und zweiter Klasse. Da hat sich im Prinzip wiederholt, was schon im NSU-Verfahren passiert ist. Zwar sind die Opfer von Hanau nicht kriminalisiert worden, weil der Täter bekannt war. Aber der Umgang ist derselbe.

Inwiefern?

Angehörige der Opfer aus Hanau wurden angesprochen, weil von ihnen angeblich eine Gefahr ausgehen könnte für den Vater des Attentäters. Nun ist es so, dass der Vater Hinterbliebene verfolgt und anspricht und sehr aggressiv auftritt. Der Vater hatte ein inniges Vertrauensverhältnis zu seinem Sohn, teilt die Ideologie und hat widersprüchliche Aussagen zur Tatnacht gemacht. Da frage ich mich: Von wem geht hier eigentlich die Gefahr aus?

Der von Ihnen angesprochene NSU-Prozess, bei dem Sie als Nebenklägerin auftraten, endete vor nun vier Jahren – auch hier blieb die Aufklärung lückenhaft und die Akten wurden erst durch Medien veröffentlicht. Es gibt offensichtliche Kontinuitäten der rechten Gewalt ebenso wie des behördlichen Umgangs nach den Taten. Welche zentralen Punkte können Sie im Hinblick auf diese Kontinuitäten festmachen, an denen der Staat versagt hat?

Die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız vertritt Hinterbliebene der Opfer von Hanau. Zuvor vertrat sie bereits Angehörige im NSU-Prozess oder nach den Attentaten in München und Halle. Sie selbst wurde Opfer von Morddrohungen des sogenannten „NSU 2.0“, einer rechtsextremen Gruppierung, der auch Polizist*innen angehören.

Zum einen sind das die strukturell rassistischen Ermittlungen. Daran hat sich nichts geändert. Dann der Umgang mit den Familien in Hanau in der Tatnacht und danach, auch hier gibt es eine Kontinuität. Aber das wundert mich auch nicht, denn letztendlich wurde nie gesagt, dass es Fehler gibt, sondern immer kleingeredet oder von Einzeltätern gesprochen. Dabei sind es Strukturen. Die fehlenden Veränderungen zeigen sich sowohl auf Polizeiseite, als auch auf behördlicher Seite. Bis heute gibt es Hinterbliebene, die immer noch keine Ansprüche auf Opferentschädigung haben. Das war beim NSU auch schon so, dass die Angehörigen Nachweise dafür erbringen mussten, dass sie Opfer sind. Ich finde, das müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Auch zum Schutz vor Retraumatisierung.

Woran liegt die fehlende Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme?

Wir sind in einem Bundesland, in dem der politische Wille nicht gegeben ist. Es gibt hier in Hessen ständig Skandale um den Innenminister. Es gab ja nicht nur Hanau, sondern auch den Mord an Walter Lübcke oder den NSU 2.0. Es gibt etliche Chatgruppen innerhalb der Polizei, in denen rassistische Inhalte ausgetauscht wurden. Aber das hatte für niemanden Konsequenzen. Die Grünen geben nur vermeintlich Hoffnung. Sie sind zwar in der Regierungskoalition mit der CDU – aber den Untersuchungsausschuss haben Linke, SPD und FDP ins Leben gerufen. Strafrechtlich sind die Verfahren abgeschlossen – aber es ist eben auch sehr wichtig, das politisch gehandelt wird.

Sie haben von strukturell rassistischen Ermittlungen gesprochen. Von Expert*innen wird immer wieder kritisiert, dass die Sicherheitsbehörden Probleme mit strukturellem Rassismus haben. (Wie) lassen sich Institutionen überhaupt verändern, in denen Rassismus strukturell verankert ist?

Das ist schwer. Es müssen die richtigen Personen an den richtigen Stellen sitzen, das ist fast nie der Fall. Ein großes Problem ist auch, dass es keine unabhängigen Polizeibeschwerdestellen gibt. In sechs Bundesländern gibt es eine solche Stelle inzwischen – allerdings ermitteln außer in einem Fall auch dort wieder Polizisten gegen Polizisten. In Berlin ist es ein Richter. Aber ich finde, diese Beschwerdestelle muss komplett unabhängig sein und mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatten werden, um Akten anfordern, Vernehmungen führen und gegebenenfalls auch ahnden zu können. Ich habe es in den letzten 15 Jahren noch nie erlebt, dass es wirklich Konsequenzen bei der Polizei gab, wenn es zu gravierenden Fehlern gekommen ist. Das darf so nicht sein. Wir alle wollen eine funktionierende Polizei. Jeder Bürger hat ein Recht darauf, gleichbehandelt und gleich geschützt zu werden, wie es unsere Verfassung vorsieht. Aber es tut sich einfach nichts.

Auch Sie erhielten vom selbsternannten „NSU 2.0“, einer rechtsextremen Gruppierung, der auch Polizist*innen angehören, Morddrohungen. Ohne Konsequenzen für die Täter.

Seit August 2018 ist bekannt, dass es diese rassistische Gruppe innerhalb des ersten Reviers gab. Bis jetzt war kein Einziger der Beamten vor Gericht. Polizisten, die in einem Verfahren beschuldigt sind, werden nicht als Beschuldigte behandelt. Das ist einfach so – und es gibt keinen plausiblen Grund dafür. Jeder andere wäre schon längst verurteilt worden. Obwohl es ein so öffentlich diskutiertes Thema ist, wird das einfach ausgesessen. Politisch tut sich gar nichts.

Der kürzlich erschienene Report „Recht gegen rechts“ untersucht diese Problemlage. Auch Sie haben darin einen Beitrag geschrieben. Die Leitfrage formulieren die Autor*innen so: „Wie schützen der Rechtsstaat und seine Institutionen die Betroffenen von Verfolgung, Flucht, Rassismus, Antisemitismus und Misogynie 30 Jahre nach der Zäsur von Rostock-Lichtenhagen und mehr als zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des ,Nationalsozialistischen Untergrunds’?“ Können Sie darauf eine Antwort geben?

Meine persönliche Antwort ist: Wenig bis gar nicht. Das ist meine Einschätzung auch aus Verfahren, die ich in den letzten Jahren begleitet habe. Zu viele Fragen bleiben offen, es werden immer Einzeltäter statt Strukturen benannt, Akten werden nicht freigegeben. Wenn Aufklärung versprochen wird, dann geht es doch auch um das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Behörden, diese Aufklärung auch zu geben. Ich kann das auch juristisch überhaupt nicht nachvollziehen und es ist sehr schwer, das den betroffenen Familien zu erklären. Da fragt man sich eigentlich schon: Was muss eigentlich noch passieren?

Dabei hat die Bundesregierung ein Handeln gegen Rechtsextremismus angekündigt. Sogar im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, konsequenter gegen rechts vorzugehen. Wie bewerten Sie das, was schon getan wurde und was noch kommen soll?

Vieles davon ist Symbolpolitik. Für mich in meiner anwaltlichen Praxis wird sich da gar nichts ändern. Ich habe nach wie vor mit Beamten der Polizei und von Behörden zu tun, die Rechtsextremismus nicht ernst nehmen, die die Einzeltäterthese vertreten oder Akten nach wie vor geheim halten. Klar ist es gut, dass es zum Beispiel einen Tag gegen soll, der an die Opfer erinnert oder De-Radikalisierungsprogramme mehr unterstützt werden sollen, aber in meiner Praxis wird das nichts ändern.

Hat sich denn in der Vergangenheit seit den NSU-Morden etwas geändert?

Nein, es hat sich nichts verändert. Das habe ich an Hanau gesehen. Ich habe es immer wieder mit denselben Problemen zu tun.

Gibt es Forderungen an Polizei und Justiz die Sie formulieren können?

Das Allerwichtigste ist eine unabhängige Beschwerdestelle. Die Polizei kann ihre Probleme nur von innen heraus lösen. Sie muss von innen die Strukturen stärken, die Verstöße anzeigen und ahnden. Und wenn wir auf die Justiz schauen: Es ist auch ein Problem der Justiz, dass sie das nicht ernst genug nimmt. In der Praxis ist es ja so, dass die Staatsanwaltschaft, die auf die Polizei angewiesen ist und tagtäglich mit denen zusammenarbeiten, gegen die sie dann Verfahren führen. Das ist ein Kreislauf. Man muss die Leute besser ausbilden und sensibilisieren. Und es braucht Justizminister, die konsequenter ahnden lassen. Das ist ein Problem auf vielen Ebenen, aber mein Fazit ist einfach: All diese Probleme sind bekannt und es tut sich dennoch nichts. Weder in der Justiz, noch in der Polizei.