Psyche und Rassismus: „Wenn du etwas werden willst, musst du doppelt so viel leisten“

Analyse

Die Auswirkungen rassistischer Diskriminierung auf die Psyche Betroffener wird häufig verkannt. Der Psychologe Zami Khalil erläutert die psychischen Folgen von rassistischen Zuschreibungen, die oft bereits in der frühen Kindheit erfahren werden. Er nimmt die Ausbildung von Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen in Deutschland kritisch in den Blick und setzt sich mit der Frage auseinander, welche Rolle Empowerment-Angebote für Betroffene spielen können.

Schwarzes Maedchen vor einem Buecherregal

"Wenn du in Deutschland etwas werden willst, musst du doppelt so viel leisten wie andere!". Mit diesem oder ähnlich lautenden Sätzen wurden viele Schwarze Menschen in Deutschland in ihrem Leben schon mal konfrontiert. Ich habe diesen Satz in meiner Kindheit ebenfalls häufig gehört. Meistens waren und sind es Schwarze Eltern oder Bezugspersonen, die diese Worte an ihre meist noch jungen Schwarzen Kinder richten. Ein Satz, der weit mehr beinhaltet als die bloße Aufforderung, sich stärker zu bemühen, um in Deutschland erfolgreich zu sein.

Es ist eine Botschaft, die Informationen über strukturellen Rassismus, über verinnerlichte rassistische Zuschreibungen und deren transgenerationale Weitergabe enthält. Eine transgenerationale Überlebensstrategie, die unausgesprochene und meist unverarbeitete Gefühle umfasst, welche häufig genauso unverarbeitet an die nächste Generation weitergegeben werden.

Rassistische Sozialisierung beginnt bereits in der frühen Kindheit

Um die möglichen Folgen von verinnerlichter rassistischer Diskriminierung für die Psyche Schwarzer Menschen in Deutschland besser zu verstehen, ist ein Blick auf die frühkindliche Sozialisierung unabdingbar. Kinder verfügen bereits zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr über ein unbewusstes Verständnis von rassistischen Differenzierungsmerkmalen unserer Gesellschaft1. Darüber hinaus sind sie nicht nur in der Lage, rassifizierende, konstruierte Kategorien wie „Hautfarben“ zu unterscheiden, sondern diese auch in Bezug zu Macht, Machtverhältnissen und Machtunterschieden zu setzen2.

Sie lernen also sehr früh in ihrer Entwicklung, Menschen anhand von konstruierten Kategorien in ein hierarchisches Ordnungs- und Wertesystem einzuordnen. Wichtige Bausteine in der Entwicklung von Kindern sind Darstellungen, Geschichten und Inhalte, die sie bereits im frühkindlichen Alter in Form von Kinderbüchern, Hörspielen, Filmen und Serien vermittelt bekommen. Die dort enthaltenen Erzählungen über ihre soziale, kulturelle und geschichtliche Umwelt tragen dazu bei, ihre kindlichen Vorstellungswelten zu entwickeln und zu erweitern3.

Angesichts der Tatsache, dass der Großteil der aktuell in Deutschland erhältlichen Kindermedien auf einem rassistischen Weltbild beruhen, ist dieser Umstand als besonders problematisch zu werten. Während weiße Menschen in diesem Zusammenhang als u.a. überlegen, zivilisiert und „normal“ konstruiert werden, werden Schwarze Menschen als unterlegen, unzivilisiert, „anders“ oder exotisch dargestellt4. Dies betrifft nicht nur vermeintliche „Klassiker“ wie Pippi Langstrumpf oder Tim und Struppi, sondern gilt ebenso für moderne Hörspiele wie z.B. TKKG, wie Adolé Akue-Dovi in ihrer preisgekrönten Arbeit zu Rassismus in Kinderhörspielen eindrucksvoll gezeigt hat5.

Somit schreiben sich rassistische Zuschreibungen und Darstellungen bereits früh tief in die psychische Struktur von Schwarzen Kindern ein und prägen das Selbst- und Weltbild bis ins hohe Erwachsenenalter nachhaltig. Es handelt sich hierbei um verinnerlichte weiße Fantasien, welche definieren, was Schwarzsein bedeutet. Seit mehreren Jahrhunderten projizieren weiße Menschen aggressive, sexuelle und weitere verleugnete Selbstanteile auf Schwarze Menschen. Mit der Konsequenz, dass diese rassistischen weißen Projektionen in die psychische Struktur Schwarzer Menschen eindringen und in das Selbstbild – durch unbewusste Identifikation mit diesen Projektionen – integriert werden6. Somit benötigt es nicht mal mehr einen äußeren rassistischen Reiz, um das psychische Wohlbefinden von Schwarzen Menschen zu beeinträchtigen, da der Angriff auf das Selbstwertgefühl bereits von innen und häufig situationsunabhängig stattfindet.

Rassistische Diskriminierung als eine besondere Form von Stress

Rassismus wirkt sich negativ auf die psychische und physische Gesundheit diskriminierter Menschen aus. Zudem kann rassistische Diskriminierung bei der Entwicklung psychiatrischer Störungsbilder, wie z.B. Depressionen und Angststörungen, eine wichtige (meist unbeachtete) Rolle spielen. Weiterhin muss in diesem Kontext auch auf die häufige Verbindung zwischen Rassismus und Trauma hingewiesen werden7. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit wirkt rassistische Diskriminierung als eine besondere Form von Stress, da sie auf biologischer, sozialer und psychologischer Ebene auf Schwarze Menschen einwirkt.

Hierbei spielen sog. Mikroaggressionen eine wichtige Rolle. Damit sind alltägliche, subtile, verbale oder non-verbale Demütigungen, Beleidigungen oder Invalidierungen von weißen Menschen gegenüber Schwarzen Menschen gemeint. Mikroaggressionen können vermehrte Stressreaktionen auslösen, da sie in unterschiedlichsten Lebenssituationen (im Supermarkt, in der Schule, in Liebesbeziehungen usw.) meist unvorhersehbar und in Form von mehrdeutigen Botschaften auftreten8.

In der Folge sind Schwarze Menschen häufig darum bemüht, rassistische Zuschreibungen und Stereotype nicht zu bestätigen oder sie gar zu widerlegen – siehe Titel dieses Beitrags –, was einem deutlichen psychischen und physischen Mehraufwand gleichkommt. Es wird davon ausgegangen, dass dieser Mehraufwand die Leistungsfähigkeit von wichtigen Bereichen des Gedächtnisses negativ beeinflusst. Gleichzeitig werden Mechanismen im Gehirn aktiviert, die negative Gedanken und Gefühle unterdrücken sollen, die mit den rassistischen Zuschreibungen in Verbindung stehen. In der Konsequenz kann dies zu schwächeren Leistungen bei Aufgaben führen, bei denen Informationen kurzzeitig gespeichert und weiterverarbeitet werden müssen, wie z.B. in der Schule, während der Berufsausbildung oder in der Universität9.

Die seit der Kindheit verinnerlichten Mechanismen, sich selbst über die rassistischen Zuschreibungen Anderer zu definieren, können zudem zu einer permanenten Überwachsamkeit führen: „Wie werde ich wahrgenommen? Wie erleben mich weiße Menschen? Was kann ich tun, um keine rassistischen Stereotype zu bestätigen? Wie kann ich am besten auf Rassismus reagieren?“. Der Fokus liegt dadurch auf der Bestätigung durch das (meist weiße) Außen und stellt gleichzeitig eine Abhängigkeit von dieser her. Darüber hinaus ist es ein Versuch, der permanent erwarteten Beschämung und Demütigung durch Vorbereitung vorzugreifen. Eigenen Gefühlen, Wünschen oder Bedürfnissen werden in diesem Zusammenhang häufig kaum Beachtung geschenkt. 

Demobanner: "Rassismus macht krank: ein besseres Leben für alle."
Demobanner: "Rassismus macht krank: ein besseres Leben für alle." ("We'll come united" - 29.09.2018, Hamburg).

Dekonstruktion rassistischen Wissens in Studium und Ausbildung

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die Ausbildung von angehenden Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen in Deutschland? Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass weder Inhalte zu Rassismuskritik noch kritischem Weißsein während des Psychologiestudiums oder der Psychotherapeut:innenausbildung gelehrt werden. Dabei ist es gerade in diesem Berufsfeld von immenser Bedeutung, dass sich (selbst-) kritisch mit der eigenen Positionierung und den eigenen Privilegien auseinandergesetzt wird. In Psychotherapien und Beratungen sind gesellschaftliche Macht- und Gewaltverhältnisse immer präsent, dessen müssen sich Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen und Berater:innen bewusst sein.

Es braucht also u.a. Seminare und Vorlesungen zu Rassismuskritik und kritischem Weißsein, die verpflichtend in die Lehrpläne des Psychologiestudiums und der weiterführenden psychotherapeutischen Ausbildung integriert sind. Bisherige, vereinzelte Seminare zu „interkulturellen Kompetenzen“ klammern Weißsein als Machtebene meist komplett aus und verstärken zudem häufig, dass Schwarze Menschen weiterhin als „anders“ und/oder „fremd“ konstruiert und wahrgenommen werden.

Rassismus ist ein strukturelles Problem und deshalb ist es absolut notwendig, dass sich ein rassismuskritischer, struktureller Wandel innerhalb der Ausbildungsinstitute vollzieht. Dies bedeutet zunächst anzuerkennen, dass Rassismus Teil der eigenen Ausbildungsstrukturen ist, unabhängig davon, wie viele „interkulturelle“ Seminare angeboten werden. Darüber hinaus müssen „sicherere“ Räume geschaffen werden, in denen sich rassismuserfahrene Psychotherapeut:innen in Ausbildung über ihre unzähligen Rassismuserfahrungen während ihrer Ausbildungszeit austauschen können. All dies im Rahmen von rassismus- und machtkritischen Inter- und/oder Supervisionen.

Neue Perspektiven 

Der Umgang mit und das Verlernen von verinnerlichten rassistischen Zuschreibungen ist ein lebenslanger Prozess. Empowerment-Angebote können hierbei eine wichtige Rolle spielen. Empowerment wird in diesem Zusammenhang als machtkritische Haltung und Ansatz verstanden, welcher explizit die Perspektiven und Lebensbedingungen rassifizierter Menschen in den Fokus rückt. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass sich die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutschland hinsichtlich u.a. der Herkunft, sexuellen Orientierung, Religion, Selbstbezeichnungen, Geschlechtsidentitäten oder körperlichen Behinderungen unterscheiden. Es ist daher zwingend notwendig, Empowerment aus einer intersektionalen Perspektive zu denken.

Was als stärkend und förderlich empfunden wird, ist meist sehr individuell und kann von Hausaufgabenhilfe über Schwimmkurse bis hin zu rassismuskritischen Workshops jeden Lebensbereich miteinbeziehen. Aufgrund der Kollektivität der Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland nimmt das Community Building eine wichtige Rolle im Kontext von Empowerment ein. Hiermit sind Zusammenschlüsse Schwarzer Menschen in Vereinen, Initiativen, Netzwerken etc. gemeint, die „sicherere“ Räume zur Reflexion und zum Austausch über jene Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen sein können. Gleichzeitig stellen diese Orte auch eine Form von Widerstand und Selbstermächtigung dar.

Empowerment kann so dazu beitragen, den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern und dem Gefühl der Hilflosigkeit im Zusammenhang mit rassistischer Diskriminierung entgegenzuwirken. Dadurch kann eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von außen nach innen, bis hin zu einem selbstfürsorglicheren Ansatz ermöglicht werden. Fragen, wie „Wie geht es mir gerade? Wie fühlt sich mein Körper an? Habe ich die Zeit, Lust, Ressourcen zu reagieren? Was tut mir gut?“ können so an Wichtigkeit gewinnen. Die eigenen Verletzungen bewusst beschreiben, benennen und in einen historischen Gesamtkontext einordnen zu können, ist ein wichtiger Schritt zur Selbstermächtigung. Es kann dazu beitragen, dass Stolz als Gegenteil von Scham sicht- und fühlbarer wird. Ohne dabei zu vergessen, dass wir in gewaltvolle Machtverhältnisse eingebunden sind und Schmerz, Scham und Trauer Teile der eigenen und familiären Geschichte bleiben werden.

 


Dieser Beitrag ist Teil eines bald erscheinenden Dossiers zum Thema Schwarze Community in Deutschland, das von Mehret Haile-Mariam kuratiert wird. 

 


Literatur:

(1) Preissing, Christa und Wagner, Petra: (2003) „Kleine Kinder, keine Vorurteile?“ Interkulturelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen, Berlin.

(2) Eggers, Maureen (2005): Rassifizierung und kindliches Machtempfinden. Wie schwarze und weiße Kinder rassifizierte Machtdifferenz verhandeln auf der Ebene von Identität. Abrufbar unter: shorturl.at/fiI67

(3) Mätschke, J. (2017). Rassismus in Kinderbüchern: Lerne, welchen Wert deine soziale Positionierung hat! In K. Fereidooni & M. El (Hrsg.), Rassimuskritik und Widerstandsformen (S. 249–268). Springer Fachmedien.

(4) Wollrad, E. (2019). Koloniale Echos - Rassismus in Kinderbüchern. In S. Arndt & N. Ofuatey-Alazard (Hrsg.), (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache (3. Aufl., S. 379–388). UNRAST-Verlag.

(5) Akue-Dovi, Jennifer Adolé (2021): Wie junge Hörer*innen die Verwendung von Rassismen in Hörspielen wahrnehmen, IDA Überblick, Nr. 4/2021, S. 8-11.

(6) Kilomba, G. (2008). Plantation Memories. Unrast.

(7) Carter, R. T., Lau, M. Y., Johnson, V. & Kirkinis, K. (2017). Racial Discrimination and Health Outcomes Among Racial/Ethnic Minorities: A Meta-Analytic Review. Journal of Multicultural Counseling and Development, 45(4), 232–259. https://doi.org/10.1002/jmcd.12076

(8) Yeboah, A. Y. (2017). Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland. In K. Fereidooni & M. E. El (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen (S. 143–161). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/9783658147211

(9) Spencer, S. J., Logel, C. & Davies, P. G. (2016). Stereotype Threat. Annual Review of Psychology, 67(1), 415–437. https://rb.gy/8vjtxg