Die US amerikanische Immigrationsdebatte: Was die Republikaner zu verlieren haben.

von Helga Flores Trejo 

Jährlich wird die US-Grenze bis zu 3 Millionen Mal illegal überquert. Mehr als zwei Drittel dieser Übertritte (69%) geschehen an der dreitausend Kilometer langen Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Sie ist nicht nur die weltweit längste Grenze zwischen einer Industrienation und einem Schwellenland, sondern zudem die am stärksten militärisch befestigte Grenze zwischen zwei Staaten, die nicht miteinander im Krieg liegen. Für mehrere Millionen Menschen, die den Grenzübergang gewagt haben und ohne offizielle Papiere in den Vereinigten Staaten leben und arbeiten, geht es in der aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzung zur Reform des Immigrationsgesetzes um ihre Existenz. Eine lautstarke Minderheit in Kongress und Medien hat eine explosive politische Stimmung erzeugt. Plötzlich stehen Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung, durch die der Grat zwischen illegalem Einwanderer und Kriminellem sehr schmal zu werden droht. Auf der einen Seite des konservativen Spektrums werden Abschiebung und Verschärfung der Grenzkontrollen gefordert, auf der anderen Seite versprechen Gastarbeiterprogramme und Einbürgerung die ‚goldene Karotte’ der Legalität. Wie so oft in den vergangenen Jahren spielt sich auch diese innenpolitische Diskussion vor allem innerhalb der republikanischen Partei ab. Die Demokraten hingegen haben es wieder nicht geschafft, eine einheitliche und schlagkräftige Position zu entwickeln.

Der im Dezember 2005 vorgelegte Gesetzesentwurf des republikanischen Abgeordneten James Sensenbrenner gab vor, „endlich die Grenzen zu sichern“. Damit kriminalisiert er sowohl die illegalen Einwanderer als auch ihre Unterstützer. Er fordert vereinfachte Deportationen und wendet sich vehement gegen eine Legalisierung oder gar Masseneinbürgerung. Sensenbrenner konzentriert sich vor allem auf präventive Maßnahmen, die den illegalen Zustrom von Arbeitern verhindern sollen. Dazu gehört der Ausbau des Grenzzaunes zwischen den USA und Mexiko durch einen nahezu 600 Kilometer langen dreilagigen Stacheldraht, teils durch eine Mauer verstärkt.  Hinzu sollen 14.000 zusätzliche Grenzpatrouillen bis zum Jahre 2011 und die Einrichtung weiterer grenznaher Abschiebungszentren den Zustrom unmöglich machen. Diese Gesetzesvorlage rief nicht nur die scharfe Kritik der Mehrheit des Senats und des Präsidenten hervor, sondern provozierte auch zahlreiche öffentliche Protestkundgebungen und Demonstrationen.

George W. Bush tritt in dieser Debatte erstaunlich pragmatisch auf, eine Haltung, die angesichts der zur Zeit sehr einflussreichen nativistischen Stimmen in seiner Partei zu überraschen vermag. Das Weiße Haus erscheint um sinnvolle und praktikable Lösungen in dieser Auseinandersetzung bemüht, die mit simplen Lösungsvorschlägen kaum zu klären ist. In der Diskussion um die Reform des Einwanderungsgesetzes hat sich der Präsident im moderaten Mittelfeld positioniert: er vertritt klar und deutlich die Interessen der amerikanischen Geschäftswelt und der Migranten, pocht aber auch immer wieder auf die Sicherheit der Grenzen. In seiner Ansprache an die Nation im Mai diesen Jahres erinnerte Bush daran, dass Migration wichtig und gut sei und verwies wiederholt auf die Unsinnigkeit einer Massenabschiebung illegaler Arbeiter. Stattdessen plädierte er für eine umfassende Einwanderungsreform, die sowohl Einbürgerungen, ein Gastarbeiterprogramm als auch weitere Grenzsicherungen umfassen soll. Auf die Geschlossenheit seiner Partei kann er in diesem Konflikt dabei jedoch kaum hoffen. Die Mehrheit der Republikaner steht hinter der vom Repräsentantenhaus vorgelegten enforcement only reform, die lediglich weitere Grenzbefestigungen vorsieht.

Migration ist in den vergangenen Monaten wie aus dem Nichts zu einem der wichtigsten Themen im tagespolitischen Diskurs aufgerückt. Angesichts der anderen drängenden Themen wie dem Irakkrieg, der hohen Energiepreise und dem abflachenden Wirtschaftswachstum hat es viele Beobachter überrascht, mit welcher Vehemenz die Einwanderung augenblicklich diskutiert wird. Zwar gibt es immer wieder Zwischenfälle an der mexikanischen Grenze, allerdings meist verbunden mit florierendem Drogenhandel. Aber die aktuelle Brisanz erhielt die Migrationsdiskussion erst, als republikanische Kandidaten mit besorgtem Blick auf das Kongress-Wahljahr und einem Präsidenten, der rapide an Vertrauen verloren hat, das  polarisierende Thema außerhalb der erwähnten Politikfelder entdeckten, in denen ihnen alle Umfragen schlechte Noten bescheinigen.

So dient die gesellschaftspolitisch wie ökonomisch in den USA wenig bedeutungsvolle Frage von elf oder fünfzehn Millionen illegalen Einwanderern dazu, die Distanz einzelner Abgeordneten gegenüber einem schwachen Präsidenten zu dokumentieren. Und man kann sich auch, ganz im Zeichen der Zeit, unnachgiebig und hart in vermeintlichen Sicherheitsfragen zeigen. Nur vor dem Hintergrund dieser Verknüpfung ist der rhetorische Erfolg des Migrationsthemas zu verstehen: ‚Sicherheit’ hat bei der republikanischen Wählerbasis, die ansonsten ähnlich frustriert von der Administration ist wie der Rest des Landes, einen hohen politischen Gebrauchswert. Diesen wird man in einem Jahr, in dem die Republikaner um ihre derzeitige Macht im Kongress fürchten müssen, ebenso dringend brauchen wie die Arbeitskraft der illegalen Einwanderer.

Nimmt man die lautstarken und ‚breitbeinigen’ Parolen einiger konservativer Politiker wörtlich, dann könnte der Eindruck entstehen, der amerikanische ‚melting pot’ hätte in der Tat an Schmelzkraft verloren. Statt Integration und Assimilation propagieren viele Republikaner wider besseren Wissens die Kriminalisierung und Abschiebung der schätzungsweise zwölf Millionen illegalen Migranten im Lande. Von drohender ‚Mexikanisierung’ ist die Rede, von rigorosen Deportationen und zu schließenden Löchern in den Grenzen.

Die Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus ist so nervös, dass sie vorgibt, Millionen Menschen so schnell wie möglich abschieben zu wollen, ein vollkommen absurdes Vorhaben. Es verwundert daher nicht, dass es sehr viele Stimmen in der Wirtschaft, unter liberalen Gruppierungen aber auch unter Republikanern selbst gibt, die das gegenwärtige Migrationspektakel ablehnen. Michael Bloomberg, der republikanische Bürgermeister von New York kommentierte die Vorschläge schneidend als „lächerlich…, undurchführbar“. Sollte die Umsetzung ernsthaft erwogen werden, so würde dies nach Bloomberg „sowohl unsere Familien als auch unsere Wirtschaft zerstören.“ „Die Wahrheit ist“, erklärt er, „dass wir Menschen haben, die hier sind, weil wir sie hergewunken und hereingelassen haben. Sie sind Teil unseres Wirtschaftslebens. Wir brauchen sie. Und wir brauchen mehr.”

Die Mehrheit der US-Bevölkerung sieht das genauso. Nach einer Umfrage des Pew Research Center sprechen sich 65% für ein Gastarbeiterprogramm aus. Unversöhnliche Positionen findet man dagegen vor allem in republikanischen Wahlbezirken mit nur fünf Prozent Immigranten. Dort finden sich Mehrheiten, die Abschiebungen befürworten.Eingezwängt zwischen inflammatorischer Rhetorik, konservativen Basisgruppen und der Realität der Einwanderernation Amerika bemüht sich der Präsident um Kompromisse; er versucht die scharfen Töne zu mildern und bietet eine Reihe von Konzessionen an. Die Entsendung von 6.000 National Guards an die Südgrenze gehört zu diesen Zugeständnissen, genauso, dass Englisch zur Nationalsprache erklärt werden soll. Mit diesen Lockmitteln sollte den konservativen Parteiströmungen das Gastarbeiterprogramm abgerungen werden, das immerhin 200.000 legale Immigranten und ihre Familien im Jahr zulassen soll. Eine weitgehende Legalisierung der bereits im Land befindlichen Illegalen gehört ebenfalls dazu. Ob dem Weißen Haus dieser Spagat gelingt ist allerdings völlig offen. Ein wichtiges Ergebnis hat die aktuelle Debatte allerdings bereits erzeugt: Während die Republikaner sich entscheiden müssen, ob sie eine nativistisch motivierte Ideologie oder die gesellschaftliche Realität zur Grundlage ihrer politischen Entscheidungen machen sollen, geschieht Erstaunliches unter den 40 Millionen Hispanics, die in den USA leben. Die politischen Scharfmacher der Rechten waren möglicherweise die Geburtshelfer einer neuen Bewegung oder zumindest eines neuen Selbstbewusstseins unter den Latinos.

Bislang haben sich Amerikas illegale Migranten meist stillschweigend den Lebensbedingungen der Grauzonen gefügt und kaum Forderungen gestellt. Lautlos, wenn auch keineswegs unsichtbar, bevölkerten sie die amerikanische Arbeitswelt, zumeist in den einschlägigen Dienstleistungsbranchen, dem Baugewerbe und der Landwirtschaft. In Washingtons Latino-Viertel, Mount Pleasant, strömen bei Sonnenaufgang Gruppen junger Tagesarbeiter zu designierten Sammelstellen, wo sie zu Dutzenden von pick-up trucks abgeholt und zu Baustellen und anderen Arbeitsstätten gebracht werden. Am 1. Mai diesen Jahres war aber plötzlich alles anders. In Washington und allen anderen Großstädten fanden sich mehr als eine Million Demonstranten auf Protestkundgebungen. In Chicago gingen über 400.000 auf die Straße und trugen amerikanische Flaggen. In New York schlossen sich andere Minderheiten an, chinesische und irische Gruppen solidarisierten sich mit den Forderungen nach Legalisierung und sozialer Absicherung.

Entscheidend kann hier sein, dass sich viele junge Latinos zum ersten Mal politisch engagiert haben und sich entschlossen haben, die neuen Migranten zu unterstützen. Darüber hinaus hat die Auseinandersetzung für Viele auch eine sehr persönliche Dimension, denn das aktuelle Gesetzvorhaben stempelt ihre Eltern und Grosseltern zu Kriminellen. Das Motto der Proteste war eine eindeutige Warnung an die Republikaner: „Heute demonstrieren wir, morgen wählen wir“, riefen die Demonstranten in Los Angeles. Im Anschluss an die Kundgebungen haben vor einigen Wochen zahlreiche Latinos zum ersten Mal einen so genannten Hill Day organisiert. Sie sind im Kongress erschienen und haben bei Abgeordneten und deren Mitarbeitern für ihre Rechte geworben — für viele Beteiligte auf beiden Seiten ein absolutes Novum.

Die Konservativen hatten mit solch massiven Reaktionen nicht gerechnet und waren sich offensichtlich nicht bewusst, wie weit ihre politischen Vorstellungen hinter der Entwicklung der US-Gesellschaft zurückgeblieben sind. Sie waren überrascht von der hörbaren und andauernden Kritik und der politischen Einflussnahme der betroffenen Migranten, die sich in mehreren Demonstrationen auf ihre Grundrechte beriefen und, unterstützt durch eine Großzahl amerikanischer Wähler, ihre Einbürgerung forderten. In der politischen Debatte sahen sich die Grenzschützer plötzlich der berechtigten Kritik ausgesetzt, sie unterminierten die besten amerikanischen Traditionen und schafften eine Situation, auf die nun mit einer neuen Bürgerrechtsbewegung reagiert werde.

Der am 25. Mai diesen Jahres vom Senat beschlossene Gesetzesentwurf geht einigen Hardlinern im Repräsentantenhaus nicht weit genug. Zwar hat der liberalere Senat im Hinblick auf Grenzsicherheit einige Zugeständnisse gemacht, zum Beispiel bei der geforderten Modernisierung der Überwachungsanlagen mit High-Tech-Ausrüstung, härteren Gesetzen gegen Menschenschmuggel und der Verstärkung von Grenzpatrouillen. Selbst die massive Erweiterung der Stacheldrahtgrenze wurde angenommen. Doch der Senats-Entwurf legt noch immer einen weit größeren Schwerpunkt auf Integrationsmaßnahmen als der konkurrierende Entwurf des Repräsentantenhauses: illegale Einwanderer, die bereits seit fünf Jahren in den Staaten leben, können dort verbleiben und sich für eine Aufenthaltsgenehmigung und schließlich um Staatsbürgerschaft bewerben. Vorraussetzung ist eine Gebühr von mindestens $ 3.250, die Begleichung von Steuerschulden und das Erlernen der englischen Sprache. Illegale Migranten, die zwischen zwei und fünf Jahren Aufenthalt vorweisen, sind dazu verpflichtet an einem offiziellen Grenzübergang (point of entry) einen Antrag auf Verbleib zu stellen. Solche mit weniger als zwei Jahren Aufenthalt müssen das Land verlassen. Das Gesetz erweitert jedoch die Möglichkeiten zum Verbleib durch ein Gastarbeiterprogramm, das in einem seltenen Beispiel republikanisch-demokratischer Eintracht von den Senatoren Edward M. Kennedy (D-Massachussets) und John McCain (R-Arizona) ausgearbeitet wurde. Etwa 400.000 eingewanderte Farmarbeiter können demnach jährlich eine temporäre Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erhalten. Das Gesetz verfügt zudem eine Erhöhung der so genannten H1-B Visa für Fachkräfte von 65.000 auf 115.000.

Obwohl der Entwurf mit einer Mehrheit von 62 zu 36 Stimmen vom Senat angenommen wurde, ist die Verabschiedung durch den Kongress aufgrund der vehementen Opposition im Repräsentantenhaus nicht gesichert. Bevor der Kongress Einbürgerungen zulässt, so die Gegner des Gesetzes, müsse erst die Zahl der illegalen Grenzgänger drastisch verringert werden. Das Gesetz wird daher vom Repräsentantenhaus abgelehnt. Es wird sich zeigen, wie sehr Präsident Bush seinen Einfluss geltend macht, wenn es in die Phase der Kompromisssuche geht: mehr Senat und weniger Repräsentantenhaus lautet die Devise. Die Chancen für einen gemäßigten Ausgang sind jedoch im Moment kaum abzuschätzen.

Ganz unabhängig von den politischen Verhandlungen ist sicher, dass alle diskutierten Maßnahmen weder die Probleme lösen noch die Realitäten anerkennen. Durch eine endlose Mauer in der Wüste kann möglicherweise die Migration reduziert werden, aber alle bisherigen Erfahrungen zeigen, dass man Menschen, die entschlossen sind und wenig zu verlieren haben, kaum abschrecken kann.

In Gesprächen mit Mitarbeitern der „Border Patrol“ San Diego im Februar diesen Jahres gaben die Grenzschützer freimütig zu, dass die bisherigen Maßnahmen zur Absicherung und Abschottung die Zahl der Grenzübertritte nicht verringert haben. Sie hatten nur zur Folge, dass die Migranten immer gefährlichere Routen wählen und dabei ihr Leben riskieren. Einige versuchen es inzwischen mit Surfbrettern über das Meer. Eine weitere Folge der massiven Grenzbefestigung ist die Verhinderung einer traditionellen Pendler-Migration weil die Möglichkeit für Arbeiter ohne Gefahr und Hindernisse wieder nach Mexiko zurückzukehren verstellt ist, schließt man eine große Gruppen von Migranten im Land ein, die sonst wieder nach Mexiko zurückkehren würden.

Letztlich bietet eine weitere Grenzbefestigung auch keine langfristige Abhilfe, weil sie die Ursachen der anhaltenden Migrationsbewegungen nicht beseitigt. Zu wenig Aufmerksamkeit kommt dem konstant bleibenden Gefälle im Bruttoinlandsprodukt zwischen den USA und Mexiko zu. Die Pro-Kopf Produktion in den USA (43,883 USD) ist sechs Mal höher als in Mexiko (6,937 USD). Darüber hinaus bilden Geldtransfers der in die USA ausgewanderten Mexikaner oft die Haupteinnahmequelle für zurückbleibende Familien. Auch sind diese Transferzahlungen eine wichtige Einnahmequelle für den mexikanischen Staat. Nach offiziellen Angaben wurden im Jahr 2005 von mexikanischen Arbeitsmigranten etwa 20 Milliarden US-Dollar nach Mexiko überwiesen; ein Betrag, der etwa drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes entspricht. Diese Transferzahlungen belegen Platz zwei unter den Haupteinnahmequellen aus dem Ausland direkt nach den Maquiladoras, den Kleidungsfabriken in der Grenzregion und noch vor den Einnahmen aus Tourismus und Auslandsinvestitionen. Sie übersteigen auch jegliche finanziellen Ressourcen, die das Land als Entwicklungshilfe aus Industrienationen erhält.

Gezieltere Investitionen der USA in die industrielle Entwicklung und Infrastruktur des Nachbarlandes würden den Migrationsdruck vermindern. Die gegenwärtig diskutierte Mauer zwischen den Gesellschaften zeigt vor allem, wie sehr Mexiko und die USA in den vergangenen Jahrzehnten zusammengewachsen sind.

 

 

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Helga Flores Trejo ist die Direktorin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington D.C