WAS IST (INTEGRATIONS)POLITIK? Kritische Bemerkungen zu ‚Perspektive Staatsbürgerin und Staatsbürger’

Von Barbara Weber

1906, also vor 100 Jahren, ist die politische Philosophin Hannah Arendt in Hannover geboren. Das habe ich zum Anlass genommen, einige Thesen aus Ihrem Buch ‚Was ist Politik’ mit dem von der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen am 30.5.2006 verabschiedeten Text ‚Perspektive Staatsbürgerin und Staatsbürger’ zu konfrontieren. Ich habe zunächst 10 Thesen jeweils mit einem Zitat von Hannah Arendt verbunden, um mich anschließend auf dieser Basis mit dem Papier der Grünen auseinanderzusetzen.

10 Thesen auf dem Hintergrund von Hannah Arendts Text ‚Was ist Politik’?

Kritische Bemerkungen zu ‚Perspektive Staatsbürgerin und Staatsbürger’

1.

Der Aufbau des Papiers von Bündnis 90/Die Grünen polarisiert, begrifflich wird die ‚ganze Gesellschaft’ gespalten. Durchgehend wird von der „Rolle der aufnehmenden Gesellschaft“ und der „Rolle der Migrantinnen und Migranten“ gesprochen.

Wer ist im Jahre 2006 die aufnehmende Gesellschaft und wer sind die Migranten und Migrantinnen? Sind es die 81% Deutschen und die 19 % der Deutschen mit Migrationshintergrund? Oder die 91% Deutschen und die 9% ohne deutschen Pass? (Zahlen: Mikrozensus 6/2006). Dürfen “einige Migranten und Migrantinnen der 2.und 3. Generation, die hervorragende Bildungsabschlüsse vorweisen können“, sich vielleicht als Teil der aufnehmenden Gesellschaft ansehen, weil sie in „unserer Gesellschaft angekommen“ sind oder gehören sie zu den  Migranten und Migrantinnen?

Klar ist, dass die deutschstämmigen Zuwanderer aus Osteuropa zu der aufnehmenden Gesellschaft gehören oder etwa nicht? Schließlich sind sie Staatsbürger oder vielleicht nur Mitbürger? Staatsbürger und natürlich auch Staatsbürgerinnen gehören eigentlich per Definition zu der aufnehmenden Gesellschaft - ob sie nun jemand aufnehmen will oder nicht.  Auch wenn es statt einer aufnehmenden Gesellschaft eine abstoßende Gesellschaft ist, die sich vorgenommen hat, bestimmte Orte zu abstoßenden Orten zu machen, in die niemand aufgenommen wird, der eine dunkle Hautfarbe hat oder irgendwie anders aussieht – ob Staatsbürger oder nicht.

Als Mitbürgerin möchte auch Charlotte Knobloch, Vorsitzende des Zentralrats der Juden, verständlicherweise nicht länger bezeichnet werden, las ich gerade in der Zeitung. Es geht ihr so wie meinen Freundinnen A. und F., beide deutsche Staatsbürgerinnen und geboren in der Türkei. Aber gehören die beiden nun zur Seite der aufnehmenden Gesellschaft oder zur Seite der Migrantinnen? Oder wird das nach Jahren gerechnet? A., seit 30 Jahren in Deutschland, gehört zur aufnehmenden Gesellschaft und F., erst 25 Jahre, gehört zu den Migrantinnen?
Diese Polarisierung ist inhaltlich falsch und führt deshalb auch zu falschen Ergebnissen, denn es ist in der Tat „grotesk“, zwischen „Euch und Uns“ zu unterscheiden.

2.

Das Papier hat zwei Ebenen: eine politische und eine ideologische.

Die politische Ebene enthält konkrete Analysen und auch konkrete politische Handlungsvorschläge. Die gemeinsamen Rechte und ihre unterschiedliche Ausgestaltung für verschiedene Bevölkerungsgruppen werden hier genannt: „Vielen Migranten und Migrantinnen wurde Integration dadurch erschwert, dass die Politik bis heute kaum institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen hat, die soziale Benachteiligung verhindern (z.B. im Bildungssystem)... Schließlich kann es sich keine demokratische Gesellschaft auf Dauer leisten, Teile ihrer Bevölkerung von der rechtlichen und politischen Teilhabe auszuschließen... Tatsächlich hat unsere Gesellschaft aber bislang ... Migrantinnen und Migranten keine gleichberechtigten Chancen gewährt... „

Erfreulich wäre es, wenn dieser Ansatz durchgehend der Ausgangspunkt der Analyse wäre – was leider nicht der Fall ist.

3.

Denn: Die zweite Ebene des Grünen Papiers setzt am Verhalten der Migranten und Migrantinnen an. Ob sie „in dieser Gesellschaft angekommen sind“ und „sie bereichern und verändern“, sich „mit dem Land identifizieren“, „sich als Deutsche mit türkischen Wurzeln verstehen“ oder auch nicht, ob sie „bereit sind sich zu öffnen und ihren Teil zur Entwicklung dieses Landes beizutragen“. All diese Aussagen suggerieren, dass sie es bisher nicht getan haben und nicht tun - ein ungeheuerlicher Vorwurf.

Dieser (unpolitische) Ansatz ist in meinen Augen ‚übergriffiges’ Verhalten einer dominierenden gesellschaftlichen Gruppe gegenüber einer Minderheit. Richtig ist:  Die Politik kann und muss Rahmenbedingungen schaffen. ‚Anderes Verhalten’ jedoch kann durch kein Gesetz hergestellt oder gar erzwungen werden. Was passiert mit denen, die sich weiterhin ‚falsch’ verhalten? Und wer definiert, ob Migranten und Migrantinnen „in unserer Gesellschaft angekommen“ sind?

„Unter uns leben Migranten und Migrantinnen, die selbst nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland kein Deutsch sprechen“, stellt das Papier fest.  Aber was will uns das sagen und was soll damit bewirkt werden? Es wird auch in Zukunft, selbst bei größten Anstrengungen, die „Migranten und Migrantinnen im höheren Maße auf sich nehmen müssen“, Menschen geben, die kein Deutsch sprechen. Was diesen Sachverhalt am wenigsten ändern wird, sind öffentliche Erklärungen zu richtigen oder falschen Verhaltensweisen.

Hierzu ein Besipiel: Juan Morena, nach eigener Definition Gastarbeiterkind, schrieb in einem Zeitungsartikel mit dem Titel:  Es ist nur so ein Gefühl:

 ...Meine Eltern sind ein gutes Beispiel für das, was ich als gelungene Integration bezeichne und für das, was Deutsche als gescheiterte Integration ansehen. Meine Eltern leben gerne hier, zahlen Steuern und halten sich akribisch genau an die Gesetze, ansonsten machen sie ihr Ding. Integration Ende. Kein deutscher Politiker würde meine Eltern als integriert bezeichnen. Sie sind seit 30 Jahren hier, haben keine deutschen Freunde, ... Mein Vater war Bauer. Erst warb ihn eine Baufirma aus Frankreich an, später ein Chemiewerk aus der Schweiz, später eine Reifenfabrik in der Nähe von Frankfurt, wo er noch immer arbeitet. Nichts an seiner Biographie ist außergewöhnlich, nichts an seinem jetzigen Zustand ist außergewöhnlich. Er lebt in Deutschland, bricht die Gesetze nicht und sucht sein Auskommen, wer mehr von ihm verlangt, zum Beispiel, das er sich am gesellschaftlichen, am kulturellen Leben beteiligt, sich engagiert, richtet an meinen Vater, und an Menschen wie meinen Vater, Forderungen, die niemand an einen deutschen, ungelernten Industriearbeiter richten würde.(Süddeutsche Zeitung vom 4./5. Dezember 2004)

4.

Freie Menschen sind Subjekte von Politik und nicht Objekte der Politik anderer. In dem Papier aber gibt es vor allem Objekte: „Eltern sollen... Teilnahme gewährleisten“, „sie sind aufgerufen“ oder „sie werden aufgerufen“, „wir müssen allen Eltern vermitteln, dass sie für die Erziehung ihrer Kinder mit verantwortlich sind“, „wir  erwarten engagierte Parteinahme für Menschenrechte“,  „gegen öffentlich geäußerte Kritik dürfen Gläubige – wie jeder andere Mensch auch – friedlich ihre Meinung äußern.“

Ach, dürfen sie das? Und wenn sie wütende Kritik äußern? Ist es als Beitrag zur Integration zu begrüßen, dass sich „Migranten und Migrantinnen innerhalb des Rahmens unserer Verfassung eigeninitiativ für die Durchsetzung ihrer Interessen einsetzen“?

Zum selbstverständlichen Ritual ist es inzwischen geworden, dass im Zusammenhang mit Migranten und Migrantinnen besonders darauf hingewiesen wird, dass man sich im Rahmen der Verfassung zu bewegen habe, wenn man sich in diesem Land bewegt. Dazu noch mal das oben zitierte ‚Gastarbeiterkind’:

Integration setzt voraus, dass ich mich an die Gesetze halte ...Ich halte es zwar für eine Unverschämtheit, dass man mir das sagt, weil ich es für eine Selbstverständlichkeit halte, genau wie ich es für eine Selbstverständlichkeit halte, dass jeder, der das nicht tut, dafür bestraft wird und es keine Rolle spielt, welche Nationalität der Gesetzesbrecher hat... Im übrigen glaube ich niemandem, dass die Integration oder was man immer dafür halten mag, deshalb gescheitert ist, weil sich zu wenige Ausländer an die Gesetze gehalten haben... Wenn ich es richtig sehe, sind von keiner Gruppe so viele Angriffe auf die deutsche Verfassung ausgegangen wie von deutschen Politikern, die sich zum Thema ‚bessere Integration von Ausländern’ geäußert haben. ... Ich bin in diesem Land aufgewachsen und kann sagen, dass das Thema ‚Integration’ in seinen verschiedenen Variationen (Asylmissbrauch, EU-Beitritt der Türkei, doppelte Staatsbürgerschaft, Green-Card, Leitkultur) in allen Wahlkämpfen eine Rolle gespielt hat.

Die deutsche Verfassung - das sei hier nebenbei bemerkt - ist ein deutscher Exportschlager und hat für zahlreiche Verfassungen weltweit als Vorlage gedient. Für nicht wenige Menschen ist unser Land wegen unserer Verfassung zur neuen Heimat geworden. (Es soll sogar Migrantinnen und Migranten geben, die die Partei ‚Bündnis 90/Die Grünen’ mitgegründet haben.) So sieht das auch Barbara John, Ausländerbeauftragte von Berlin von 1981 bis 2003:
Die demokratische Gesellschaft ist sehr attraktiv, gerade für die Einwanderer, die unter starken sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Zwängen leben... Es gibt keine Migranten, die dieses Regelwerk abschaffen wollen. Sie wollen in einer demokratischen Gesellschaft leben.... Nie haben sich Migranten für Normen eingesetzt, die den Menschenrechten widersprechen. (Du, 767, Sulgen, Schweiz, 6/2006)

5.

Die Analyse der aktuellen Situation geht nicht von dem aus, ‚was Vielen gemeinsam ist’, und gleichberechtigte Teilhabe an Bildung, Ausbildung, Beruf und Einkommen verhindert, sondern betrachtet grundsätzlich nur die Gruppe der Migranten und Migrantinnen und verlässt so die Basis gemeinsamer Verantwortung für die Situation. Dabei wird nicht gespart mit undifferenzierten Schuldzuweisungen wie: „Es gibt Eltern, die ihren Kindern Bildung und berufliche Ausbildung vorenthalten. Und vor allem ihre Söhne werden oft zu überkommenem, patriarchalischen Verhalten erzogen – zu Lasten ihrer Schwestern und Partnerinnen“.

6.

Damit sind wir mitten in der Vorurteilsproduktion angekommen. Diese Zusammenfassung ist geradezu der Kern der Vorurteile, es fehlt nur noch das Messer und die potentielle Gewalttätigkeit. Seit Jahren werden diese Muster von Politik und Medien verbreitet.

Völlig absurd wäre es, zu bestreiten, dass es die geschilderten Probleme gibt. Aber sicher gibt es diese und noch viel mehr Probleme. Aber welche politische Bedeutung haben diese Probleme? Wie werden sie bewertet? Was für eine Beziehung haben sie zu der Situation von Zugewanderten? Was für Schlussfolgerungen ergeben sich daraus? Grundsätzlich werden zugespitzte, extreme Problemsituationen herangezogen, um ein Bild von allen Zugewanderten zu entwerfen. Das ist Ideologieproduktion in ihrer reinen Form: ein kleiner Zipfel Wahrheit wird genommen, wie ein Luftballon aufgeblasen und zur Wahrheit aller gemacht.

Warum finden die vielen längst vorliegenden differenzierten Untersuchungen zu Fragen der Bildung, Ausbildung und Beschäftigung hier keinen Niederschlag? Warum steht in dem Papier nichts davon, dass zum Beispiel das Einkommen der türkischen Minderheit dramatisch gesunken ist?

7.

Und die Frauenfrage? Diese Walze von Vorurteilen, die sich gerade über Frauen unserer Gesellschaft ergießt, wenn sie einen Zuwanderungshintergrund haben, macht mich nur noch rat- und fassungslos. Gerade zur Situation der Frauen liegen sehr gute und differenzierte Untersuchungen vor – von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund. Ich will nur beispielhaft die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Untersuchung nennen: ‚Viele Welten leben, Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund (Ursula Boos-Nünning, Yasemin Karakasoglu, Münster 2005) Man kann auch den Bundesfamilienbericht aus dem Jahr 2000 lesen, wenn man tatsächlich etwas über die Situation der Frauen und Familien wissen will.

Man könnte sehr einfach erfahren, dass viele der Frauen der 1. Einwanderungsgeneration ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse zurückgestellt haben, um ihren Kindern den Zugang zur Bildung möglich zu machen. Sie haben eine unglaubliche Leistung vollbracht, um in einer Gesellschaft, die ihren Kindern hohe Barrieren entgegengestellt hat, Bedingungen zu schaffen, damit sie heute „hervorragende Bildungsabschlüsse vorweisen können“. Man könnte erfahren, dass es auch Frauen gab, für die Arbeitsmigration Emanzipation war, die abenteuerlustig aus ihrem Land nach Deutschland gekommen sind, um hier neue Lebensmöglichkeiten zu erobern. Man könnte erfahren, dass die jungen Frauen mit Zuwanderungshintergrund ganz vorne stehen, wenn es um Bildung, Motivation und Qualifikation geht. Aber wie sieht es mit ihren Arbeitsmöglichkeiten aus? Man könnte sehr vieles erfahren, was den ideologischen Vorurteilsmustern entgegensteht.

Auch zum Beispiel das: In einer Studie kamen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass Eltern, deren Bemühungen gescheitert sind, durch Bildung in die Gesellschaft hineinzuwachsen, es aufgeben, ihre Kinder im Bereich der Bildung zu unterstützen – egal welcher Herkunft sie sind.

8.

Warum steht nichts davon in diesem Papier, dass die 10 Werte, die junge Menschen für wichtig halten, nämlich Freundschaft, Partnerschaft, Familiensinn, Eigenverantwortung, viele Kontakte, Kreativität, Gesetz und Ordnung, Unabhängigkeit, Sicherheit, Fleiß und Ehrgeiz, von allen – unseren – Jugendlichen geteilt werden, egal, ob sie eingeboren, zugewandert, Kinder von zugewanderten, aus Ost oder West, weiblich oder männlich sind? (Jugend 2002, Shell Studie, Frankfurt a.M., 2002)

Warum geht es immer nur um die ‚Anderen’ und nicht um uns? Warum geht es nicht um uns, unsere Kinder, unsere Jugendlichen und unsere Gesellschaft?

 9.

Es gibt gute, nicht zu wenige und völlig richtige Ansätze in dem  Papier der Grünen, was die politische Seite anbetrifft. Diese Vorschläge sind durchaus für ein Handlungsprogramm brauchbar. Die andere Seite aber ist, dass das Grüne Papier Vorurteilsmuster benutzt, indem es die Probleme unserer Gesellschaft in die Verantwortung von denen verschiebt, die mit diesen Problemen am schärfsten konfrontiert sind. Das ist für mich ein Skandal.

10.

Es ist dringend notwendig, Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln – und zwar mit allen gemeinsam, seien sie Eingeborene oder Zugewanderte. Dort wo es um Probleme des Zusammenlebens geht, die die Identität des Einzelnen berühren, seine Werte, seine politischen, religiösen Vorstellungen vom Leben, gibt es in der Demokratie nur eine Möglichkeit, die Verschiedenheit der einzelnen Individuen zu organisieren: den gleichberechtigten Dialog der freien Bürgerinnen und Bürger, die sich gegenseitig respektieren. Es steht einer Partei nicht an, in den Freiheitsgrundsatz der politischen Subjekte einzugreifen. Es würde ihr aber gut anstehen, zum Initiator und Motor eines öffentlichen gesellschaftlichen Dialogs zu werden: Wie wollen wir zusammen leben?

Kofi Annan hat 2001 mit seiner Initiative Brücken in die Zukunft (Frankfurt a.M.,2001) "a Group of Eminent Persons" beauftragt, Vorschläge für den Dialog der Kulturen zu entwickeln. Diese 19 Personen haben ein Manifest vorgelegt, in dem die Grundlagen des Dialogs beschrieben werden. Ich plädiere dafür, dem Vorschlag Kofi Annans zu folgen und eine "Gruppe von 19 wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens" aus den unterschiedlichen Kulturen unserer Gesellschaft zu berufen, die einen öffentlichen Dialog über gemeinsame Werte für das Zusammenleben in unserer Demokratie initiieren soll: auf der Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen.

 

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Barbara Weber arbeitet als freiberufliche Kulturmanagerin in ihrer Kulturwerkstatt in Hannover. Sie organisiert seit 15 Jahren interkulturelle Kulturprojekte und war Mitarbeiterin des Referats für Interkulturelle Angelegenheiten der Stadt Hannover.