Religiöse NGOs im Kontext der Vereinten Nationen

von Karsten Lehmann

Zum Konzept der postsäkularen Gesellschaft:
Nach den Attentaten vom 11. September 2001 hat sich Jürgen Habermas erneut als einer der bedeutendsten deutschen Zeitdiagnostiker erwiesen. In seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (am 14. Oktober 2001) hat er einerseits einen der ersten substantiellen deutschsprachigen Kommentare zu den Ereignissen vorgelegt, die seitdem zu einem Signum der globalen Öffentlichkeit geworden sind. Andererseits führte er mit dem Terminus ‚postsäkulare Gesellschaft’ einen Begriff in die Debatte ein, der die grundsätzliche Verunsicherung beschreibt, die von diesen Ereignissen ausging und noch immer ausgeht:

"Die beiden traditionellen Lesarten der Säkularisierungstheorie „machen denselben Fehler. Sie betrachten Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der einen, den haltenden Mächten von Religion und Kirche auf der anderen Seite. [...] Dieses Bild passt nicht zu einer postsäkularen Gesellschaft. [...] Ausgeblendet wird die zivilisierende Rolle eines demokratisch aufgeklärten Commonsense, der sich im kulturkämpferischen Stimmengewirr gleichsam als dritte Partei zwischen Wissenschaft und Religion einen eigenen Weg bahnt.“ (Habermas 2001, S. 12f)

Habermas verbindet mit dem Begriff der postsäkularen Gesellschaft also nichts Geringeres als eine grundsätzliche Neuverortung von Religion im gesellschaftspolitischen Feld. Die damit angestoßene Diskussion hat seitdem zunehmend an Dynamik gewonnen. Am spektakulärsten waren hier wohl die Gespräche zwischen den vermeintlichen Antipoden Habermas und Joseph Kardinal Ratzinger (Habermas / Ratzinger 2005) sowie die Veröffentlichung der (bereits 1994 geführten) Diskussionen der Philosophen Jaques Derrida, Gianni Vattimo, Hans-Georg Gadamer und Vincenzo Vitiello unter dem schlichten Titel ‚Religion’ (Derrida / Vattimo 2001). Jüngst sind es der katholische Theologe Hans-Joachim Höhn (2007) und der Soziologe Karl Gabriel (Gabriel / Höhn 2007), die diese Debatte in der Bundesrepublik mit mehreren Studien weitergeführt und systematisiert haben.

Umso erstaunlicher mutet es an, dass die Auseinandersetzung um die Strukturen der postsäkularen Gesellschaft durch einen grundlegenden Bias geprägt ist, dem bislang kaum widersprochen wurde:

  • Der Anstoß zu dieser Debatte geht weitgehend von Randphänomenen aus dem muslimischen Bereich aus, welche pars pro toto für ‚den Islam’ oder gar ‚die Religion’ gesetzt werden.
  • Als Ausgangspunkt der aktuellen Entwicklungen wird meist die Revolution im Iran von 1979 identifiziert, so dass eine weitere historische Rahmung kaum notwendig erscheint.
  • Religion wird primär mit Blick auf konflikt- oder friedenschaffende Potentiale diskutiert und die ambivalente Vielschichtigkeit des Verhältnisses zwischen Religion und Politik bleibt häufig außen vor.

Mit dieser Schwerpunktsetzung geraten bedeutsame Handlungsfelder ´der Religionen´ fast völlig aus dem Blick. So ist eine Vielzahl von Religionsgemeinschaften beispielsweise bereits seit Jahrzehnten in die Arbeit internationaler politischer Institutionen (wie den Vereinten Nationen, UNICEF oder der Weltbank) integriert und ist auf diesem Wege zu einem konstitutiven Teil der internationalen Zivilgesellschaft geworden. Ein Prozess, welcher nicht nur die internationale Politik bei weitem nachhaltiger beeinflusst hat, als die Attentate des 11. September, sondern auch die internen Strukturen der jeweiligen Religionsgemeinschaften nachdrücklich prägt.

Bislang ist dieser Bereich wissenschaftlich kaum untersucht worden (Knox 2002). Der folgende Beitrag soll einen religionswissenschaftlicher Einblick in die globalen Verhältnisse zwischen Religion und Politik ermöglichen und damit zur Differenzierung der aktuellen Debatte um die Strukturen der postsäkularen Gesellschaft beitragen.

Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) im Kontext der Vereinten Nationen

Um sich diesem Ziel anzunähern gilt es zunächst, den Kontext religiösen Engagements bei internationalen politischen Institutionen zu skizzieren: Als Ausgangspunkt kann dabei der Völkerbund dienen, der im Jahr 1919 als ein internationaler Staatenbund etabliert wurde, welcher durch diplomatische Kontakte u.a. einen weiteren Weltkrieg vermeiden sollte (Baumgart 1987; Rittberger / Mogler / Zangl 1997). Die tatsächlichen Einflussmöglich¬keiten des Völkerbundes waren aber von Anfang an nur sehr begrenzt und wurden durch den Ausschluss oder den Austritt zentraler Staaten wie des Deutschen Reiches, der Sowjetunion, Japans und Italiens weiter minimiert. Dies führte zunächst zu einem Bedeutungsverlust und letztlich zur Selbstauflösung im Jahr 1945 (Pfeil 1976).

Trotzdem kam es bereits zwei Monate nach dem offiziellen Ende des Völkerbundes zur Gründung der Vereinten Nationen, deren Charta am 24.10.1945 (a) die Friedenssicherung, (b) den Menschenrechtsschutz sowie (c) die weltweite Förderung der Bereiche Wirtschaft, Entwicklung und Umwelt als Kernaufgaben der neu entstandenen Organisation festschrieb (Gareis / Varwick 2003; Opitz 2002; König 2005). Um diese Ziele herum entstand in den Folgejahren das sog. ‚System der Vereinten Nationen’, dessen Unterorganisationen (wie UNICEF, Weltbank oder UNHCR) die vielfältigen Politikfelder der neuen Weltordnung abbilden und in diesen Feldern weitgehend eigenständig agieren (United Nations Department of Public Information 2004).

De iure handelt es sich auch bei den Vereinten Nationen um einen Staatenbund, der aus autonomen Nationen gebildet und von diesen finanziert wird. De facto haben sie sich jedoch zu einer differenzierten, globalen Diskursinstitution entwickelt, deren Gremien bis zu einem gewissen Grad eine eigene politische Agenda verfolgen. Dies gilt für die Menschenrechtsdebatte ebenso wie für die Diskussion um die Grundlagen gerechter internationaler Gewaltausübung oder die Formen internationalen Wirtschaftens. In jedem dieser Bereiche kommt den Vereinten Nationen eine symbolische Bedeutung zu, die – trotz der anhaltenden Kontroversen um ihre konkrete politische Wirksamkeit – weitgehend unbestritten ist (Meisler 1995; Fasulo 2004).1

In Bezug auf die Rolle der Religionsgemeinschaften sind hier vor allem die Nicht-Staatlichen Organisationen (NGOs) bedeutsam. AutorInnen wie Josselin / Wallace (2001) und Keohane / Nye (1981) beschreiben mit diesem Begriff ein Phänomen, das interessanterweise selbst wiederum im Kontext der Vereinten Nationen (Artikel 71 der Charta) entstanden ist:

„The Economic and Social Council may make suitable arrangements for consultations with non-governmental organization which are concerned with matters within its competence.“

Die Charta der Vereinten Nationen eröffnet mit Artikel 71 somit einen Handlungskontext, der die Logik eines Staatenbundes durchbricht und von einer zunehmenden Zahl nicht-staatlicher Gruppierungen genutzt wird. Gegenwärtig besitzen etwa 1000 Organisationen den allgemeinen oder speziellen Konsultativstatus und sind somit offiziell im Rahmen der Vereinten Nationen aktiv. Die formale Zuerkennung des NGO-Status erfolgt dabei durch ein eigenes NGO-Committee, welches aus offiziellen staatlichen RepräsentantInnen besteht und dessen nationale Zusammensetzung sich in regelmäßigen Abständen verändert.

Status der Religionsgemeinschaften als ‚Religiöse Nicht-Regierungsorganisationen’ (RNGOs)

Unter den ca. 1000 akkreditierten NGOs lassen sich gegenwärtig etwa 200 Gruppierungen identifizieren, die sich selbst als religiöse NGOs (RNGOs) bezeichnen. Diese RNGOs beziehen sich entweder auf religiöse Glaubenssysteme (wie etwa die Lutheran World Federation oder die World Fellowship of Buddhists) oder sind auf der strukturellen Ebene an religiöse Organisation angeschlossen (wie etwa Caritas International oder die Al-khoei Foundation).

Ihre Anzahl hat (auf Grund eines anhaltenden Interesses an der Kooperation mit den Vereinten Nationen sowie veränderter Zugangsmodalitäten) seit den 1940er Jahren stetig zugenommen: In den fünf Jahren nach 1945 wurde insgesamt 10 Religionsgemeinschaften der spezielle oder allgemeine NGO-Status verliehen. In den Jahren zwischen 1950 und 1989 kam jährlich etwa eine weitere RNGO hinzu. In den 1990er Jahren wurden es dann 72 und in den 2000er Jahren bislang 79 RNGOs, die den Akkreditierungsprozess erfolgreich durchlaufen haben. So hat sich ein weites Feld entwickelt, das sowohl in Bezug auf die religiöse Prägung wie auch die institutionelle Verfasstheit der einzelnen RNGOs ausdifferenziert ist.

  • Über die Hälfte der RNGOs stammt aus dem christlichen Bereich (113). Die zweite große Gruppe  entstammt unterschiedlichen Spielarten des Islams (29), gefolgt von inter-religiösen Vereinigungen (15) und jüdischen Gruppierungen (11), sowie AkteurInnen mit buddhistischem und hinduistischem Hintergrund (je 6).
  • Die Mehrzahl der RNGOs besteht aus religiösen Wohlfahrtsverbänden, die sich v.a. für die Politik der Vereinten Nationen im Bereich der Wohlfahrtspflege interessieren. Daneben stehen nationale oder internationale Dachorganisationen, die sich in erster Linie als Sprecher für die Belange der in ihnen zusammengeschlossenen Religionsgemeinschaften verstehen. Schließlich sind inter-konfessionelle oder inter-religiöse Verbände vertreten, die sich selbst als die genuinen religiösen Gesprächspartner der Vereinten Nationen sehen.

Zwischen diesen RNGOs und den Vereinten Nationen haben sich inhaltliche Interdependenzen entwickelt, die sich in vielfältigen Formen gegenseitiger Einflussnahme niederschlagen. Diese lassen sich an drei Beispielen illustrieren:

Inhaltliche Interdependenzen zwischen RNGOs und Vereinten Nationen

  1. Das erste Beispiel betrifft das Verhältnis der RNGOs zu den Vereinten Nationen selbst. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieß die Gründung der Vereinten Nationen zunächst weltweit auf breite öffentliche Resonanz und wurde auch innerhalb der Religionsgemeinschaften kontrovers diskutiert. Einerseits wurde die bereits gegenüber dem Völkerbund vorgebrachte Kritik wiederholt, es handele sich um eine säkulare Institution, welche allein auf staatlichen Interessen basiere und z. B. mit der Katholizität des Christentums unvereinbar sei (Egger 1920). Andererseits zählte die religiöse Friedensbewegung zu den positiven Ideengebern, welche die Gründung des Völkerbundes sowie der Vereinten Nationen maßgeblich vorbereitet haben und ihnen grundsätzlich positiv gegenüber standen (Cortright 2008).

    Vor diesem Hintergrund begegneten sich die beiden politischen Weltorganisationen und die großen weltumspannenden religiösen (zumeist christlichen) Verbände bereits frühzeitig als Verhandlungspartner, die ‚auf Augenhöhe’ miteinander kooperieren und konkurrieren wollten. Am deutlichsten werden die daraus resultierenden Interdependenzen beim World Council of Churches (WCC), der sich seit seiner Gründung als Sprecher des ökumenischen Christentums verstand. Seit den frühen 1940er Jahren entstand so eine kritisch distanzierte Zusammenarbeit, welche die konkreten Formen des politischen Handelns im Kontext der Internationalen Beziehungen nachdrücklich prägte (Hudson 1969; Hudson 1977; Kramer 1986; Ahsan 1988)

  2. Das zweite Beispiel stammt aus dem Bereich der Menschenrechtspolitik. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt gemeinhin als eines der bedeutendsten Dokumente der Vereinten Nationen. Weniger bekannt ist hingegen die Tatsache, dass sie auch zu den größten Erfolgen der (christlichen und jüdischen) RNGOs und ihrer RepräsentantInnen gerechnet werden kann. Diese hatten nicht nur die allgemeine Verankerung der Menschenrechte in der Präambel der Vereinten Nationen sondern auch die konkrete Formulierung des Art. 18 zur Religionsfreiheit nachdrücklich beeinflusst. Von zentraler Bedeutung war hier u. a. O. Frederick Nolde, der zunächst als Repräsentant des amerikanischen Federal Council fo Churches (FCC) und später des World Council of Churches (WCC) an den Verhandlungen in San Francisco, Genf und Paris teilgenommen hatte (Nurser 2005; Warren 1997).

    Umso interessanter ist die Beobachtung, dass die Menschenrechtscharta innerhalb der Religionsgemeinschaften durchaus zu Gegenreaktionen geführt hat. Hier lassen sich mindestens zwei Szenarien unterscheiden: Muslimische Gemeinschaften waren an den Beratungen der 1940er Jahre kaum beteiligt. Dokumente zum sog. ‚regionalen Menschenrechtsschutz’ (die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1981 und die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990) machen deutlich, wie der umfassende Anspruch der Menschenrechtserklärung gerade in der kritischen Auseinandersetzung zu grundlegenden Veränderungen führte. Aber auch im christlichen Bereich fand die Universal Declaration nicht immer uneingeschränkte Anerkennung. RepräsentantInnen der römisch-katholischen Kirche haben ihre konkrete Ausformulierung bspw. maßgeblich geprägt. Trotzdem setzte sich die Zustimmung zu den liberalen Freiheitsrechten nur langsam durch, so dass man frühestens seit dem aggiornamento der späten 1960er Jahre von einer weitgehenden (wenn auch nicht allgemeinen) Akzeptanz sprechen kann (Hanson 1987).

  3. Schließlich noch ein Beispiel aus dem Kontext der Wirtschaftspolitik: In diesem Bereich standen die Vereinten Nationen über lange Zeit für das Prinzip einer liberalen Politik in der Tradition der GATT-Abkommen (1955) und Bretton Woods (1947). Vor allem die Worldbank und die World Trade Organisation (WTO) haben diese Politik über weite Strecken vertreten und vielerorts auch die politischen Instrumente besessen, um sie durchzusetzen. Eine grundlegende Orientierung, die sich in den vergangenen Jahren erst langsam verändert hat. Auch an diesem Prozess haben die RNGOs zumindest mitgewirkt.

So haben sich die RepräsentantInnen des World Council of Churches (WCC) seit einigen Jahren zu dezidierten KritikerInnen dieser Form der Wirtschaftspolitik entwickelt und sich im Verbund mit anderen NGO-RepräsentantInnen für eine Modifikation der Weltwirtschaftsordnung eingesetzt (Mshana 2005). Als weltweiter christlicher Dachverband fordert der WCC lokale Formen effektiven Wirtschaftens und wendet sich gegen eine vorschnelle Vereinheitlichung der Wirtschaftssysteme. Die damit angestoßene Debatte geht weit über die professionellen Zirkel der Vereinten Nationen hinaus. In Teilen der Ökumenischen Bewegung ist sie inzwischen sogar so weitgehend verankert, dass sich die Kritik am Wirtschaftsliberalismus – unter dem Stichwort ‘new, just, global order’ – zu einer zentralen Kategorie der theologischen Debatte entwickeln konnte (World Council of Churches 1999).

Die Liste solcher inhaltlichen Interdependenzen zwischen RNGOs und den Vereinten Nationen ließe sich um viele Punkte erweitern: Für die Quaker und die Mennoniten ist beispielsweise die Frage nach weltweiten pazifistischen Konfliktlösungen zentral; im Rahmen der römisch-katholischen Kirche sind in den vergangen Jahren vor allem die HIV/AIDS-Pandemie und die universalen Grenzen der Reproduktionsbiologie diskutiert worden; der World Jewish Congress hat sich besonders mit den Auswirkungen des Konflikts im Nahen Osten befasst und die muslimischen Religionsgemeinschaften werden seit 2001 besonders mit den Fragen der Terrorismusbekämpfung konfrontiert. In jedem dieser Fälle versuchen akkreditierte Religionsgemeinschaften zum einen ihre eigenen Ansichten zur Internationalen Politik u.a. über die Vereinten Nationen durchzusetzen. Zum anderen werden sie durch die so entstandenen inhaltlichen Debatten wiederum selbst beeinflusst und geprägt.

Angesichts dieser vielfältigen Interdependenzen stellt sich die Frage nach den konkreten AkteurInnen, die diese Prozesse tragen. Hierbei sind zwei Ebenen zu unterscheiden: Zunächst fällt das Augenmerk auf die offiziellen RepräsentantInnen der RNGOs. Auf einen zweiten Blick treten außerdem die vielschichtigen Netzwerke zutage, in welche diese RepräsentantInnen eingebunden sind.

Konkrete Aktivitäten der RepräsentantInnen der RNGOs

Bereits ein erster Besuch auf den Websites der RNGOs macht deutlich, dass sich ihre RepräsentantInnen in Bezug auf ihre institutionelle Anbindung, die personelle und finanzielle Ausstattung ihrer Büros sowie ihre Betätigungsfelder stark voneinander unterscheiden. Die Baha’i und die Quaker unterhalten in New York City große Büros mit jeweils etwa 10 Angestellten. Eine vergleichbare Ausstattung besitzt die Churches Commission on International Affairs (CCIA), des World Council of Churches, die World Conference of Religions For Peace (WCRP) oder der World Jewish Council (WJC). Andere RepräsentantInnen erfüllen ihre Aufgaben jedoch weitgehend als Einzelperson nebenberuflich oder ehrenamtlich und verfügen zumeist nur über ein kleines Büro.

Trotz dieser Unterschiede können einige Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden. Der Arbeitsalltag der RNGO-RepräsentantInnen ist zunächst durch die Kooperation mit anderen RepräsentantInnen im Kontext der Vereinten Nationen geprägt. Bereits in den 1920er Jahren entstanden unter den NGOs Zusammenschlüsse, die von Seiten des Völkerbundes unterstützt wurden und an denen religiöse VertreterInnen beteiligt waren. In den Akten des Völkerbundes wird bspw. überliefert, wie sich die RepräsentantInnen der Young Men’s Christian Association (YMCA) an dem ersten Versuch beteiligten, die Kooperation zwischen den Nicht-Regierungsorganisationen zu koordinieren. Die RepräsentantInnen der Young Men’s Christian Association, von pro familia und der Conference of Jewish Associations for the Protection of Girls and Women beteiligten sich auch an den humanitären Aktivitäten des Völkerbundes, indem sie sich für die Unterstützung von Flüchtlingen sowie gegen den Frauenhandel einsetzten (Archiv des Völkerbundes: File International Consultative Group (ICG)).

Dieses Engagement setzt sich bis in die Gegenwart fort und hat inzwischen zu intensiven Kooperationen geführt. Von der Repräsentantin der Baha’i wurde im Rahmen eines ExpertInneninterviews bspw. beschrieben, wie sich ihre MitarbeiterInnen im NGO-Committee on the Status of Women, im NGO-Committee on Freedom of Religions or Belief und im Committee of Religious Non-Governmental Organizations at the United Nations engagieren. Die Repräsentantin von World Vision betonte, dass sie mit der Women’s Commission, der Northern Uganda-Working-Group, der Working-Group on Children in Armed Conflicts und der NGO Working Group on the Security Council zusammenarbeite.

Neben diesen allgemeinen Netzwerken haben sich in Genf und New York City außerdem spezielle Zusammenschlüsse von RNGOs entwickelt, die deren Kooperation fördern und ihre Interessen bündeln sollen:

  • Zu den ältesten dieser Zusammenschlüssen zählt das International Catholic Organisations Information Center, das 1946 als Dachorganisation von Laienorganisationen gegründet wurde und sich seitdem zunehmend zu einer selbständigen NGO entwickelt hat. 
  • In den 1960er Jahren baute die Frauenorganisation der American Baptists das Church Center for the United Nations (CCUN), das dem Hauptsitz der Vereinten Nationen gegenüberliegt und in dem sich die Büros von etwa 40 RepräsentantInnen christlicher und interkonfessioneller NGOs befinden. 
  • Beim Committee of Religious Non-Governmental Organizations at the United Nations handelt es sich um einen inter-religiösen Zusammenschluss von religiösen RepräsentantInnen, dessen Mitglieder sich seit 1972 regelmäßig treffen. 
  • Das jüngste Netzwerk dieser Art ist das Tripartite Forum on Interfaith Cooperation for Peace, welches im Juni 2005 das erste Mal zusammenkam und seitdem sehr intensiv mit dem Weltwirtschaftsrat kooperiert.

Dieses weit verzweigte Netz aus offiziellen Kommissionen und inoffiziellen Kooperationen sollte aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass sich das Engagement der RNGOs letztlich auf die Aktivitäten ihrer RepräsentantInnen reduzieren lasse. Alle Interviewpartner haben vielmehr weitläufige, formelle wie informelle Netzwerke beschrieben, welche diejenigen miteinander verbinden, die sich innerhalb einer Religionsgemeinschaft für Themen der Vereinten Nationen interessieren. Diese themenbezogenen Netzwerke können lockere Initiativen auf internationaler, nationaler oder regionaler Ebene ebenso umfassen, wie die zuständigen ExpertInnen in den religiösen Hierarchien oder engagierte Einzelpersonen, wobei die Wege zwischen den Netzwerkknoten meist sehr kurz sind. Überspitzt formuliert kann man von Vergemeinschaftungsformen sprechen, die sich um das Engagement im politischen Kontext der Vereinten Nationen bilden und dazu in den betreffenden Religionsgemeinschaften verankert sind.

Von besonderem religionswissenschaftlichem Interesse ist dabei die Beobachtung, dass die Netzwerkbeziehungen nicht auf die jeweiligen Religionsgemeinschaften beschränkt bleiben. Geht es beispielsweise um entwicklungspolitisches Engagement bei den Vereinten Nationen, so kooperieren katholische Gemeinschaften wie Kolping International durchaus mit jüdischen, adventistischen oder gewerkschaftlichen NGOs, die ähnliche Ziele vertreten. Politische Interessen scheinen in diesen Netzwerken bedeutsamer zu sein als religiöse Unterschiede. So etablierten sich eigenständige Netzwerke, die sich mit den Themen der Vereinten Nationen beschäftigen und sich durch eigene Zusammenschlüsse und informelle Kontakte auszeichnen.

Diese letzten Bemerkungen führen zurück zur eingangs skizzierte Debatte um die postsäkulare Gesellschaft.

Lange Traditionen internationalen zivilgesellschaftlichen Engagements

Wie zu Beginn dieses Aufsatzes angedeutet, hilft der Blick auf die Entwicklung der religiösen NGOs im Rahmen der Vereinten Nationen dabei, ein differenzierteres Bild von der Rolle der Religionen in den Internationalen Beziehungen zu entwickeln. Drei Punkte gilt es dabei hervorzuheben:

  • Der rechtliche Status einer akkreditierten Nicht-Regierungsorganisation wurde von Seiten der Religionsgemeinschaften bereits frühzeitig angestrebt und von Seiten der Vereinten Nationen ebenso schnell zuerkannt. Das damit verbundene Engagement blickt also auf eine sehr viel längere Geschichte zurück, als es die Debatte um die postsäkulare Gesellschaft erwarten lässt.
  • Dabei werden die Aktivitäten im Kontext der Vereinten Nationen von einem breiten Spektrum religiöser Wohlfahrtsverbände, nationaler oder internationaler Dachorganisationen sowie inter-konfessioneller oder inter-religiöser Verbände getragen. Es fällt schwer, diese mit einer einzelnen Kategorie hinreichend zu beschreiben.2
  • Trotzdem lässt sich ein allgemeiner Trend beobachten, der an dieser Stelle unter allem Vorbehalt als ein weitgehendes zivilgesellschaftliches Engagement von Religionsgemeinschaften innerhalb der Internationalen Politik beschrieben werden kann. Religionsgemeinschaften haben die Arbeit der Vereinten Nationen nachdrücklich beeinflusst. Sie werden aber auch selbst wiederum von diesem Engagement geprägt.

Die Dialektik dieser Entwicklungen hat zu langfristigen und grundlegenden Veränderungen geführt. Die RNGOS sind ein bedeutsamer Teil sich zunehmend etablierender zivilgesellschaftlichen Strukturen geworden. Um dies auf eine einfache Formel zu bringen: Die postsäkulare Gesellschaft blickt auf eine bei weitem längere Geschichte zurück, als dies bislang den Anschein hatte. Die damit verbundenen Entwicklungen sind aber auch bei weitem vielfältiger und weniger eindeutig, als dies die aktuelle Debatte vermuten lässt.

Endnoten

Dieser Beitrag basiert maßgeblich auf Archivstudien und ExpertInneninterviews, die der Autor im Rahmen eines Projekts am Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur (IrG) der Universität Bayreuth durchgeführt hat.

1 Eine eigene Religionspolitik wird von den Vereinten Nationen interessanterweise nur in Bezug auf das Menschenrecht auf Religionsfreiheit verfolgt.

2 Angesichts der großen Zahl und vielfältigen Sozialformen der RNGOs ist es erstaunlich, dass der Schwerpunkt so eindeutig auf Gemeinschaften aus dem christlichen Bereich liegt. Dieser Punkt kann an dieser Stelle aber nicht weiter diskutiert werden.

 

Literatur

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Dr. Karsten Lehmann ist Religionswissenschaftler an der Universität Bayreuth. Seine Schwerpunkte sind religiöser Pluralismus in Deutschland, Religionen in den internationalen Beziehungen und Methoden der qualitativen Religionsforschung.