Muslimische Organisationslandschaft im Umbruch?

Gläubige beim Gebet in einer Moschee
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Gläubige beim Gebet in einer Moschee

 

von Kathrin Klausing

Muslimische Organisationen in Deutschland – ein Überblick

Die Entwicklung muslimischer Selbstorganisationen in Deutschland lässt sich anhand mehrerer, zeitlich nicht abgeschlossener Entwicklungsphasen skizzieren: Bereits während der ersten großen Zuwanderungsphase Nachkriegsdeutschlands in den 1960er Jahren bildeten sich vereinzelte und lokal gebundene Kultur- bzw. Moscheevereine, die aufgrund der nur sehr begrenzt vorhandenen Mittel häufig Räume in Gewerbegebieten oder unattraktiven Wohngegenden anmieteten  – die so genannten Hinterhofmoscheen. Diese Vereine sind aus dem Bedürfnis entstanden, einem gemeinsamen Kultur- und Religionsverständnis Raum zu geben, die Rituale gemeinsam auszuüben und die Feste gemeinsam zu feiern. Sie bestehen zu einem großen Teil noch heute, und es kommen immer neue hinzu.

Seit den 1970er Jahren entwickelten sich aus einem Teil dieser Vereine die großen Moscheedachverbände – die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG), der Verband der islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ) als Reaktion darauf in den 1980er Jahren die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religionen e.V. (DITIB) und zuletzt der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD). Deren Ziel bestand einerseits in einer institutionalisierten Repräsentation ihrer Mitglieder und deren Belange gegenüber politischen und gesellschaftlichen AkteurInnen in der deutschen Gesellschaft. Andererseits sollten die jeweiligen religiösen und/oder politischen Ausrichtungen in den Moscheen gebündelt und die Vereinsmitglieder an eine größere Organisation gebunden werden. Die Gründung des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland (KRM) im Jahr 2007 als Reaktion auf staatliche Forderungen nach einem einheitlichen Ansprechpartner in Bezug auf den islamischen Religionsunterricht kann aus heutiger Perspektive als Höhepunkt dieser Entwicklung betrachtet werden.

Diese etablierten muslimischen Moscheevereine und -verbände sehen sich in der letzten Zeit einer massiven Kritik ausgesetzt, die in Teilen sicherlich ihre Berechtigung hat, hier aber nicht zur Bewertung stehen soll. Sie sind weiterhin die entscheidenden Institutionen des religiös-muslimischen Lebens in Deutschland: es gibt keine anderen Orte, die relevante Kernangebote wie das Gemeinschaftsgebet zu allen Tageszeiten, das Freitagsgebet, Hadschorganisation, Zakatannahme und -verwaltung, Festgebete, Koranunterricht, Totenwäsche und Begräbnisse usw. zuverlässig zur anbieten und organisieren. Sie bieten zudem einen sozialen Raum für einen großen Teil der MuslimInnen in Deutschland, bspw. durch ihre Freizeit- und Bildungsangebote, die von Tausenden muslimischen Jugendlichen und Kindern genutzt werden. Hier ist der Ort, an dem auch in Zukunft Vorstellungen über Geschlechterrollen, Familienleben und Erziehung für einen Großteil der MuslimInnen in Deutschland geprägt werden. Eine Einschätzung der derzeitigen Veränderungen in der muslimischen Vereinslandschaft muss diese Gegebenheiten im Blick haben, um eine realistische Bewertung über und Erwartungshaltung an die jeweiligen – neuen wie etablierten – muslimischen Organisationen zu entwickeln.

Muslimische Organisationen außerhalb der Moscheen – Ort für Reformen?

Ab Mitte der 1990er Jahre begann eine Phase, die bis heute andauert und sich gleichzeitig in den vergangenen Jahren noch einmal verstärkt hat. Es entstanden spezifische (in sich differenzierte) Vereine vor allem im Bereich der Frauen-, Jugend- und Bildungsarbeit. Zu nennen sind hier das Huda – Netzwerk für muslimische Frauen e.V. (gegr. 1996), die muslimische Jugend (gegr. 1995), das Zentrum für Islamische Frauenforschung und Frauenförderung e.V. (gegr. 1995) oder auch das Institut für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik. All diese Bereiche wurden und werden bis zu einem gewissen Grad auch von den muslimischen Dachverbänden und ihren Unterorganisationen abgedeckt, weil sie in diesen Bereichen selbst Angebote machen. Die inhaltliche Ausrichtung der moschee- und verbandsunabhängigen Vereinsgründungen unterscheidet sich von den großen Verbänden jedoch vor allem in der Deutschsprachigkeit ihres Angebots und damit in der Zugänglichkeit für eine immer größer werdende Gruppe von MuslimInnen in Deutschland. Außerdem sind diese Vereine im Vergleich mit den großen Verbänden vor allem eines: klein. Nur ein Beispiel zur Verdeutlichung: unter den moscheeunabhängigen Vereinen dürfte die Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) mit ihren nach eigenen Angaben zwei- bis dreihundert Mitgliedern und mehr als 1000 TeilnehmerInnen auf ihren jährlich stattfindenden Treffen zu den ganz Großen gehören: Allein im Vergleich mit dem VIKZ, dem drittgrößten muslimischen Dachverband mit nach eigenen Angaben rund 24.000 ordentlichen Mitgliedern (diese Zahl beinhaltet nur einen Bruchteil der tatsächlich vom VIKZ erreichten Gemeindemitglieder) erscheint selbst die MJD sehr klein.#

Neue Organisationen: Selbstbild, innermuslimischer Positionierung und Außenwahrnehmung

Im vergangenen Jahr war nun eine weitere Diversifizierung der muslimischen Vereinslandschaft  zu beobachten: Mehrere Neugründungen fanden statt, teils Ergebnisse längerer Vorbereitungen wie das Aktionsbündnis muslimischer Frauen (AmF), teils Markierungen eines neuen Beginns wie der Liberal-Islamische Bund e.V. (LiB e.V.). Eine Zeit lang schien es, als wäre – vielleicht auch durch die Nachwirkungen des 11. September 2001 und die zunehmende Frustration innerhalb von Teilen der muslimischen Community durch die großen Verbände und/oder durch Inhalt und Art der staatlichen und medialen Integrationsdebatten – die muslimische Vereins- und Projektfreude zum Stillstand gekommen. Die Neugründungen der letzten Monate zeigen aber, dass das nicht der Fall ist. Dabei standen vor Allem die Gründung des LiB e.V. und des Verbands Demokratisch-Europäischer Muslime (VDEM) im Mittelpunkt des medialen und auch innermuslimischen Interesses, was vorrangig an deren theologischer Orientierung liegen mag. Andere neue Organisationen sind der Rat muslimischer Studierender und Akademiker (Ramsa), das (noch) nicht institutionalisierte Netzwerk junger muslimischer Köpfe namens Zahnräder oder auch die jüngst ausgezeichnete Lichtjugend aus Berlin Neukölln sowie der Bildungsverein Tugra e.V.

Selbstbild und Zielsetzung

Bei allen hier besprochenen Organisationen ist es aufgrund ihrer kurzen Existenz schwierig, Aussagen und Bewertungen zu treffen. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit sich diese Vereine weiter entwickeln werden z.B. in der organisatorischen, strukturellen und inhaltlichen Ausrichtung der Mitgliederversammlung und Vereinsarbeit. Nicht zuletzt weil Vereinsarbeit ein zeitintensiver und langwieriger Prozess ist, kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Evaluation über die Wirkungsweise und Effektivität der Vereins- und/oder Projektarbeit gemacht werden.

Fast ausnahmslos sind die Mitglieder dieser neuen Vereine AkademikerInnen, bzw. die Vereine wurden von AkademikerInnen gegründet. Auch gemein ist ihnen ihre Deutschsprachigkeit. Der VDEM oder auch LiB e.V. wollen die derzeitige politische Repräsentation von MuslimInnen in Deutschland durch die großen Verbände organisatorisch ergänzen, was wohl zumindest für den LiB e.V. auch der Grund gewesen sein dürfte, Mitglieder anderer Islamverbände von einer ordentlichen Mitgliedschaft auszuschließen.

Das Projekt Zahnräder ist aus dem Bedürfnis acht junger MuslimInnen entstanden, die Vorstellungen und Ideen von anderen MuslimInnen zum Thema gesellschaftliche Teilhabe zu vernetzen, diese dadurch kennen zu lernen und im besten Falle voneinander profitieren zu können. Zahnräder will eine Plattform ohne Repräsentationsanspruch sein und vorrangig in die muslimische Community hineinwirken.

Das AmF sieht sich als eine Interessensvertretung muslimischer Frauen, die diesen im gleichstellungs- und integrationspolitischen Bereich eine Stimme geben will. Weiterhin soll der Verein der Vernetzung muslimischer Frauen auf Bundesebene dienen. Die Mitgliedschaft im AmF soll verbandübergreifend und auch davon unabhängig sein, so sind dort sowohl Frauen aus allen muslimischen Dachverbänden und Communities vertreten, als auch Frauen, die bis dato in keinerlei muslimischer Selbstorganisation tätig waren.

Positionierung und Wahrnehmung innerhalb der muslimischen Community

Die beiden Vereine LiB e.V. und VDEM entstanden nach eigener Aussage aus dem Bedürfnis heraus, eine spezifische – bis dato öffentlich unterrepräsentierte – Lesart des Islams und der Lebensweise von MuslimInnen in Deutschland zu fördern und sichtbar zu machen sowie diesen MuslimInnen eine (bisher nicht organisierte) Stimme zu verschaffen. Dies speist sich u.a. aus dem Eindruck, dass in der öffentlichen Debatte (v.a. durch den medialen Umgang) nur zwei extreme muslimische Positionen vertreten seien: auf der einen Seite die „konservativen“ Verbände und auf der anderen Seite die „aufgeklärten“ Kronzeugen mit Migrationshintergrund. Zwischentöne seien hier nicht mehr hörbar. Der aktuelle Diskurs lebt im Grunde genommen tatsächlich davon, genau diese Zwischentöne nicht wahrzunehmen bzw. nicht wahrnehmen zu wollen und MuslimInnen im Besonderen jegliche Form von Normalität und Individualität abzusprechen. In innermuslimischen Diskussionen hat sich in Bezug auf den LiB e.V. und den VDEM jedoch immer wieder gezeigt, dass für viele MuslimInnen die Frage offen bleibt, ob durch die Verfestigung eines Bildes von „guten“ - weil im Gegensatz zu den „anderen“ MuslimInnen demokratisch bzw. liberalen - MuslimInnen diese Bipolarität nicht doch weiter aufrecht erhalten wird, nur eben mit anderen AkteurInnen. Interessant und für die innermuslimische Diskussion überhaupt erst Voraussetzung wäre hier seitens des LiB e.V. und auch des VDEM eine Ausarbeitung des genauen Verständnisses von liberal-islamischer bzw. europäisch-demokratischer Religion und Theologie.

In der Vereinsvorstellung wird dies zwar in einigen Sätzen angesprochen. Jedoch sind es eher der Kürze der Internetpräsenz wohl angemessene Schlagwörter. Sie lassen offen, mit welcher Bedeutung Konzepte wie „Vernunftoffenheit“, „historischer Kontext“, „zeitgemäße Auslegung“ und „fortschrittlich“ in Bezug auf den Islam und seine Quellen besetzt werden, aber auch was diese überhaupt zu einem liberalen Spezifikum im Gegensatz zu einem „konservativen“ Verständnis macht. Denn genau diese Schlagwörter werden ja auch von „nicht-liberalen“ MuslimInnen jeder Couleur immer wieder betont und für das eigene Religionsverständnis als maßgeblich verstanden. Am VDEM wurde in innermuslimischen Diskussionen vielfach kritisiert, dass dort AkteurInnen Mitglieder sind, die in der muslimischen Community wenig bis keinen Rückhalt genießen wie Bassam Tibi und mutmaßlicherweise Necla Kelek.

Das AmF wiederum sieht sich schon während der langen, durch das BFMSF (Bundesfamilienministerium) begleiteten und geförderten Gründungsphase mit dem Vorbehalt konfrontiert, eine staatlich gesteuerte Organisation zu sein, die durch die Polarisierung Frauenverein vs. männlich dominierter Verband dazu dienen könnte, die etablierten Verbände durch Kritik zu schwächen. Dies hat sich bis dato nicht bewahrheitet, ist der Verein doch bis jetzt in der Vernetzungs- und Mitgliederwerbungsphase. Es wird sich zeigen, inwieweit das AmF in der Lage sein wird, seine Vereinsziele der Vernetzung muslimischer Frauen und der selbstbewussten und authentischen Vertretung ihrer politischen und gesellschaftlichen Anliegen tatsächlich zu verwirklichen.

Zahnräder sieht sich innermuslimisch vor allem mit der Angst vor der Bildung elitärer Zirkel konfrontiert, die die Moscheearbeit verlassen bzw. die Rückbindung an die Verbände und damit die Gemeinden aufgeben und so den Wissens- und Kompetenztransfer unterbinden. Kenner der muslimischen Szenen bemerken immer wieder eine Kluft zwischen muslimischen Intellektuellen und der muslimischen Basis, die oft gar keine gemeinsamen Foren zum Austausch haben und diesen auch nicht gezielt suchen, sei es auf medialer, lokaler oder Bundesebene. Diese Beobachtung beschränkt sich allerdings nicht auf das – relativ junge – Zahnräderprojekt, sondern ist genereller Natur.

Außenwahrnehmung durch die Mehrheitsgesellschaft

Zahnräder wird seitens der Mehrheitsgesellschaft mit dem Vorwurf der Bildung institutionalisierter Parallelgesellschaften, von denen eine Gefahr ausgehe, deren Beschreibung recht diffus ausfällt, belegt. Die OrganisatorInnen von Zahnräder begegnen dieser Kritik, indem sie darauf hinweisen, dass durch die angestrebte Netzwerkbildung eine bestimmte Gruppe – hier MuslimInnen – zu gesellschaftlicher Teilhabe motiviert wird, indem sie eigene Projekte und Ideen selbstbewusst entwickeln, vorstellen und dadurch Teilhabe einfordern können. Außerdem versteht sich das Netzwerk auch als ein Ansprechpartner für die Mehrheitsgesellschaft.  Es kann helfen, Zugang zu ExpertInnen aus der muslimischen Community zu bekommen.

Als problematisch kann bei den Neugründungen der letzten Zeit vor allem die hohe Medienaufmerksamkeit bereits in der Gründungsphase bezeichnet werden. Dabei ist in der medialen Darstellung wenig Proportionalität zu dem bereits Geleisteten der Vereine zu erkennen. Besonders auffällig wirkt hier das Beispiel des VDEM, der seit seiner Gründung im Mai 2010 eine Pressemitteilung, ein Interview und die Verkündung seiner Bereitschaft zur Teilnahme an der Islamkonferenz als Öffentlichkeitsarbeit zu verzeichnen hat. Es ist nicht ersichtlich, welche tatsächliche Arbeit hinter der Außendarstellung betrieben wird.  Verständlich ist zwar, dass ein so junger Verein Zeit zur Entwicklung braucht. Aber sicherlich ist es nicht zu viel erwartet, dass die Öffentlichkeit über weitere Schritte in der Arbeit des Vereins auf dem Laufenden gehalten wird, zumindest über die Internetpräsenz und gerade auch, weil anlässlich der Vereinsgründung die Öffentlichkeit so sehr gesucht wurde.

Gründe für das verstärkte Aufkommen neuer muslimischer Organisationen und Gruppen

Immer wieder ist vor allem die Deutschsprachigkeit eine (wenn auch nicht immer) bewusste Antriebskraft für die Neugründung von Projekten und Vereinen. In den etablierten Verbänden wird diese sprachliche Ausrichtung oft von jungen, in Deutschland sozialisierten Menschen vermisst.

Die Neugründungen der letzten Zeit können durchaus als ein Zeichen des Umbruchs weg von der Fixierung auf eine kulturell-ethnische Heimat, hin zu einem multiethnischen deutsch-muslimischen Gemeinschaftsgefühl gedeutet werden. Sie sollten aber in ihrer reformatorischen Wirkung auf die großen Verbände nicht überschätzt und vielleicht auch nicht automatisch als Konkurrenz gewertet werden. Neue Initiativen sollten sich aber auch nicht für unbedeutend halten, denn vereinzelt besteht durch die konfessionelle und verbandspolitische Neutralität mancher Initiativen durchaus die Möglichkeit, dass durch die Teilnahme von MuslimInnen, die in unterschiedlichen Verbänden beheimatet sind, Impulse, Kritik und Diskussionen ohne Konkurrenzdruck in die Verbände und somit in die breitere muslimische Community getragen werden, was für die innermuslimische Kommunikation sehr zu begrüßen wäre. Hier scheinen die Konzepte, die weniger auf eine gemeinsame theologische Haltung und mehr auf den Netzwerkausbau ausgerichtet  sind, die besseren Voraussetzungen mitzubringen.

 

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Kathrin Klausing ist Islamwissenschaftlerin und promoviert derzeit im Fachbereich Arabistik. Sie schreibt für ihren eigenen Blog www.musafira.de und für den Blog www.nafisa.de.