Bildung konsequent inklusiv gestalten – auch beim Personal

"Ist die Pflege von Klischees ein Kinderspiel" Illustration aus dem Buch "machtWorte!"

Ein Kommentar von Norbert Hocke

„Vielfalt respektieren – Ausgrenzungen widerstehen“, so lautet die Kernaussage des Projektes „Kinderwelten“, das seit nunmehr 12 Jahren Bildung konsequent inklusiv in Tageseinrichtungen für Kinder gestaltet. Für Kinder und für Eltern. Und wo bleiben die Erzieher_innen mit sogenanntem Migrationshintergrund?

Tageseinrichtungen für Kinder sind keine eigene kleine Gesellschaft, sie stellen keinen Schonraum dar, aus dem Konflikte und Probleme der Gesellschaft herausgehalten werden. Die Lebenswelt der Kinder und der Familien soll sich im Kita-Alltag widerspiegeln, so sehen es auch die Bildungs-, Erziehungs- und Orientierungspläne der Länder vor. Tageseinrichtungen für Kinder könnten Vorbild sein für eine andere Form des Zusammenlebens, die Gestaltung einer Welt, in der Vielfalt gelebt wird und die Ausgrenzungen verhindert.

Die Realität sieht oft anders aus: Besuchen ca. 30 Prozent aller Kinder unter drei Jahren eine Krippe oder Kita, so liegt der Anteil bei Kindern mit „Migrationshintergrund“ bei 14 Prozent. Allerdings besuchen ca. 85 Prozent aller Kinder mit Migrationshintergrund eine Einrichtung (Dritter Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes. S. 10/11. BMFSFJ 2012). Deutliche Unterschiede der Nutzung von Kitaplätzen gibt es nicht nur zwischen den neuen- und alten Bundesländern, sondern auch innerhalb von Stadtteilen in den Großstädten.

Anteil von Erzieherinnen und Erziehern mit Migrationshintergrund in Kitas

Aber nur 8 Prozent der Erzieherinnen und Erzieher haben einen Migrationshintergrund, so die Auswertung des Mikro-Zensus, der allerdings detaillierte Angaben über den Migrationsstatus nur alle vier Jahre erhebt. Von daher liegen die Daten aus den Jahren 2005 und letztmalig aus 2009 vor (Dr. Kirsten Fuchs-Rechlin: Die berufliche, familiäre und ökonomische Situation von Erzieherinnen und Kinderpflegerinnen, Sonderauswertung des Mikro-Zensus im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung der GEW, 2010). Wenn man bedenkt, dass der Anteil der Migrantinnen und Migranten in der Altersgruppe der 20- bis unter 65-Jährigen in der Gesamtbevölkerung, laut Mikro-Zensus im Jahr 2009 bei knapp 20 Prozent lag, wird deutlich, dass die Migrantinnen und Migranten unter den pädagogischen Fachkräften deutlich unterrepräsentiert sind.

„Deutlich höher als bei den Erzieherinnen ist der Anteil der Migrantinnen unter den Kinderpflegerinnen. 14 Prozent der Kinderpflegerinnen haben selbst einen Migrationshintergrund, bei den Erziehern beläuft sich dieser Anteil lediglich auf 8 Prozent. Möglicherweise ist die Ausbildung zur Kinderpflegerin gerade für junge Frauen mit Migrationshintergrund der Einstieg zum frühkindlichen Bereich. Dieser Befund erfordert einen kritischen Blick auf aktuelle Entwicklungen in der Ausbildungslandschaft, wonach beispielsweise die Aufstiegsmodalität zwischen den frühpädagogischen Ausbildungsgängen verändert wird. Ein positives Signal für die pädagogischen Berufe insgesamt, aber eventuell nicht für die spezielle Berufsentscheidung von Migrantinnen und Migranten. In den Kitas selbst schaut die Lage wie folgt aus: Einen höheren Anteil an Personen mit Migrationshintergrund findet sich unter den jüngeren Erzieherinnen und Kinderpflegerinnen. Während in der höchsten Altersgruppe der über 55-jährigen Beschäftigten der Anteil bei 4 Prozent liegt, beträgt der Anteil bei den unter 25-Jährigen und bei den 35- bis unter 45-Jährigen gut 9 Prozent. In der Altersgruppe der 25- bis unter 35-Jährigen überschreitet der Anteil der Fachkräfte mit Migrationshintergrund die 10 Prozent Marke.“ (Fuchs-Rechlin 2010:48)

Die wenigen Daten, die wir über Migrantinnen und Migranten als pädagogische Fachkräfte im System der Tageseinrichtungen für Kinder haben, belegen darüber hinaus, dass sie eine höhere Abwanderungsneigung haben und ungünstigere Beschäftigungsbedingungen als die Kolleginnen und Kollegen ohne Migrationshintergrund. Es bedarf einer genaueren Untersuchung, warum dies im Einzelfall so ist. Es wäre eine Aufgabe des Kinder- und Jugendberichtes des Bundes und der Länder, hierüber intensiver zu forschen.

Muttersprachliche Angebote: Vorbild Schweden

Wer die Vielfalt der Gesellschaft in den Tageseinrichtungen der Kinder wieder aufleben lassen möchte, muss endlich andere Wege der Öffnung der Berufsfelder der sozialen Arbeit und der Erziehung gehen. Die Kultusministerkonferenz und die Jugend- und Familienministerkonferenz müssen endlich offensiv dafür eintreten, dass bereits in der Ausbildung die Muttersprachen als zentraler Ausbildungsbereich zur Geltung kommen. Es ist nicht einzusehen, dass Englisch als dominierendes Prüfungsfach gilt, aber Russisch, Polnisch und Türkisch als Angebot oder als AGs nebenbei laufen.

Die Bedeutung der Familiensprache für den Erwerb von „Deutsch als Lebensraumsprache“ wird zurzeit nicht zur Kenntnis genommen. Südtirol und Schweden erkennen zum Beispiel ganz eindeutig das Recht auf die Familiensprache an, versuchen in den Tageseinrichtungen für Kinder in ihren Ländern den Lebensalltag der Kinder dreisprachig bzw. zweisprachig zu gestalten. Jedes Kind hat in Schweden das Recht, zwei Stunden in der Woche die Familiensprache zu hören und zu sprechen. Dies ist selbst in Einrichtungen möglich, wo 10, 12 oder 15 Nationen in einer Gruppe zusammenkommen. Es müssen nicht immer nur Erzieherinnen und Erzieher sein, es können auch Dolmetscherinnen und Dolmetscher sein. Sie bauen Brücken und können Kindern das Gefühl und die Wertschätzung vermitteln, dass ihre Familiensprache in der Kita auch zählt und dass sie sich somit besser in die Lebenswelt Kita einbringen können. Erfahrungen in Schweden zeigen, dass dieser Aspekt der Anerkennung am besten durch Erzieherinnen mit Migrationshintergrund hergestellt wird, aber auch durch Dolmetscherinnen für die Kinder erfahrbar gemacht werden kann. Sie ersetzen selbstverständlich keine Erzieherin sondern ergänzen und unterstützen deren Arbeit.

Von diesen Ansätzen ist Deutschland noch weit weg. Der verzweifelte Versuch mit Sprachtests durch Grundschullehrkräfte in Kindertagesstätten dieses Manko zu beheben, wird nicht nur weiterhin kläglich scheitern. Sondern er führt auch dazu, dass der Respekt für Kinder mit einer anderen Familiensprache nicht vorhanden ist und erschwert darüber hinaus das wichtige Erlernen der Lebensraumsprache Deutsch.

Anerkennung ausländischer Abschlüsse und interkulturelle Öffnung

Ein weiteres Problem, warum Tageseinrichtungen für Kinder sich mit Migrantinnen und Migranten als pädagogische Fachkräfte schwertun, liegt im Anerkennungsverfahren der pädagogischen Berufe aus den Ländern der EU und darüber hinaus aus Ländern außerhalb der EU. Hier müssen Regelungen getroffen werden, das Anerkennungsverfahren so zu regeln, damit Erzieherinnen, die pädagogische Ausbildungen an Hochschulen im Ausland erworben haben, in unseren Kitas als Fachkräfte arbeiten können.

Ein weiteres Problem: Konfessionell gebundene Einrichtungen tun sich schwer, in katholischen und evangelischen Tageseinrichtungen für Kinder Menschen mit muslimischer Religionszugehörigkeit anzustellen. 60 Prozent der Einrichtungen sind in freier Trägerschaft, davon ist ein Großteil in kirchlichen konfessionellen Trägerschaften gebunden. Es ist nicht zu unterstellen, dass all diese Einrichtungen keine muslimische Erzieherinnen einstellen wollen, aber die Einstellungsvoraussetzung lautet in der Regel: Mitglied einer christlichen Glaubensgemeinschaft zu sein. Wer die Stellenanzeigen liest, wird auf diesen Hinweis aufmerksam.

Als Tropfen auf dem heißen Stein kann das Projekt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Liga der Wohlfahrtsverbände und des Runden Tisches Gewerkschaften und Berufsverbände angesehen werden: Mit einer Werbekampagne sollen nicht nur gezielt Männer für den Beruf angesprochen werden, sondern diese Kampagne wendet sich ganz bewusst auch an Menschen mit Migrationshintergrund.  Mit dieser eindeutigen Positionierung ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung gemacht worden. Leider sind diese Kampagnen-Materialien bis heute nicht ins Türkische, Russische und Polnische übersetzt worden.

Fazit

Selbst wenn die deutsche Sprache entscheidend für die weiteren Bildungskarrieren der Kinder ist, muss es eine Möglichkeit geben, in der Familiensprache auch die jungen Menschen und die Eltern davon zu überzeugen, dass der Beruf der Erzieherin, des Erziehers ein notwendiger für die Lebenswelt der Kinder in unseren Tageseinrichtungen für Kinder ist. Erzieherinnen und Erzieher mit Migrationshintergrund sind notwendig, weil sie in unterschiedlichen Kulturen Lebenserfahrungen gesammelt haben. Sie bieten mit ihrem kulturellen Hintergrund die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Sie haben dieselbe Familiensprache und dies kann Verständigungsprobleme lösen. Sie können zwischen den Kulturen vermitteln. Dies belegen ganz eindeutig die Erfahrungen des Projektes „Kinderwelten“, bei dem sehr wohl versucht wurde, sichtbar und deutlich zu machen, dass Erzieherinnen und Erzieher mit Migrationshintergrund keine „exotischen“ Fachleute für Integration, Sprache und Kultur sind. In erster Linie sind sie Pädagoginnen und Pädagogen wie ihre Kolleginnen und Kollegen ohne Migrationshintergrund. Sie gehören einfach dazu. Dies muss zur Regel werden. Dazu bedarf es aber insbesondere auch der Unterstützung und der Anstrengung durch die Kultusministerkonferenz und die Jugend- und Familienministerkonferenz.

Literatur

 

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Norbert Hocke ist im Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand und Leiter des Vorstandsbereiches „Jugendhilfe und Sozialarbeit“ sowie Sprecher des „Bundesforum Familie“.