Die Dublin II-Verordnung – Verantwortungsteilung im europäischen Flüchtlingsschutz?

In welchem Land Flüchtlinge Asyl beantragen können, regelt die Dublin-22-Verordnung – doch diese wird den Bedürfnisse der Flüchtlinge nicht gerecht
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In welchem Land Flüchtlinge Asyl beantragen können, regelt die Dublin-22-Verordnung – doch diese wird den Bedürfnisse der Flüchtlinge nicht gerecht

 

von Klaudia Dolk

Flüchtlinge, die von Verfolgung in ihrem Heimatstaat bedroht sind, sollen in der Europäischen Union (EU) Schutz erhalten. Hierzu sind die EU-Staaten völkerrechtlich und europarechtlich verpflichtet. Ein Flüchtling kann sich allerdings nicht aussuchen, in welchem EU-Staat sein Asylverfahren durchgeführt wird. Die Zuständigkeit des jeweiligen EU-Staates wird seit 2003 in einer EU-Verordnung, der sog. Dublin II-Verordnung (1), geregelt. Bevor also geprüft wird, ob die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung vorliegen, wird immer erst in einem gesonderten Verfahren nach der Dublin II-Verordnung (dem sog. Dublin-Verfahren) geprüft, welcher EU-Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist.

 

Das Dublin-Verfahren ist in den letzten Jahren zunehmend in die öffentliche Kritik geraten, insbesondere seit in zahlreichen Berichten von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl, dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Human Rights Watch und Amnesty International die unzumutbare Flüchtlingssituation in Griechenland dokumentiert und Abschiebungstopps nach Griechenland gefordert wurden. Aktuell steht derzeit besonders Italien wegen der dortigen Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge im Fokus der Medien.

Zuvor hatte schon im Jahre 2008 die EU-Kommission nach einer Evaluierung der Dublin II-Verordnung Änderungsvorschläge gemacht, über deren Umsetzung bis heute unter den EU-Staaten auf politischer Ebene keine Einigkeit erzielt werden konnte. Die Dublin II-Verordnung gilt seit dem Inkrafttreten im Jahre 2003 unverändert fort, obwohl ihre Anwendung in der Praxis zu erheblichen Problemen führt. Einige dieser Problembereiche und auch erste Lösungsansätze durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sollen hier als Grundlage für die dringend erforderliche breite und öffentliche Diskussion der Auswirkungen der Dublin II-Verordnung im Spannungsfeld zwischen europäischer Verantwortungsteilung und Flüchtlingsschutz dargestellt werden.

Hintergrund und Ziele der Dublin II-Verordnung

In der Dublin II-Verordnung wird (allein) geregelt, welcher Mitgliedstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist und unter welchen Voraussetzungen gegebenenfalls eine Überstellung (gemeint ist immer eine Abschiebung) in einen anderen, d. h. den zuständigen Mitgliedstaat erfolgen kann. Die Dublin II-Verordnung ist eine EU-Verordnung; EU-Verordnungen gelten – anders als EU-Richtlinien – unmittelbar in den EU-Staaten, sie bedürfen also keiner Umsetzung in ein nationales Gesetz in den einzelnen Ländern.

Hintergrund für die Regelung eines europäisch einheitlichen Verfahrens zur Bestimmung des jeweils zuständigen EU-Staates für die Durchführung eines Asylverfahrens war vor allem die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen der EU. Verhindert werden sollten einerseits Wanderbewegungen der Flüchtlinge, sie sollten nicht mehrfache Asylverfahren in verschiedenen EU-Staaten erhalten (sog. „Asylum-Shopping“). Andererseits sollten aber auch alle Flüchtlinge ein Recht auf eine inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge haben, d. h. es sollte die Praxis beendet werden, dass Flüchtlinge zwischen den EU-Staaten ohne eine Prüfung ihrer Asylanträge hin- und hergeschoben werden (sog. „refugees in orbit“).

Die Bestimmung der Zuständigkeit eines EU-Staates für ein Asylverfahren folgt in der Dublin II-Verordnung Kriterien, die sich insbesondere nach dem „Prinzip der Verantwortung“ richten: Die Staaten, die für die Einreise oder den Aufenthalt eines Flüchtlings in einem EU-Staat verantwortlich sind, sollen für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig sein. Verantwortlich in diesem Sinne und somit zuständig nach der Dublin II-Verordnung ist ein Staat vor allem, wenn der Flüchtling unerlaubt (ohne Visum) über eine EU-Außengrenze eingereist ist oder auch wegen der Erteilung eines Einreisevisums oder eines Aufenthaltstitels. Dieses Verantwortungsprinzip wird allerdings teilweise durchbrochen, beispielsweise wenn es gilt, die Kernfamilie, d. h. Eheleute oder Eltern und minderjährige Kinder, nicht zu trennen, oder bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und in wenigen Ausnahmefällen aus humanitären Gründen.

Voraussetzung von Mindeststandards für Asylsuchende in Europa

Die Dublin II-Verordnung beruht auf der Annahme, dass Asylsuchende in allen Mitgliedstaaten vergleichbare (Mindest-)Aufnahmebedingungen vorfinden und dass über ihre Asylanträge unter vergleichbaren (Mindest-)Verfahrensgrundsätzen mit vergleichbaren Chancen auf eine Anerkennung entschieden wird. Hierfür sind verschiedene EU-Richtlinien erlassen worden. Letztlich soll es also für Flüchtlinge unerheblich sein, in welchem EU-Staat ihre Asylverfahren durchgeführt werden. In der Realität ist dies leider nicht so.

Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Griechenlands (2). Spätestens seit der Veröffentlichung von Berichten über die dortige Situation von Flüchtlingen wird diskutiert, ob Asylsuchende auch in EU-Staaten überstellt werden dürfen, in denen die europarechtlichen Mindeststandards für Flüchtlinge nicht gewährleistet sind - auch wenn nach Erwägungsgrund 2 der Dublin II-Verordnung alle EU-Staaten als sichere Drittstaaten gelten.

Entsprechende Gerichtsverfahren sind zur Klärung dieser Frage beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH), der für die Auslegung der Dublin II-Verordnung zuständig ist, anhängig. Es bleibt abzuwarten, welche Vorgaben der EuGH für die Lösung dieses Problems geben wird.

Auch in Deutschland sieht man – ganz unstreitig – ein Problem. Vor diesem Hintergrund wurde die Aufnahme von Flüchtlingen aus Malta beschlossen, ohne allerdings gleichzeitig von weiteren Dublin-Überstellungen nach Malta abzusehen. Und im Januar 2011 hat das Bundesinnenministerium erklärt, dass für die Dauer eines Jahres keine Dublin-Überstellungen mehr durchgeführt werden, wenn Griechenland nach der Dublin II-Verordnung zuständig ist. In diesen Verfahren übt Deutschland den sog. Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung aus, d. h. Deutschland übernimmt die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens, auch wenn nach der EU-Verordnung Griechenland eigentlich dafür zuständig wäre. Ein solcher Selbsteintritt ist den EU-Staaten nach der Dublin II-Verordnung jederzeit ohne Angabe von Gründen möglich.

Angesichts der jahrelangen massiven Kritik von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen darf dies als ein erster großer Erfolg für die Flüchtlinge betrachtet werden, die nun nicht mehr nach Griechenland im Rahmen eines Dublin-Verfahrens überstellt werden dürfen. Fraglich ist – und es darf angesichts der täglichen Medienberichte über die allgemeine Lage in Griechenland ernsthaft bezweifelt werden -, ob nach Ablauf dieses Jahres die Aufnahme- und Verfahrensbedingungen in Griechenland den europäischen Mindeststandards entsprechen werden und andernfalls Deutschland weiterhin von Überstellungen nach Griechenland absehen wird.

Skeptisch stimmt insoweit, dass das Bundesinnenministerium vor den zahlreichen dramatischen Berichten über die Flüchtlingssituation in Griechenland jahrelang beharrlich die Augen verschlossen und im Gegenteil behauptet hat, Griechenland würde die erforderlichen Flüchtlingsschutzstandards einhalten. Erst vor dem Eindruck einer mündlichen Verhandlung in einem Grundsatzverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Abschiebungsstopp anderer EU-Staaten nach Griechenland, kam man Mitte Januar 2011 zu dem Entschluss, für ein Jahr Überstellungen nach Griechenland auszusetzen. Hierbei betonte das Bundesinnenministerium jedoch erneut, dass Griechenland nach der Auffassung Deutschlands ein sicherer Drittstaat für Asylsuchende sei und sich das Dublin-System bewährt habe (3).

Die Grundsatzentscheidung „M.S.S.“ des EGMR vom 21.1.2011

Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang daher eine Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) vom 21.1.2011 in einem Dublin-Verfahren. Der EGMR hat in dem Verfahren Griechenland und Belgien u.a. wegen einer Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dem Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, verurteilt (4): Griechenland wegen der menschenrechtswidrigen Aufnahme-, Haft- und Asylverfahrensbedingungen; Belgien, weil in Kenntnis dieser Bedingungen eine Dublin-Überstellung nach Griechenland erfolgt ist.

Zugrunde lag der Fall eines Flüchtlings aus Afghanistan, der in die EU über Griechenland eingereist war, dann in Belgien Asyl beantragte und von den belgischen Behörden nach Griechenland abgeschoben wurde, weil nach der Dublin II-Verordnung Griechenland für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig war, da die unerlaubte Einreise in die Europäische Union über Griechenland erfolgte und Griechenland hierfür somit „verantwortlich“ war.

Die Entscheidung des EGMR betrifft unmittelbar zwar nur Griechenland und Belgien in einem Einzelfall. Enthalten sind in der umfangreichen Grundsatzentscheidung aber Aspekte, die auch für Verfahren in Deutschland von Bedeutung sein können (5). Beachtlich ist für Dublin-Verfahren insbesondere, dass auch Belgien vom EGMR wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK verurteilt wurde, weil die belgischen Behörden in Kenntnis der menschenrechtswidrigen Aufnahme-, Haft- und Asylverfahrensbedingungen den afghanischen Flüchtling nach Griechenland überstellt haben. Der EGMR hat in diesem Zusammenhang erneut klargestellt, dass sich die EU-Staaten ihrer Verantwortung zur Prüfung drohender Verletzungen der EMRK nicht durch Zuständigkeitsaufteilungen mit anderen Staaten entziehen dürfen. Wenn also eine Verletzung von Art. 3 EMRK in einem anderen Land droht, darf ein Flüchtling in dieses Land nicht abgeschoben werden, dies gilt auch für eine Überstellung in einen anderen EU-Staat.

Der afghanische Flüchtling war in Griechenland monatelang obdach- und mittellos. Der EGMR sieht in diesen Lebensbedingungen eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, denn es zeige sich fehlender Respekt für seine Würde. Seine Situation habe außerdem zweifellos Gefühle der Angst und Minderwertigkeit ausgelöst, die – so der EGMR - zur Verzweiflung führen können. Solche Lebensbedingungen, zu denen in dem Fall noch die Unsicherheit und fehlende Aussicht auf eine Verbesserung kommen würden, können Art. 3 EMRK verletzen.

Der EGMR stellt in dieser Grundsatzentscheidung wiederholt darauf ab, wie ein Flüchtling sich fühlt. So stellt der Gerichtshof hinsichtlich der griechischen Haftbedingungen fest, dass durch diese ein Gefühl der Willkür und Unterlegenheit sowie Angst hervorgerufen würden und die Menschenwürde verletzt sei. Hinzu komme – so der EGMR -, dass das Leid des afghanischen Flüchtlings durch seine Verletzlichkeit, die sich aus seiner Situation als Asylsuchendem ergebe, noch verstärkt worden sei.

Diese Beachtung der Gefühle des einzelnen Flüchtlings muss deutschen LeserInnen ungewöhnlich erscheinen, denn solcherlei Überlegungen sind der Entscheidungsfindung im behördlichen und gerichtlichen Dublin-Verfahren in Deutschland eher fremd. Bei rein juristischen Zuständigkeitsprüfungen gerät der einzelne Flüchtling insoweit häufig aus dem Blick.

Das Dublin-Verfahren aus der Sicht der Flüchtlinge

Flüchtlinge, die sich in einem für ihr Asylverfahren unzuständigen EU-Staat aufhalten, können und sollen in den nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Staat zur dortigen Durchführung des Asylverfahrens abgeschoben werden. Dies gilt auch, wenn in einem anderen Staat der Asylantrag schon abgelehnt wurde und die Betroffenen, statt die EU nach der Ablehnung zu verlassen, in einem anderen EU-Staat bleiben möchten. Ausnahmen gelten nur, wenn aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht in diesem anderen EU-Staat besteht, dies ist häufig jedoch nicht der Fall. Auch für anerkannte Flüchtlinge gilt, dass sie nach der Anerkennung in andere EU-Staaten nur für die Dauer von drei Monaten reisen dürfen. Bei einem längeren Aufenthalt werden sie in den Staat, in dem sie als Flüchtling anerkannt wurden, abgeschoben (allerdings nicht nach der Dublin II-Verordnung). Unter bestimmten Voraussetzungen sollen anerkannte Flüchtlinge zukünftig aber nach fünf Jahren in einem anderen EU-Staat leben dürfen. Dies sieht eine Änderung der EU-Daueraufenthaltsrichtlinie vor, die jedoch noch einer Umsetzung in deutsches Recht bis zum 20.5.2013 bedarf (6).

Im Ergebnis haben Flüchtlinge nach der Stellung eines Asylantrags demnach grundsätzlich keine Möglichkeit, selbst zu entscheiden, in welchem EU-Staat sie während der Dauer und auch nach Abschluss des Asylverfahrens leben wollen. Die Bestimmung des zuständigen EU-Staats für ein Asylverfahren wirkt für sie auch nach dem Asylverfahren fort.

Flüchtlinge wählen aber häufig nicht ohne Grund ein bestimmtes europäisches Land als Ziel für ihre Flucht aus. Sie flüchten zu Verwandten und Bekannten oder sprechen vielleicht die Sprache des Fluchtlandes, hierdurch wird ihnen eine erste Orientierung in den oft fremden Verhältnissen erleichtert. Flüchtlinge richten sich mitunter auch nach den Erfolgsaussichten für eine Flüchtlingsanerkennung oder den Aufnahmebedingungen bei ihrer Entscheidung, in welchem europäischen Land sie ihren Asylantrag stellen möchten. Denn die Chance auf eine Anerkennung kann in den einzelnen EU-Staaten sehr unterschiedlich sein. Hierauf hat auch der EGMR in der Grundsatzentscheidung vom 21.1.2011 hingewiesen und es für nachvollziehbar gehalten, dass der afghanische Flüchtling auch aufgrund der extrem niedrigen Schutzquote Griechenlands im Vergleich zu anderen EU-Ländern kein Vertrauen mehr in das griechische Asylverfahren hatte.

Problembereiche des Dublin-Verfahrens in Deutschland

Auch wenn derzeit keine Flüchtlinge mehr im Dublin-Verfahren nach Griechenland aus Deutschland abgeschoben werden, werden weiterhin aus Deutschland regelmäßig Flüchtlinge in andere EU-Staaten und gleichzeitig aus anderen EU-Staaten Flüchtlinge nach Deutschland zuständigkeitshalber hin- und hergeschoben. Ein Blick in die Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zeigt, dass in den Jahren 2009 und 2010 jeweils für mehr als 9.000 Flüchtlinge ein Übernahmeersuchen von Deutschland an einen anderen EU-Staat gerichtet wurde, den Deutschland für zuständig hielt. Bei Asylerstantragszahlen in Deutschland von 27.649 in 2009 und 41.332 in 2010 bedeutet dies, das Deutschland bei ca. einem Drittel der AsylerstantragsstellerInnen einen anderen EU-Staat für zuständig hielt. Tatsächlich überstellt wurden hingegen in beiden Jahren jeweils nur ca. 3.000 dieser Flüchtlinge.

Flüchtlinge in Deutschland werden regelmäßig von den Behörden nicht frühzeitig informiert, ob und wann ihnen eine Überstellung in einen anderen EU-Staat droht. Ganz im Gegenteil  kommt es häufig vor und ist vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das für die Dublin-Verfahren zuständig ist, auch so erwünscht, dass die betroffenen Flüchtlinge erst unmittelbar vor einer Überstellung in einen anderen EU-Staat informiert werden. Den Flüchtlingen wird regelmäßig unmittelbar vor der Überstellung ein sog. Dublin-Bescheid ausgehändigt, in dem die Abschiebung angeordnet wird. Dadurch wird ihnen faktisch die Möglichkeit genommen, gegen den Bescheid Klage zu erheben, auch wenn eine solche Klagemöglichkeit gesetzlich vorgesehen ist. Eine Klageerhebung würde zudem eine eingeleitete Dublin-Überstellung auch nicht verhindern können, da sie keine aufschiebende Wirkung hat, d. h. selbst bei rechtzeitiger Klageerhebung kann der Flüchtling nach der Dublin II-Verordnung abgeschoben werden. Hinzu kommt, dass die Stellung eines gerichtlichen Eilantrags zur vorläufigen Verhinderung einer Überstellung nach deutschem Recht gesetzlich ausgeschlossen ist.

In der oben erwähnten Grundsatzentscheidung M.S.S. des EGMR vom 21.1.2011 wurde Belgien auch wegen einer Verletzung von Art. 13 EMRK, des Rechts auf wirksame Beschwerde, verurteilt. In dem dortigen Verfahren hatte der afghanische Flüchtling nach belgischem Recht laut EGMR keine Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes gegen die Überstellung nach Griechenland. Bei Betrachtung der rechtlichen Erwägungen des EGMR hierzu sind auch die Rechtsschutzmöglichkeiten nach deutschem Recht auf den Prüfstand zu stellen. Laut EGMR bedarf es bei einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK auch in Dublin-Verfahren einer eingehenden inhaltlichen Prüfung einer Beschwerde. Es sei eine effektive Beschwerdemöglichkeit zu gewähren. Effektiv ist – so der EGMR – eine Beschwerdemöglichkeit, wenn sie in der Praxis und im Recht zur Verfügung steht, insbesondere dürfe deren Einlegung nicht ungerechtfertigt durch ein Handeln oder Unterlassen der Behörden behindert werden.

Mit diesen kumulativen Vorgaben sind die Zustellungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in Dublin-Verfahren und der gesetzliche Ausschluss von Eilrechtsschutz (§ 34a Abs. 2 AsylVfG) nicht zu vereinbaren. Die Zustellungspraxis verhindert eine Beschwerdemöglichkeit in der Praxis, während nach geltendem deutschen Recht der Eilrechtsschutz in Dublin-Verfahren generell, d. h. ohne Ausnahme, ausgeschlossen ist (7).

Das Bundesverfassungsgericht hat auch in mehreren Eilrechtsbeschlüssen (8) darauf hingewiesen, dass die Dublin II-Verordnung die Möglichkeit von Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellungen nicht ausschließt, sondern vielmehr selbst vorsieht. Allein die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht selbst in mehreren Eilverfahren Überstellungen nach Griechenland gestoppt hat, zeigt, dass der generelle Ausschluss von Eilrechtsschutz in § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht mehr aufrechterhalten bleiben kann.

Fazit

In Fachkreisen und auch in der Öffentlichkeit ist inzwischen erkannt worden, dass die Dublin II-Verordnung in ihrer Anwendung zu erheblichen Problemen für die Flüchtlinge und auch für einzelne EU-Staaten führen kann. Auf europäischer politischer Ebene konnte bisher jedoch keine Einigung für eine Lösung der Probleme gefunden werden. Allerdings wurde Malta durch die Aufnahme von Flüchtlingen in anderen EU-Staaten entlastet und viele Mitgliedstaaten haben angesichts dramatischer Griechenland-Berichte Dublin-Überstellungen nach Griechenland zeitweise ausgesetzt. Dies allerdings erst unter dem Druck verschiedener höchstrichterlicher Entscheidungen und Verfahren.

Auch aus der Grundsatzentscheidung des EGMR vom 21.1.2011 sind nunmehr Konsequenzen zu ziehen: Wenn Menschenrechtsverletzungen nach Art. 3 EMRK in einem anderen EU-Staat drohen, darf ein Flüchtling im Dublin-Verfahren nicht in diesen Staat überstellt werden. Für Deutschland gilt zudem, dass die Intransparenz und die Zustellungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in Dublin-Verfahren nicht aufrechterhalten bleiben können. Eilrechtsschutz gegen drohende Dublin-Überstellungen muss ermöglicht werden, wenn nicht sogar Klagen mit Suspensiveffekt nach den Vorgaben des EGMR geboten sind, d. h. Klagen mit einer aufschiebenden Wirkung, damit eine eingehende Prüfung drohender Verletzungen von Art. 3 EMRK auch in Gerichtsverfahren mit hinreichender Gründlichkeit erfolgen kann. Zu hinterfragen ist das beharrliche Festhalten des Bundesinnenministeriums an der Auffassung, dass Griechenland nach wie vor als sicherer Drittstaat anzusehen sei (9). Bedürfnisse von Flüchtlingen sind ferner auch in Dublin-Verfahren zu berücksichtigen.

Leider ist es kein neues Phänomen, dass die Judikative als Korrektiv fungiert, obwohl offenkundig Handlungsbedarf in anderen Bereichen besteht. So wies auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich darauf hin, dass „mit der Überforderung des Asylsystems eines Mitgliedstaats der Europäischen Union verbundene transnationale Probleme vornehmlich auf der Ebene der Europäischen Union zu bewältigen sind.“ (10)

Ein von allen Seiten als gerecht empfundener „Königsweg“ zur Lösung der Problematik ist noch nicht aufgezeigt worden. Gibt es systemimmanente Lösungen, z. B. durch eine weniger restriktive Anwendung des Selbsteintrittsrechts? Oder sind Alternativen zum derzeitig geltenden Dublin-System zu entwickeln? Sollen Flüchtlinge nach Quoten auf die EU-Länder verteilt werden? Soll man statt Menschen besser Geld verteilen? Sollte die Dublin II-Verordnung abgeschafft oder jedenfalls ausgesetzt werden, bis die Mindeststandards in allen EU-Ländern erreicht worden sind? Oder würde dies zu einem weiteren „Wettlauf der Schäbigkeiten“ führen, d. h. würden die EU-Staaten zur Abschreckung möglichst unattraktive Standards bieten, wenn die Flüchtlinge die freie Wahl hätten?

Es gilt, eine Lösung zu finden, die einerseits den Bedürfnissen der Flüchtlinge gerecht wird und andererseits von den EU-Staaten als gerecht und solidarisch empfunden wird. Langfristig sind die Mindeststandards in der europäischen Union für Flüchtlinge anzugleichen. Wie sich am Beispiel Griechenlands und aktuell auch Italiens zeigt, bedarf es jedoch dringend bereits jetzt einer kurzfristigen „Zwischenlösung“, um weitere Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU-Grenzen zu vermeiden. Hierfür ist ein Umdenken erforderlich: Von dem in Diskussionen vorherrschenden Argument einer „Lastenteilung“ sollte der Blick auf eine solidarische Verantwortungsteilung innerhalb der EU-Grenzen gerichtet werden. Das „Prinzip der Verantwortung“ sollte nicht nur Hintergrund der Zuständigkeitskriterien sein. Denn die Dublin II-Verordnung darf nicht dafür missbraucht werden, dass sich die EU-Staaten ihrer Verantwortung „zuständigkeitshalber“ entziehen, wenn es um Aufnahme und Schutz von Flüchtlingen innerhalb der EU-Grenzen geht.

 

Die hier geäußerten Ansichten sind die der Verfasserin und werden nicht unbedingt vom Informationsverbund Asyl und Migration bzw. dessen Trägerorganisationen geteilt.

 

Endnoten

(1) Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist; die VO gilt in allen EU-Staaten sowie in Norwegen, Island und der Schweiz.
(2) Siehe hierzu Kopp/Pelzer, Die Missachtung des europäischen Flüchtlingsrechts durch Griechenland, ASYLMAGAZIN 12/2009, S. 3 ff.
(3) Pressemitteilung des BMI vom 19.1.2011: Deutschland übt Selbsteintrittsrecht aus, abrufbar auf der BMI-Homepage.
(4) EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09, M.S.S. v. Belgium and Greece, abrufbar beim Informationsverbund Asyl & Migration.
(5) Siehe hierzu Dolk, Bedeutung der Grundsatzentscheidung M.S.S. des EGMR für Deutschland, ASYLMAGAZIN 5/2011, S. 148 ff.
(6) Die Richtlinie zur Erweiterung der DaueraufenthaltsRL auf Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte vom 19.5.2011 ist abrufbar beim Informationsverbund Asyl & Migration.
(7) Siehe hierzu Dolk, Bedeutung der Grundsatzentscheidung M.S.S. des EGMR für Deutschland, ASYLMAGAZIN 5/2011, S. 148 ff.
(8) Siehe etwa BVerfG, Beschluss vom 8.9.2009 – 2 BvQ 56/09 -, ASYLMAGAZIN 10/2009, S. 16. Dieser Beschluss und weitere entsprechende Eilrechtsbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sowie Rechtsprechung in Dublin-Verfahren sind abrufbar beim Informationsverbund Asyl & Migration.
(9) Siehe hierzu etwa die Pressemitteilung des BMI vom 19.1.2011, abrufbar auf derBMI-Homepage.
(10) BVerfG, Beschluss vom 25.1.2011 – 2 BvR 2015/09 -, abrufbei beim Informationsverbund Asyl & Migration  .

 

Klaudia Dolk arbeitet als Juristin beim Informationsverbund Asyl und Migration in Berlin.