Geht Organisieren über Agieren?

 

von Günter Piening

Derzeit scheint jede Debatte um die Schnittstelle(n) zwischen Islam und staatlichen Institutionen bei der Frage zu enden, ob und wann es einen Staatsvertrag mit wem gibt. Dabei hatte es durchaus einmal vielversprechend angefangen. Noch vor einigen Jahren stand bei allen Beteiligten – also Muslimen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Staat – das Interesse im Vordergrund, bessere Formen der Kooperation zu finden, die Kommunikation mit den muslimischen Gemeinschaften auf eine verlässlichere Basis zu stellen, die die Debatten verbindlicher machen und den Verfassungsgrundsatz des Schutzes der Religionsausübung mit Leben zu füllen  - kurz: dem Islam den Raum und die Rolle zu geben, die eine große Religion in einer westeuropäischen säkularen Gesellschaft hat. Den Islam einbürgern – dieses von der ehemaligen Bundesbeauftragten Marieluise Beck formulierte Leitmotiv – umfasste ein breites Spektrum von Handlungsansätzen: von Fragen der zivilgesellschaftlichen Aktivierung über Fragen rechtlicher Gleichstellung und der Organisierung grundlegenden Austauschs bis hin zur Ächtung von mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbaren Positionen. Ob und wie das Verhältnis Islam–Staat staatskirchenrechtlich zu organisieren ist, war nur eine Frage unter vielen.

Das hat sich deutlich geändert. Die Diskussion um die Islamkonferenz und die Reaktion auf den Zusammenschluss von vier Dachverbänden zum Koordinierungsrat zeigen erneut: Die Debatte um das Verhältnis Muslime–Staat reduziert sich heute  fast ausschließlich auf diese Frage, wer, wie und mit welchem Recht die muslimische Gemeinschaft repräsentiert und ob und wann mit diesem Verband dann das Verhältnis körperschaftlich geregelt werden kann wie bei den christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften.
 
Sicher sind dies interessante Fragen. Darüber lässt sich trefflich debattieren und darüber lassen sich vor allem auch die unterschiedlichsten Interessen transportieren. Für problematisch halte ich, dass die Frage der Repräsentanz inzwischen alle anderen Fragen einer gesellschaftlichen (und das ist mehr als einer staatlichen) Anerkennung des Islam überlagert. Dadurch werden andere "Anerkennungsprozesse", die für die Einbürgerung des Islam in Deutschland existenziell sind, nicht nur nicht wahrgenommen, sondern sie können sogar gefährdet werden.

Ich möchte dieses am Beispiel Berlins verdeutlichen, wobei zwei Besonderheiten Berlins vorweg zu nennen sind:

Erstens gibt es kein Gebot auf eine christliche Orientierung in der Verfassung, so dass wir Gleichstellungspolitik wirklich betreiben können, wie Berlin etwa bei der Gleichbehandlung aller religiösen Symbole im Zusammenhang mit dem "Kopftuch-Urteil" des BVGs unter Beweis gestellt hat. (Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig Aufmerksamkeit – auch bei Grünen – den ausgrenzenden Folgen dieser Glaubens-Bindung in einigen Länderverfassungen geschenkt wird.)
 
Zweitens ist in der Berliner Verfassung festgelegt, dass Religionsgemeinschaften eigenverantwortlich aber staatlich finanzierten Religionsunterricht anbieten können. Deshalb gibt es in Berlin Religionsunterricht von islamischen Gemeinschaften. Religionsunterricht ist also in Berlin auch ohne Körperschaft zu haben, und damit wirkt sicher eines der die Staatsvertragsdebatte antreibenden Grundmotive in Berlin nicht mit dieser Deutlichkeit.

Wie sieht es vor diesem Hintergrund in Sachen Kooperation Muslime–Staat aus? Eine von mir 2005 im Auftrag gegebene und von Alexa Färber und Riem Spielhaus durchgeführte Untersuchung hat gezeigt, wie sehr in den letzten Jahren die gesellschaftliche Einbeziehung der Muslime vorangeschritten ist. Bei einer ähnlichen Untersuchung Ende der 90er Jahre waren die Wissenschaftler auf eine abgekapselte Welt gestoßen, auf Imame und Moscheen, die nicht in der Lage waren und auch keine Notwendigkeit sahen, mit der Umwelt zu kommunizieren. Solche gibt es heute immer weniger. Viele Gemeinden sind selbstverständlicher Teil des städtischen Lebens, engagieren sich im Stadtteil, in der Elternarbeit, im Umweltschutz und übernehmen in Quartiersbeiräten und anderswo wichtige Bürgeraufgaben. Hier in der manchmal kleinteiligen Arbeit vor Ort lässt sich ein Normalisierungsprozess studieren, dessen Förderung ein wesentliches Ziel von Anerkennungsstrategien sein müsste.

Wesentlich an dieser Berliner Entwicklung ist, dass sie mit einer starken Ausdifferenzierung der Moscheenlandschaft einhergeht und die Bindungskraft der Dachverbände zurückgeht. Fast die Hälfte der 80 Berliner Moscheegemeinden ist in keinem Dachverband organisiert.  Die Dominanz des türkisch-sunnitischen Islam ist längst nicht mehr in dieser Deutlichkeit zu spüren. Die zweite Generation der Moscheegemeinden schöpft ihre Kraft eben nicht aus einer starken Einheits-Repräsentanz, sondern aus der Vielfalt – nicht nur – islamischen Lebens. Es entstehen neue Gemeinden und Vereine, die sich nicht mehr einem eindeutigen Herkunftskontext zuordnen lassen. In vielen unorganisierten Bereichen wächst eine junge Generation heran, die aus vielen Quellen schöpft. Berlin hat heute ein sehr lebendiges, weil diversifiziertes Moscheeleben, das durch die großen Verbände nur noch zu Teilen  repräsentiert wird.

Wie muss auf der Landesebene eine Schnittstelle Staat-Islam organisiert sein, die mit solch vielfältigen Entwicklungen umgehen kann? Gemeinsam mit der Muslimischen Akademie habe ich vor zwei Jahren das Berliner Islamforum ins Leben gerufen. Anders als bei ähnlichen Initiativen in anderen Bundesländern war das Berliner Forum von vornherein angelegt als offizielles Schnittstellen-Gremium mit einem gewissen Vertretungs- und Gestaltungsanspruch, was u.a. durch die Teilnahme des Innensenators zum Ausdruck kommt.

Dabei wurde die Frage der Repräsentanz pragmatisch gelöst. Im Islamforum sind 13 Vertreterinnen und Vertreter der Muslime, Dachverbände, einzelne Moscheen, Multiplikatoren von Vereinen. Das Anliegen war, die Breite muslimischen Gemeinde-Lebens zu repräsentieren und nicht die "eine Telefonnummer" zu finden, die der Senat anrufen kann, wenn es um islamische Angelegenheiten geht. Und so sitzen Aleviten und Ahmadis neben den großen sunnitischen Dachverbänden, türkisch, bosnisch, arabisch, pakistanisch geprägte Gemeinden sind ebenso vertreten wie Vereine, die ihre Arbeit multiethnisch anlegen. Die staatliche Seite wird vertreten durch den Innensenator sowie Vertreter der Bildungsverwaltung und der Polizei, der Religionsbeauftragten des Senats sowie der bezirklichen Bürgermeister. Die christlichen Kirchen und die jüdische Gemeinde sind ebenso vertreten wie Repräsentanten der Migrantencommunities.

Im Berliner Islamforum werden wichtige Grundsteine für eine Kooperation auf gleicher Augenhöhe praktisch entwickelt. Fragen der Diskriminierung von Kopftuchträgerinnen wurden ebenso diskutiert wie der Verkauf antisemitischer Schriften durch eine Moschee oder die Auswirkungen der Bombenanschläge in London – nicht abstrakt, sondern praktisch untersetzt mit der Frage, welche Schlussfolgerungen aus diesen Ereignissen gezogen werden müssen und welche Verantwortung wer dabei hat. Auch öffentlich wirkende Initiativen nehmen ihren Ausgangspunkt im Islamforum: Aus dem Bestreben, den 5. Jahrestag des Anschlages von New York dem Gedenken an die Opfer zu widmen, entstand die Idee, das Freitagsgebet diesem Thema zu widmen. An der bundesweit beachteten Aktion nahmen mehr als die Hälfte der Berliner Moscheen aktiv teil.

Dabei geht es in den Debatten durchaus hart zur Sache: Eine Gemeinde, gegen deren Moscheebau eine Bürgervereinigung mobilisiert, erhielt vielfältige Unterstützung durch das Islamforum, weil das Recht auf Religionsfreiheit auch das Recht beinhaltet, Moscheen bauen zu dürfen. Als Vertreter dieser Gemeinde in einem Statement Homosexualität als abweichendes Verhalten, erzeugt durch den Genuss von Schweinefleisch, darstellte, gab es eine auch von Muslimen im Islamforum unterstützte harsche Kritik. Das Ergebnis: Die Gemeinde distanzierte sich von dieser absurden Position.

Dieses Ringen um Positionen und Durchsetzen von gemeinsamen Grenzziehungen mögen für die Staatsvertrags-Diskutanten Peanuts sein – ich halte sie für erfolgversprechend, weil der komplizierte Prozess der „Einbürgerung des Islam“ immer wieder zurückgekoppelt werden kann zur gesellschaftlichen Realität. Indem die Organisationsdebatte nicht abstrakt geführt wird, sondern diese Fragen als vielschichtiger gesellschaftlicher Prozess begriffen werden, verändern sich alle Beteiligten, entsteht eine fundierte Kooperation zwischen den muslimischen Gemeinden und zwischen staatlichen Institutionen und Gemeinden, ohne deren Vielschichtigkeit zu zerstören.

In Berlin wollen wir diesen Weg des Aufbaus struktureller Kooperation mit den muslimischen Gemeinschaften weitergehen. Ob an deren Ende irgendwann einmal ein Staatsvertrag steht, ist für unsere Arbeit dabei vollkommen unwichtig.

Meine Hoffnung ist, dass solch vielversprechenden Ansätze (die es nicht nur in Berlin gibt) wieder stärker in den Focus genommen werden und der derzeitige Hype der Frage, wie man zu dieser einen Telefonnummer kommt, die der Bundesinnenminister anstrebt, ein wenig in ihrer Begrenztheit gesehen wird.

D.h. nicht, dass ich etwa den Zusammenschluss von vier Dachverbänden zum Koordinierungsrat für die Muslime nicht als wichtigen Meilenstein für die Organisierung des Islam in Deutschland ansehe. Aber er ist eben nur ein Baustein unter vielen. Nur, wenn alle Bausteine in den Blick genommen werden, werden die Konturen des künftigen Islam in Deutschland und der Institutionalisierung des Verhältnisses zum Staat erscheinen.

Informationen zur Studie „Islamisches Gemeindeleben in Berlin“ sowie zur Arbeit des Islamforums unter: www.integrationsbeauftragter-berlin.de

 

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Günter Piening ist Beauftragter des Berliner Senats für Integration und Migration.