Der Willkommenskomplex: junge weiße Unternehmen und das Helfer/innensyndrom

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Die sogenannte „Krise“ als lukrative Chance für die Start-Up-Industrie?

In den Jahren 2015 und 2016 mündete das gesellschaftliche Engagement gegenüber Schutzsuchenden in Deutschland in der Gründung einer Reihe von Start-Ups. Sinthujan Varatharajah​ beschreibt, welche Probleme damit einhergehen.​

Während letztes Jahr die Willkommenskultur noch in allen Munde war, verfällt sie heute schon wieder in der medialen Obskurität. Die Debatte um geflüchtete Menschen hat eine Kehrtwende gemacht. Man* redet heute weniger von der Aufnahme von geflüchteten Menschen als von deren Abschiebung. Der mediale Fokus hat sich damit auch verschoben. Geflüchtete Menschen sind nicht mehr im Trend. Die Kameras schauen wieder anderswo hin, um sensationelle Bilder zu erhaschen. Mit dem fehlenden Interesse scheint auch das kurzlebige Willkommensmärchen zu einem tragischen aber vorhersehbaren Ende zu kommen.

In ihrem Zenit war die Willkommenskultur noch ein Paradebeispiel dafür, wie zivilgesellschaftliches Engagement sich der rechten Welle entgegensetzen kann. Für viele Deutsche wurde sie zur sinnvollsten Antwort auf die AFD, NPD, Republikaner, den NSU-Terror und andere rassistische Organisationskulturen. Dabei schützte die Willkommenskultur die weiße Mehrheitsbevölkerung in weiten Teilen – und einmal mehr – vor dem Vorwurf des Rassismus. Sie skizzierte ein Bild von einem Land, das sich dem Populismus, der sich in Europa wie ein immer wiederkehrender Fluch zeigt, entgegensetzt und geflüchteten Menschen auf Augenhöhe begegnet. Doch ist dem wirklich so?

Willkommensinitiativen sind in etwa so alt wie die Geschichte von geflüchteten Menschen in diesem Land. War das gesellschaftliche Engagement für geflüchtete Menschen in den 80er- und 90er Jahren noch auf linke, christliche Vereine sowie kleine Bürgerinitiativen beschränkt, so wurde es seit 2015 zu einer Massenbewegung. Junge weiße Menschen standen im Zentrum ihrer Mobilisierung. Sie stellten eine neue Generation von Freiwilligen dar, die sich oft weder als konventionelle Helfer/innen, gemeinnützige Organisationen oder NGOs verstanden. Ihr Selbstanspruch war altruistisch und oft außerstaatlich. Doch trotz alternativer Konzepte und Ideen spiegelten viele ihrer Praktiken grundlegende Problematiken der westlichen Entwicklungspolitik wider. Heute muss man* als weißer Mensch offensichtlich kein Flugzeug mehr besteigen, um die hilfsbedürftige, nicht-weiße Zielgruppe aus dem tiefen Globalen Süden zu erreichen. Das Zielpublikum ist längst im Globalen Norden angekommen.

Gesellschaftliches Engagement als Massenbewegung

Im Kern der modernen Willkommenskultur – und ihrem Gegenstück, der sogenannten „Hasskultur“ – stand das Internet. Es wurde zum Geburtsort vieler junger Start-Ups, die sich geflüchteten Menschen widmeten. Heute sind viele dieser Organisationen mehrfach preisgekrönt und ihre Arbeit wird von staatlicher sowie nichtstaatlicher Seite als wertvoll und zukunftsweisend anerkannt. In Blitzgeschwindigkeit stiegen ihre Akteur/innen zu den jungen, freundlichen Gesichtern der deutschen Willkommenskultur auf. Doch ihr selbstbewusstes Auftreten mussten sie sich erst erarbeiten. Anfangs, auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegungen über den Balkan, betraten viele dieser Willkommensgruppen die politische Bühne etwas unbeholfen, wenn nicht sogar naiv.

Im Gegensatz zu den vielen Bau- und Möbelunternehmen, Sicherheits- und Cateringdiensten, Putzfirmen und anderen, die an der sogenannten „Geflüchteten-Krise“ Millionen verdienen, wurde über diese Willkommensinitiativen mit viel Wohlwollen in den deutschen Medien berichtet. Sie wurden als menschennah und engagiert beschrieben, nicht als als profitorientiert und ausbeuterisch. Sie waren für die Mehrheit nicht Teil des Problems, sondern Teil einer antikapitalistischen, humanistischen Lösung für ein kapitalistisches Problem. Doch trotz dieses Wohlwollens und egalitärer Gedanken hat sich die sogenannte „Krise“ für die Start-Up-Industrie als lukrative Chance ergeben. Damit sind Start-Ups nicht nur Teil einer potentiellen Lösung für ein strukturelles Problem, sondern gleichzeitig ein Bestandteil des eigentlichen Problems.

Heute vereint die Start-Ups der Willkommenskultur ihr junges, innovatives und ästhetisch ansprechendes Image, ihre Internetversiertheit und Rhetorik. Darüber hinaus haben sie noch etwas gemein: Sie sind mehrheitlich – wenn nicht sogar ausschließlich – weiß. Dies führt manchmal so weit, dass es selbst geflüchteten Menschen schwerfällt, zwischen staatlichen und privaten Träger/innen in der Geflüchtetenindustrie zu unterscheiden. Beide Seiten werden durch weiße Menschen verkörpert, die in ungleichen Machtpositionen und kolonialen Verhältnissen zu rassifizierten, geflüchteten Menschen stehen. Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich in alltäglichen Aushandlungen immer wieder. Die Start-Ups der Willkommenskultur sind letztendlich eine Erfindung der weißen Mehrheitsbevölkerung. Sie sind ein Teil der deutschen Integrationsmaschinerie.

Kosmopolitischer Selbstanspruch, mangelnde Professionalität

Doch geht es hier nicht ausschließlich um eine Frage von ‚Race’. Die Willkommensindustrie spiegelt zudem ein spezifisches Klassenverhältnis wieder: Sie ist der Spielplatz von Akademikerkindern, die viel gereist sind, teilweise im Ausland studiert haben, mehrsprachig sind und einem kosmopolitischen Selbstanspruch unterliegen. Fast niemand von ihnen hat einen professionellen und erfahrungstechnischen Bezug zur Thematik von Flucht oder Migration. Stattdessen sind sie oft in die Thematik hineingestolpert und haben aus einer flüchtigen Begegnung beziehungsweise einem flüchtigen Gedanken eine Organisation gegründet. Eine solche Risikobereitschaft unterliegt natürlich nicht nur dem reinen Glücksprinzip: Dahinter steckt eine Menge wirtschaftliches, soziales und kulturelles Kapital, das diese Risikobereitschaft der Initiator/innen erst ermöglicht.

Warum aber wurden die Start-Ups der Willkommenskultur in so kurzer Zeit so erfolgreich? Viel davon hat mit ihren Kommunikationsstrategien zu tun. Die Gründer/innen dieser Startups sind zumeist – und im Gegensatz zu den bürokratischen Beamt/innen des BAMF und distanzierten Expert/innen aus den Medien – locker und sympathisch wirkende Menschen. Sie werden von der weißen Mehrheitsbevölkerung als Menschen aus der Mitte der Gesellschaft gelesen. Sie sind somit weder fremd, insular noch gefährlich. Ihre Forderungen und Ansprüche erscheinen deshalb nicht als Affront oder Ausdruck der Undankbarkeit, sondern als vernünftig, akzeptabel und nobel. In Zeiten von Facebook, Buzzfeed, YouTube und Snapchat war es ihnen außerdem möglich, komplizierte Thematiken über eine junge und simple Sprache nahbar zu machen. Sie haben darüber hinaus praktische Lösungen für komplizierte, staatlich geschaffene Probleme angeboten, mit denen sich viele Menschen identifizieren konnten. Wieso so kompliziert, wie es der Staat vorgibt, wenn es doch auch so unkompliziert und menschlich zugehen kann? Mit diesem Lösungsansatz haben weiße Start-Ups große Teile der Gesellschaft schnell ansprechen und selbst den deutschen Staat verzaubern können.

Klare Machtverhältnisse

Das staatliche Wohlwollen den Willkommensinitiativen gegenüber steht nicht im Widerspruch zu deren außerstaatlichen Aktivitäten. Die meisten Willkommensinitiativen ordnen sich bewusst dem Integrationsgedanken unter. Sie sind somit im Einklang mit der mehrheitsgesellschaftlichen Haltung gegenüber nicht-weißen Menschen. Die politische Linie vieler Willkommensinitiativen unterliegt entweder einer systematischen Entpolitisierung oder einer Positionierung links von der Mitte, die jedoch kaum anti-rassistische und empowernde Ansätze beinhaltet. Die Machtverhältnisse in vielen dieser Initiativen sind klar aufgestellt: Geflüchtete Menschen sind die Objekte des Interesses, sie kommen aber nicht aus der Rolle der Bedürftigen, der Opfer hinaus. Die Botschaft ist: „Sie verdienen Hilfe und Mitleid, aber nicht den eigenen Arbeitsplatz“.

So ordnen sich die meisten Initiativen dem Integrationsdiskurs unter, benutzen das Integrationsvokabular, um mit Andersartigkeit umzugehen, um das eigene Vorgehen zu rechtfertigen und zu verstehen. Die Suche nach einem Arbeitsplatz wird hier z.B. nicht als Teil einer Zurückgewinnung der persönlichen Autonomie, Würde und Selbstbestimmung gesehen, sondern stattdessen meist lediglich als Handwerk zur Integration. Oder: Die Schaffung von Wohnraum für geflüchtete Menschen außerhalb von Lagern wird z.B. nur als Teil des Kennenlernens und Sprachelernens interpretiert, aber nicht als subversiver politischer Akt, der das dehumanisierende Prinzip von Asyllagern untergräbt und gleichzeitig rassistische Strukturen im Wohnraummarkt umgeht.

Die Entpolitisierung des eigenen Handelns ist Strategie. Sie beruht darauf, dass viele der Träger/innen selbst nicht tief politisiert sind bzw. privilegiert genug sind, sich der Politisierung der Sache zu verweigern. Gleichzeitig ist es einfacher, staatliche und öffentliche Gelder in Anspruch zu nehmen und von Thomas de Mazière als Teil der Integrationsmaschinerie „lobpreist“ zu werden, ohne Kritik am System zu äußern. Es sind Strategien, die effektiv sind, um solche Organisationen aufzubauen, um deren Sichtbarkeit zu stärken, um sich selbst am Leben zu halten und um vor allem, um Arbeitsplätze für sich selbst zu schaffen. Zwar gibt es mittlerweile in einigen Organisationen Ansätze der Diversifizierung, doch sind diese mit klaren Hierarchien verbunden.

Die Diversifizierung ist hierbei rein kapitalistisch gedacht, vor allem Teil einer Skillangleichung. Hier geht es keineswegs um Gleichwertigkeit und Selbstbestimmung. Geflüchtete und rassifizierte Menschen werden etwa zu Übersetzer/innen, doch nicht zu Menschen mit Handlungsraum außerhalb der Instrumentalisierung Anderer. Sie sind Mittel zum Zweck, doch nicht zentral in der Ausrichtung der Organisationen. Sie werden Instrumente, um die Maschinerie besser laufen zu lassen, um ihre eigene Progressivität zu beweisen. Sie werden prominent in Werbevideos, in Onlineplattformen und auf Events gefeatured, fast schon ausgestellt, um dem Schein der Gleichberechtigung nachzugeben; um sich zu vergewissern, dass man nicht so regressiv ist wie die anderen. Gleichzeitig jedoch werden tragende Entscheidungen nicht von ihnen getroffen, sondern von weißen Menschen, die oft fremd in der Materie sind, aber durch ihr Weißsein mit der Möglichkeit und Fluidität zur Welt gekommen sind, Expert/innen zu allen Thematiken zu werden, ohne großartig Substanz beweisen zu müssen. Der Schein der Inklusivität sollte uns nicht davon ablenken, dass es sich hier in den meisten Fällen nicht um von Geflüchteten selbstorganisierte Gruppen handelt, sondern fremdorganisierte Strukturen, die sich Methoden und Wissen aneignen, das von anderen entwickelt wurde.

Kein Raum für Selbstorganisation

Die Willkommenskultur und ihre Agent/innen betreten die politische Bühne mit dem Ansatz, dass die sogenannte „Krise“ einmalig ist und ihr Handeln und ihre Ansätze erstmalig sind. Die Menschen, die gestern und heute gekommen sind, sind nach der Willkommenskultur in einer vermeintlich leeren und ahistorischen Landschaft gestrandet. Dass es bereits seit den 70er Jahren geflüchtete Menschen aus dem Globalen Süden in Deutschland gibt, bleibt unerwähnt. Dass diese Menschen sich von Anfang an selbstorganisiert haben, kommt genauso wenig zur Erwähnung. Die Willkommenskultur verschweigt, dass sich geflüchtete Menschen seit den 70er Jahren Menschen über Grenzen schmuggeln, Wohnraum und soziale Räume für sich selbst organisieren, sich gegenseitig Arbeitsmöglichkeiten vermitteln, sich gegen rassistische Übergriffe schützen, gemeinsam kochen, Kinder betreuen, Arztbesuche organisieren, sich gegenseitig Deutsch beibringen oder z.B. durch den bürokratischen Irrweg Deutschlands begleiten.

Viele der Start-Up-Kulturen bedienen sich systematisch an den Kenntnissen und den Erfahrungen von selbstorgansierten Gruppen und Individuen, ohne auf sie verweisen zu müssen. Geflüchtete Menschen haben sich solchen Aktivitäten und Praktiken von Anfang an gewidmet: nicht, weil sie einen Sinn im Leben gesucht haben oder sich einen Arbeitsplatz schaffen wollten, sondern weil sie mussten. Sie mussten sich selbst organisieren, um überleben zu können, um Fuß zu fassen und als Menschen, Familien und Communities wachsen zu können. Sie konnten nicht darauf warten, bis sich weiße Menschen für sie interessieren, um sie mit ihrer Großzügigkeit und ihrer Nächstenliebe zu vereinnahmen.

Auch wenn die Start-Up-Szene der Willkommenskultur ein Monopol auf Organisationskulturen beansprucht, so hat sie es nicht geschafft, Selbstorganisation zu verhindern. Doch auch wenn es zeitweise ein temporäres Interesse für die Schicksale von geflüchteten Menschen gab, so hat dies nicht zu einem öffentlichen Interesse für selbstorganisierte Gruppen geführt. Sie sind im Gegensatz zu weißen Organisationen oft noch immer unsichtbar und leiden an notorischem Ressourcenmangel. Dadurch, dass sie in den Communities selbst verortet sind, sind sie für die weiße Mehrheitsbevölkerung oft nicht zugänglich und sprachlich verständlich. Sie wirken für die Mitte der Gesellschaft als befremdlich und werden zudem oft als Gegenbeispiel zur Integration gesehen. Auch heute noch fehlt es vielen Organisationen und Communities oftmals an privilegierten Zugängen, die junge, weiße Start-Ups für sich in Anspruch nehmen können. Denn wofür junge, weiße Menschen heute bezahlt und von den Medien gefeiert werden, werden betroffene Menschen nur selten bezahlt, und niemals gefeiert.

Das Privileg der weißen Willkommenskultur ist es, nie mit den Konsequenzen des eigenen Handelns konfrontiert sein zu müssen. Die Konsequenzen werden stattdessen primär von betroffenen Menschen getragen, die deshalb in ihrem Handlungsrahmen eingeschränkt sind. Auch wenn die Willkommenskultur aktuell wieder in die vorhersehbare Obskurität verfällt und die Mehrheitsgesellschaft ihr Interesse für die Thematik Flucht zu verlieren scheint, so werden betroffene Menschen weiterhin mit den elementaren Fragen des Ankommens konfrontiert sein, ob mit oder ohne Segen eines Innenministers.