Coming from Ratinga

Junge steht auf einer Hand vor einem Graffiti

von Murat Güngör

Die Anfänge von HipHop in türkischer Sprache in Deutschland

1995 war für Turkish HipHop ein gutes Jahr. Eine bis dahin unbekannte Gruppe aus Deutschland fegte Michael Jackson von der Spitze der türkischen Charts elegant hinfort. Cartel ist damit gelungen, was danach keiner Gruppe mehr gelang. Rapmusik wurde auf einen Schlag zum Mainstream in der Türkei. Über 300.000 verkaufte Einheiten sorgten für den nötigen Impuls und eine ausgedehnte Tour der Gruppe festigte diesen Erfolg. Der Weg dieser Rapformation aus drei unterschiedlichen Gruppen (Karakan, Da Crime Posse und Erci E.), die sich nur für diese Compilation zusammenfanden, verlief vom Jugendhaus direkt ins Fußballstadion.

Allerdings spiegelten sich an dieser Gruppe auch die Widersprüche der noch jungen Szene in Deutschland wie auch der Türkei wider. Ausverkauf vs. Subkultur - Antirassismus vs. Nationalismus waren die Bruchstellen, die diese Gruppe einerseits erfolgreich machten und andererseits auseinander rissen. Cartel waren nicht die Einzigen, die in Deutschland versuchten, Rapmusik in türkischer Sprache publik zu machen. Anfang der 90er Jahre erregten zahlreiche Rapgruppen wie Islamic Force, Fresh Familee, Murat G. & DJ Mahmut, Mic Force, Aziza A. oder die Microphone Mafia Aufmerksamkeit. Die Produktionen wurden oft über das eigene Label vertrieben. Die türkische Sprache war kein Automatismus, sondern fast alle Crews rappten ursprünglich auf Englisch. Die deutsche Sprache war Anfang der 90er Jahre noch nicht wichtig. Deutsch galt für die damalige Szene als uncool, unmelodiös und vor allem als die Sprache mit der man rassistische und ausgrenzende Erfahrungen machte.

Die rassistischen Anschläge Anfang der 90er Jahre in Deutschland beschleunigten die Entwicklungen von Rap in türkischer Sprache. Der politische Bezug zur eigenen Community, sich zu organisieren und die rassistischen Übergriffe zu kritisieren sowie dabei verständlich zu sein, führte zu den Anfängen von Rap in türkischer Sprache. Deutlich wird dies beim ersten türkischen Rapsong von der Gruppe Karakan: "Bir Yabancının Hayatı – Das Leben eines Fremden". Darin ging es um die rassistischen Übergriffe und den Alltag in Deutschland. Andere Tracks folgten wie "Defol Dazlak – Verpiss dich Glatze" oder auch "Cehenneme Hoşgeldin – Willkommen in der Hölle". Mittlerweile gilt diese Gruppe nicht mehr als musikalischer Bezugspunkt. Rapper wie Ceza oder Fuat distanzieren sich bis heute von Cartel. Ihr Vorwurf lautet, Cartel sei eine gecastete Gruppe.

Arabesk und der neue Sound der Rapszene

Die Kinder der so genannten Gastarbeiter schufen musikalisch einen neuen Rapsound, indem der persönliche Musikkosmos, mit dem man aufwuchs, Eingang in die Rapszene fand. Samples und Versatzstücke von Orhan Gencebay, Bariş Manco, Ferdi Tayfur oder auch Ibrahim Tatlıses, die alle Stars der Arabeskszene in der Türkei waren, wurden so zu musikalischen Zitaten. Dabei ging es den Künstlern nicht darum den nationalen Bezug herzustellen, sondern die eigene musikalische Vielfalt zu präsentieren. Kreativ mixten die Produzenten Samples von Arabeskkünstlern mit Funk-, Jazz- oder auch Rocksamples ineinander und ließen so neue Soundcollagen entstehen. Das Besondere war, dass einerseits der musikalische Horizont originell verarbeitet und andererseits Bezug auf die Migrationsgeschichte genommen wurde. Denn Arabesk ist selbst ein musikalischer Schmelztiegel, entstanden in den 70er Jahren in der Türkei, produziert von Künstlern, die den Soundtrack für die Abwanderung vom Dorf in die Stadt schufen. Arabesk besteht aus arabischen und persischen Musikstrukturen, die jedoch mit westlichen Musikinstrumenten gespielt werden.

Thematisch werden die Schwierigkeiten der Binnenmigration innerhalb der Türkei besungen. Arabesksongs kreisen um die Fremde, Heimat, Liebe, Unglück und Verlust.So werden durch diesen Arabeskbezug in der Rapmusik sowohl die Migrationsgeschichte der Eltern wie auch die eigene Erfahrung thematisiert. Arabesk schuf musikalische wie inhaltliche Verbindungen zwischen den Generationen. Auch im Turkish Rap wurden und werden die Schwierigkeiten der Identitätsfindung in der Fremde thematisiert. 

Import & Export von Turkish Rap

Turkish HipHop  hat seinen Ursprung in Deutschland und wurde zu einem Exportschlager in die Türkei. Denn HipHop bot für die Jugendlichen in Deutschland die Möglichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Diese Subkultur katapultierte die Kinder der so genannten Gastarbeiter von der Dunkelheit ans Tageslicht. HipHop konnte  ihren Erfahrungen Ausdruck verleihen und sie in eine globale Jugendbewegung einschreiben. Vereinfacht kann man sagen: HipHop will sichtbar sein! HipHop möchte in die Gesellschaft hinein und sich nicht etwa - wie Punk - von ihr distanzieren.

Bis Ende der 90er Jahre kamen die wichtigen Impulse und der Kulturtransfer aus der deutschen in die türkische Szene. Mittlerweile hat sich dieser Transfer umgekehrt. Die Rapszene explodierte ab 1999 in der Türkei und machte sich damit unabhängig von der in Deutschland.

Dieser Umstand erklärt sich aus den neuen technologischen Errungenschaften. Das Internet hat die Distanz schrumpfen lassen und Informationen, die bis vor kurzem als Insiderwissen galten, sind heute durch die zahlreichen türkischen HipHop Webpages allen Interessierten zugänglich. Derzeit schielt kaum noch jemand nach Deutschland in der Hoffung, von dort Innovationen zu bekommen. Der erfolgreichste Künstler ist derzeit Ceza von der Gruppe Nefret, der in der Türkei ein Star ist. Bezeichnenderweise heißt auch sein Debutalbum Rapstar. Einen wichtigen Impuls für diese rasante Entwicklung lieferte der umtriebige Szeneaktivist Tunç Dindaş, der 1999 die wichtige HipHop Compilation "Yeraltı Operasyon"  (Untergrund-Operation) konzipierte. Dieses Album war eine Werkschau der Szene und präsentierte eindrucksvoll das Niveau von Rap in der Türkei. Des Weiteren schlug das Projekt Brücken nach Deutschland, da auch türkische Rapcrews aus Deutschland ihren Platz bekamen.

Sex, Drugs and Rap & Roll

Rapmusik produziert - wie auch die Popmusik - sexistische und konservative Rollenmodelle, die oft nicht gebrochen sind, sondern herrschende Zuschreibungen reproduzieren. Sex, Drogen und der eigene Block als Mantra für die Alphamännchen-Rapper. Frauen kommen in den gängigen Rap-Videos nur als allzeit bereite sexuelle Objekte vor, die unterwürfig und stumm ihren Körper präsentieren. In diesem männlichen Blick offenbaren sich die Allmachtsphantasien junger Männer nach der Kontrolle des weiblichen Körpers. Oft werden Männer, die von Arbeitslosigkeit, fehlenden Perspektiven und Vaterlosigkeit betroffen sind, davon angezogen. Das Bild von der Heiligen und der Hure wird hier stets auf das Neue bedient.

Der Anteil von Rapperinnen in Deutschland ist verschwindend gering, erst recht, wenn sie noch einen türkischen Hintergrund haben. Genau in diese Bresche, springt derzeit Lady Ray, eine junge Rapperin aus Bremen mit alevitisch-türkischem Hintergrund. Die 25-jährige Reyhan Sahin a.k.a. Lady Ray will mit expliziten Texten und der Selbstbezeichnung als Bitch – Hure provozieren und irritieren. Vermeintliche Gegensätze wie Hure, Türkin und Akademikerin vereint sie zu einem neuen  Kunstprodukt. Dabei reiht sie sich in die Tradition von Rapperinnen wie Missy Elliot, Lil Kim oder Foxy Brown ein, die ebenfalls eine Umdeutung des sexistischen Begriffs bitch, hin zu einer positiven und selbstbewussten Eigenbezeichnung betrieben haben.

Auch wenn die Zuschreibungen ins Rollen gebracht werden, ist die Frage ob diese Strategie aufgeht. Lady Ray bedient zwar einerseits den männlichen Blick auf den weiblichen Körper, doch setzt sie dem auch eine starke und lustbetonte Haltung entgehen. Dabei wagt sie den Spagat zwischen Stereotyp und Emanzipation. Sie hat auch eine politische Message, sie möchte ein neues türkisch-deutsches Frauenbild stark machen. Emanzipiert, temperamentvoll und stolz soll dieses laut eigener Aussage sein. Ihre Themen sind Sex und Migration. Dabei fällt auf, dass sie ihre Zielgruppen auch sprachlich aufteilt. In deutschen Tracks begeht sie den sexuellen Tabubruch; in den türkischen Songs rappt sie gegen Moral- und Ehrvorstellungen türkischer Männer, nachdenklicher und tiefgründiger klingen eher die türkischen Songs, wohl auch weil sie sich inhaltlich damit an die türkischen Frauen wendet. Spannend wäre die Frage, wie türkisch-deutsche Frauen diese Strategie deuten würden. 

The world is a Getto

Auf der anderen Seite beziehen sich viele türkisch-deutsche Rapper auf ihren eigenen Block. In diesen Tracks wird das eigene Getto als bedrohlich, spannend und anziehend stilisiert. Das Getto verkörpert bei dieser Betrachtung eine scheinbare Wahrheit. Dies geschieht in Abgrenzung zu Produktionen, bei denen spielerisches Vorgehen, Ironie und Wortwitz im Zentrum steht. Durch diese einseitige Betrachtung des Gettos fokussiert sich der Blick nur auf eine männliche Revierverteidigung. Der Alltag eines Gettos wird hier reduziert auf eine männlich aggressive Verteidigung der Strasse gegenüber dem Fremden. Damit einher gehen sexistische, homophobe und aggressive Haltungen. Die romantisierenden Bilder sind statisch und nicht dynamisch angesetzt. Denn sie produzieren einerseits Einschluss in den Musikmarkt und andererseits Ausschluss, da die Rapper auf bestimmte Rollen festgeschrieben werden.

Der Moment des Ausbruchs, des auf sich aufmerksam machen und die Teilhabe, Mitgestaltung und Veränderung der Gesellschaft, geht bei dieser Betrachtung verloren. Die wirklichen Probleme wie Arbeitslosigkeit, fehlende Bildungschancen, sozial desolate Vorstädte, repressive Ausländergesetze, Ausgrenzungen von Frauen und Schwulen, die schwierigen ökonomischen Bedingungen usw. fallen dabei unter den Tisch.

Jedoch können diese Bilder auch einen subversiven Moment aufweisen, wenn sie ehrlich und kreativ benutzt werden. Darin liegt auch die Chance für eine eigenständige Artikulation und die Brechung von hegemonialen Bildern, sowie die Annäherung unterschiedlicher Szenen. Ein gutes Beispiel ist hier der Berliner Rapper Bektas, der poetisch und kraftvoll soziale Realitäten reflektiert und gleichzeitig Migrationsgeschichte vermittelt. Mit seinen biografischen Erzählungen über Familie und Alltag lässt er jene erscheinen, die bisher nicht im Lichte standen. Damit bringt er Rap wieder dahin zurück, wo er einst vor langer Zeit begann, zu den Außenseitern der Gesellschaft.

 

Literaturhinweis

Murat Güngör, Hannes Loh: „Fear of a Kanak Planet – HipHop zwischen Weltkultur und Nazirap“, Hannibal Verlag 2002 

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Murat Güngör, geb.1969 in Tarsus/Türkei, studierte Kulturanthropologie, Soziologie und Politik in Frankfurt. Von 1990 bis 1999 war er als Rapper und Produzent aktiv und veröffentlichte das erste Rapalbum in türkischer Sprache in Deutschland.