'Diversity'. Differenzordnungen und Modi ihrer Verknüpfung

Stencil an Hauswand "all different – all equal"

von Paul Mecheril

"Echte Reflexion denkt weder über einen abstrakten Menschen
noch über eine Welt ohne Menschen,
sondern über Menschen in ihren Beziehungen mit der Welt nach“
(Paolo Freire)

Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und der Demontage des Vorherrschafts- und Alleinerklärungsanspruchs von Klassentheorien, im gewissermaßen postsozialistischen Zeitalter also, wird die Frage, wie Ungerechtigkeit beseitigt werden kann, nicht mehr allein oder vorrangig mit Bezug auf Klasseninteressen und -lagen beantwortet. Bezugnahmen auf vielfältige Formen von sozialer Zugehörigkeit sind diskursiv, aber auch im Selbstverständnis und den Handlungsweisen Einzelner und einzelner Gruppen bedeutsame politische und soziale Momente; insbesondere, wenn es darum geht, sich zu erkennen, sich zu verstehen, sich zu respektieren und - nicht zuletzt in einem politischen Sinne - erkannt, verstanden und respektiert zu werden. Anerkennung und Würde, Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Partizipation werden in der postsozialistischen Gegenwart vermehrt mit Bezug auf Gruppenidentität und Differenz thematisiert.

In diesen (historischen) Zusammenhang gehören auch die Idee und das Programm, das den Namen „Diversity“ trägt. Freilich ist es eher unklar, was der Ausdruck „Diversity“ nun genau meint. (Zuweilen ist er lediglich ein anderes Wort für die Differenzverhältnisse, mit denen multikulturelle und interkulturelle Ansätze beschäftigt sind, zuweilen ist er lediglich ein anderes Wort für die Differenzverhältnisse, mit denen multikulturelle und interkulturelle Ansätze beschäftigt sind plus gender, zuweilen ist er lediglich ein anderes Wort für die Differenzverhältnisse, mit denen multikulturelle und interkulturelle Ansätze beschäftigt sind plus gender plus handicap usw., zuweilen bezieht sich Diversity auf unterschiedliche als gegeben verstandene Unterschiedsformen von Menschen, zuweilen bezieht sich Diversity vorrangig auf situative und politische Bedingungen der Produktion von Unterschieden, zuweilen wird Diversity mit und ohne Bezug auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse gedacht usw).

Ich will „Diversity“ hier als einen Ansatz verstehen, der sich mit der Vielzahl differierender Subjektpositionen und den unterschiedlichen Machtlinien und -achsen beschäftigt, die diese Positionen hervorbringen. Dieses noch recht allgemeine Verständnis möchte im ersten Teil meines Beitrags mit Hilfe des Ausdrucks „Differenzordnung“ ein wenig erläutern, so dass ein Verständnis von Diversity erkennbar wird, das das Zusammenspiel unterschiedlicher Subjektpositionen, als Zusammenspiel von Differenz- und Machtverhältnissen betrachtet - darauf gehe ich im zweiten Teil ein, um am Ende politische Anschlüsse zu markieren, die aus den Überlegungen resultieren.

Differenzordnungen

Es ist das Verdienst einiger intellektueller Traditionen, die in einem engen Zusammenhang zu sozialen Bewegungen stehen - die Frauenbewegung, das Einfordern von Rechten für Schwule und Lesben und das Ringen um Anerkennung seitens ethnisch-kultureller Minderheiten sind hier die vermutlich bekanntesten Beispiele - Differenzverhältnisse grundlegend mit Bezug auf Macht und Ungleichheit zur Geltung gebracht und untersucht zu haben. 

Wenn wir ungeachtet der Besonderheit jeder Differenzordnung (gender, race, class ….) danach fragen, was Differenzordnungen allgemein kennzeichnet, dann können wir festhalten, dass diese Ordnungen eine im Innenraum von gesellschaftlicher Realität angesiedelte, projeziierte und wirkende Macht darstellen, die dort, also intern Sinn schaffen. Sie führen Unterscheidungen ein, die das gesellschaftliche Geschehen symbolisch und materiell, diskursiv und außer-diskursiv für Mitglieder von Gesellschaften begreifbar machen. Erfahren, begriffen und verstanden wird mit Hilfe von Differenzordnungen gesellschaftliche Realität und die eigene Position in ihr. Differenzordnungen strukturieren und konstituieren Erfahrungen, sie normieren und subjektivieren, rufen, historisch aufklärbar, Individuen als Subjekte an.

Was wir in sozialen Zusammenhängen für uns und für andere sind, sind wir jeweils auch mit Bezug auf unsere in kontextspezifischen Praxen und Imaginationen und Erfahrungen bestätigten Differenzposition(en). Bei einigen dieser Ordnungen, die auf Grund ihrer grundlegenden sozialen, politischen und individuellen Bedeutung als fundamental bezeichnet werden können - gender, race, class  -, handelt es sich um Ordnungen, die biographisch früh strukturierend auf Erfahrungen, Verständnisweisen und Praxisformen wirken. In dem Sinne, in dem Erving Goffmann die duale Geschlechterklassifikation (und eben nicht „Geschlechtsidentität“) als Kern des Geschlechterphänomens bezeichnet hat, möchte ich allgemein sagen, dass für die symbolisch-klassifikatorische Realität einer Gesellschaft fundamentale Differenzordnungen von zentraler Bedeutung sind.

Solche fundamentalen Differenzordnungen können wir als (immer gegebene) Hintergrunderwartungen verstehen, die auch dann bedeutsam sind und strukturierend wirken, wenn sie nicht explizites Thema sozialer Situationen sind. Die sozialisierende Wirkung grundlegender Ordnungen besteht darin, dass sie Selbstverständnisse praktisch, kognitiv-explizit, aber in erster Linie auch sinnlich-leiblich vermitteln, in denen sich soziale Positionen und Lagerungen spiegeln. Differenzordnungen vermitteln zudem ein Verständnis der sozialen Welt, in dem sich die je eigene Stellung in ihr darstellt. Differenzordnungen sind Ordnungen hegemonialer Differenz; in ihnen wird folgenreich unterschieden, in ihnen lernt man sich kennen, in ihnen bilden sich Routinen des Körpers, der Sprache, des Denkens aus, die den eigenen Platz in einer sicher nicht starren, aber gut gesicherten Reihe von hierarchisch gegliederten Positionen wiedergeben.

Drei zentrale Aspekte von Differenzordnungen

Insgesamt sind fundamentale Differenzordnungen also - so wie es in den kritischen Diskursen und sozialen Bewegungen etwa feministischer oder rassismuskritischer Provenienz getan wird - als Machtordnungen zu verstehen; mit Blick auf das Verhältnis von Macht und fundamentalen Differenzordnungen müssen hierbei drei Aspekte analytisch unterschieden werden:

  • Differenzordnungen sind erstens machtvoll, weil sie in ihrem Einflussbereich Mittel der Disziplinierung, der Habitualisierung und Bindung zur Wirkung bringen (in von Differenzordnungen strukturierten Gesellschaften findet Subjektwerdung immer im Lichte dieser Differenzordnungen statt: wir werden nicht nur als Frauen oder Männer angesprochen, als „mit Migrationshintergrund“ oder „ohne“, wir können uns dieser Ansprache auch gar nicht entziehen und werden das, was wir sind, überhaupt erst im Lichte des (An)Gebotes dieser Ordnungen).
  • Differenzordnungen sind zum zweiten machtvoll, da sie Zusammenhänge darstellen, für die charakteristisch ist, dass bestimmte Zugehörigkeiten und Identitätspositionen politisch und kulturell gegenüber anderen privilegiert sind (Überall dort, wo Subjektpositionen in einem Schema der Über- und Unterordnung angeordnet sind, haben wir es mit asymmetrischen Reflexionsbestimmungen zu tun: der und die Heterosexuelle als Reflexionsbestimmung der lesbischen oder schwulen Position, „Whiteness“ („Europeanness“, „Zivilisationness“...) als Reflexionsbestimmung des schwarzen, muslimischen Anderen, Mann als Reflexionsbestimmung von Frau. Untergeordnete Positionen sind, wie es Slayvoj Zizek formuliert hat, „Symptome“ der übergeordneten Positionen).
  • Schließlich sind fundamentale Differenzordnungen machtvoll, weil sie zu jenen Ordnungen gehören, die häufig mit einer exklusiven Logik operieren und den Einzelnen auferlegen, sich in dieser ausschließenden Ordnung darzustellen und zu verstehen: entweder Mann oder Frau; entweder mit oder ohne Migrationhintergrund, entweder Schwarz oder Weiß, entweder homo- oder heterosexuell, entweder deutsch oder türkisch (die (dekonstruktive) Kritik an den für das Recht und die Würde inferiorer Subjektpositionen kämpfenden sozialen und politischen Bewegungen setzt ja an diesem Punkt an: dass diese Bewegungen den Schematismus der Unterscheidung bestätigten und dadurch die Wirksamkeit des Verortungs- und Erkundungszwangs intensivierten. Durch die Bestärkung der binären Unterscheidung zwischen Frauen und Männern etwa in feministischen Ansätzen würde nicht nur die Vielfalt der Geschlechter ausgeblendet, sondern vielmehr wirke diese Praxis selber normierend und stigmatisierend. Insbesondere dekonstruktive Strategien  - wie etwa Melanie Plößer in ihrer Studie zu Dekonstruktion, Feminismus und Pädagogik zeigt - zielen auf die Infragestellung des binären Rahmens der Differenz, indem sie sowohl dessen Gewaltcharakter aufzeigen und nach Wegen suchen, den als anders, unnormal, unbestimmbar oder unlebbar geltenden Lebensformen „zu ihrem Recht“ verhelfen).

Der Zusammenhang der Differenzordnungen

Bis hierher habe ich über gewissermaßen die Grundeinheit von „Diversity“ - „Differenzordnung“ - nachgedacht. Dabei kann das Nachdenken nicht stehen bleiben. Wer „Diversity“ theoretisierend zum Thema macht, muss selbstverständlich auch über den Zusammenhang der unterschiedlichen Differenzordnungen nachdenken.
Es ist häufig herausgestellt worden, dass sich die Vielfalt der Identitäten und Differenzen, die Vielfalt der Differenzordnungen weder empirisch noch theoretisch angemessen in Modellen der Addition (gender plus race plus class plus handicap ...) beschreiben lässt. Dies ist sicher überzeugend, allein, wenn wir an uns hinuntersehen.

Dennoch würde ich die Vorstellung nicht ganz aufgeben, da es Phänomene der Sukzession von Differenzzuschreibungen gibt, über die es lohnenswert wäre genauer nachzudenken. Ich will dies nur andeuten. Wenn jemand etwa am Telefon in native german wegen einer freien Wohnung oder einer freien Ausbildungsstelle vorspricht, dann aber als Schwarzer Deutscher in der face-to-face Situation der Kopräsenz zurückgewiesen wird, findet eine Art subtraktive Sukezession statt. Oder, um Judith Butlers performativitätstheoretische Geschlechtertheorie in Erinnerung zu rufen: die Hebamme oder Ärztin wird auf die Frage, „Na, was ist es denn?“, in der Regel nicht sagen: „Ein Baby mit Migrationshintergrund“, sondern: „Es ist ein Mädchen“. Was ich sagen will: die Untersuchung biographischer Anrufungen durch Differenzordnungen und die Effekte ihrer Sukzession; ist ein interessanter und, soweit ich weiß, nur wenig untersuchter Zusammenhang.

Gleichwohl ist es insgesamt wohl angemessener das Zusammenspiel der Differenzordnungen - so wie dies beispielsweise Nancy Fraser vorgeschlagen hat - im  Bild eines mehrdimensionalen Raumes wiederzugegeben werden, der durch unterschiedliche Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheit, Differenz und Ungerechtigkeit hervorgebracht wird. (Im Übrigen ist dieser im mehrdimensionalen Koordinatensystem der Differenz ausgelegte Raum kaum noch vorstellbar, was darauf verweist, dass „Diversity“, so wir damit einen mehrdimensionalen Zusammenhang assoziieren, unser Vorstellungsvermögen eher überschreitet: „Diversity“ ist unvorstellbar). Gender, Klasse, race , sexuelle Orientierung stellen nicht die einzigen, aber bedeutsame Dimensionen der Ungleichheit und Differenz dar, die Interessen, Temperamente, Identitäten einer jeden Person berühren, wobei diese Positionierungen diachron und synchron als variable und kontextspezifische Positionierungen in einem mehrdimensionalen Raum gedacht werden müssen. Ich will aber neben der sukzessiven und der dimensionalen, noch auf eine dritte Form der Relationierung von Differenzordnungen hinweisen, die wir kontextuale Relationierung nennen können. Diese kontextuale Relationierung will ich an einem ganz kurzen Videoclip vorführen, einem italienischen Werbespot für Waschmittel.

Exkurs: kontextuale Relationierung

In diesem Clip ereignet sich auf der Ebene der Differenzordnungen, auf der Ebene der Inszenierung und des mehrfach kodierten Spiels mit Differenzen eine ganze Menge; ich will mich auf drei Aspekte beschränken, die ich kontextuale Relationierung, Bestätigung und Verschiebung von Vorherrschendem und das vergnügliche Lachen nenne.

Zunächst: gender und race sind in der Darstellung im Video Kontexte der Bedeutung und Kontexte heterosexueller Praxis, die einander thematisieren und spezifisch konstituieren. Race wird im zur Schau gestellten Muskelspiel des Schwarzen zu einem Kontext der Inszenierung von heterosexueller Maskulinität (doing masculinity): in der schlaffen Unterhose des weißen Mannes zu Beginn ist das Bild männlicher Schlaffheit überhaupt angesprochen. Mit Hilfe der Relationierung von Weiß und Schwarz klärt sich somit die Norm hegemonialer Männlichkeit, die durch das in der Normalitätsform Heterosexualität vorgebrachte Begehren der Frau ratifiziert wird.

Zugleich ist dieses doing masculinity der Kontext in dem sich race konstituiert. Der Schwarze ist sein Körper (weiße Männer haben einen Körper, Schwarze und Frauen sind ihr Körper) und er ist offenkundig auch nicht mehr als sein Körper (anders als der weiße Mann, der immer mehr ist als sein Körper, er ist: sein - hier vielleicht buchhalterisches - Denken, seine Hinterhältigkeit, seine hier veräppelte, aber dadurch nicht minder angerufene Gewitztheit). Gender wird hier somit zum Kontext der Thematisierung der Natürlichkeit und Naturnahheit des schwarzen Anderen, ein Thema dessen Bedeutung nur mit Bezug auf Rassismus und die rassistische Fixierung des Anderen im Status Nicht-Geist und im Status eines durch Vergegenständlichung verfügbaren, einerseits arbeitsamen, andererseits sexualisierten Objekts verständlich wird.

Zugleich stirbt der weiße Mann. Das Video führt nicht nur die „Kolorierung“, die  Verwandlung des Mannes vor, sondern auch den vermutlich schmerzhaften Tod des Mannes, der weiß ist. Doch seine Farbe wird erst im letzten Teil des Clips zum Thema, bis dahin ist weiß noch der neutrale und universelle, der unbenannte Ort. Erst mit dem Auftauchen des Schwarzen wird deutlich, dass es sich bei dem ersten Mann nicht nur um einen Mann, sondern um einen weißen Mann gehandelt hat. Bis dahin ist die Behandlung, die ihm widerfährt noch eine, in der sich eine Frau der männlichen Annäherung rabiat und auch verärgert-genervt, in einem quasi erforderlichen Akt entledigt. Es handelt sich hier um die Erledigung nicht nur eines Mannes, sondern um die Erledigung einer Praxis, in der sich ein nicht tolerierbares Unvermögen artikuliert, die körperlichen und sexuellen Grenzen anderer zu akzeptieren. Diese (männliche) Praxis wird beseitigt.

Vor dem Hintergrund dessen, dass hier also nicht allein eine persönliche Disposition thematisiert wird, weist die Tat der Frau, also die  Zurückweisung und Beseitigung des Mannes, das Rudiment einer politischen Dimension auf, eine politische Handlung, die auf einer das sexuelle Spiel dem Anschein nach mitmachenden List (erneut ein genderisiertes Bild) basiert. Das politische Motiv wird aber augenblicklich zurück genommen als mit dem Erscheinen des schwarzen Männerkörpers sich das Tun der Frau ändert. Sie verwandelt sich von einer Person, die eine gewisse Komplexität des Handelns und Erlebens darstellt, in die Monovalenz der Hingabe an den Mann. Race wird zum Kontext der Aufrufung des hegemonialen Bildes Frau. Frau ist die, die sich dem Mann und seinem Kraft symbolisierenden, Macht strotzenden Körper hingibt. In der Annahme und Zurückweisung des Mannes konstituiert sich die Handlungsfähigkeit der Frau. Damit wird das angesprochen, was wir als „Symptom“ verstehen können.

Freilich wird das Symptom Schwarz in diesem Clip inszeniert mit Rückgriff auf eine Prozedur der Reinigung. Die Reinigung des weißen Mannes produziert den Schwarzen. Dies ist ein einigermaßen überraschendes Geschehen und eine wirklich nicht erwartbare Darstellung, operiert Rassismus doch - ich habe dies in meinem Buch Politik des Unreinheit beschrieben - im Dreischritt von Trennen, Ordnen und Reinigen. Hier wird das rassistische Reinigungsthema in einer in gewisser Weise die rassistische Ordnung destruierenden Weise vorgeführt. Auch deshalb lächeln die beiden am Ende des Clips. Das Ende des Clips verstehe ich ohnehin als ein großes und betörendes, heterosexuelles Lächeln, das Lächeln des Flirts, also der dosiert, aber offenkundig vorgebrachten Begehrlichkeit, ein Flirt, der aber nicht irgendein Flirt ist, sondernd ein Flirt, den das Zusammenspiel hegemonialer Ordnungen hervorbringt, der diese Ordnungen bestätigt, bekräftigt, aber auch schwächt und verschiebt.  Die beiden scheinen zu wissen, um was es in dem Spot, in dem sie vorkommen, geht. Deshalb lächeln auch wir, die  Zuschauer - über die Schwäche der Ordnung, die von der Ordnung selbst hervorgebracht wird. Das vergnügliche Lächeln steht am Ende und wenn John Fiske (mit seinen Untersuchungen zu beispielsweise im Vormittagsprogramm laufenden Quizsendungen) Recht hat, dann wohnt dem Vergnügen (zumindest auch) ein widerständiges Moment inne.

Politische Perspektiven

Orte der Politik finden sich überall dort, wo Menschen in öffentlichen Zusammenhängen oder mit Bezug auf Öffentlichkeit Macht über sich selbst und andere wirksam werden lassen oder danach streben, dies zu tun. In diesem Sinne ist „Diversity“ eine politische Praxis. Sie kann als ein Prinzip der (intendierten) Orientierung, Organisierung und Lenkung von Menschen verstanden werden. Das Prinzip „Diversity“ fokussiert Differenzen zwischen Menschen und betrachtet die Berücksichtigung von Unterschieden als Schlüssel zu Erfolg und/oder Gerechtigkeit. Die hierbei zentrale Frage ist, inwiefern „Diversity“ eine eher emanzipative oder eher bemächtigende Praxis ist. Die sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen abzeichnende Antwort lautet: beides: „Diversity“ ist sowohl eine Praxis der Annexion von und durch Differenz als auch eine Praxis, die den Ausschluss marginalisierter Positionen und Identitäten mindern kann. Wichtig ist nun, die hegemonialen Wirkungen von „Diversity“-Praxen zu problematisieren und dadurch „das emanzipative“ Potenzial (i.S. v.: es geht darum, für Verhältnisse einzutreten, in denen Menschen würdevoller leben und arbeiten können) durch kritische Reflexion zu stärken. Eben weil Differenzordnungen machtvoll sind, reicht es nicht aus, sich auf diese Ordnungen affirmativ zu beziehen (wie beispielsweise in bestimmten Spielarten multikultureller oder feministischer Politik).

Vielmehr müssen Differenzverhältnisse auch immer in mehrerer Hinsicht als Verhältnisse verstanden werden, die zuweilen als Dominanz und Herrschaft wirkende Macht über Menschen ausüben. Diversity ist erst dann als politische Praxis überzeugend, wenn aus dem Wissen um die Verwobenheit von Differenz- und Machtverhältnissen (zur Erinnerung: Differenzordnungen subjektivieren, privilegieren differentiell und neigen zu binaren Unterscheidungen) reflexive Konsequenzen gezogen werden. (Das Problem, dass der relativen Handlungsentlastetheit beispielsweise wissenschaftlicher Erkenntnis auf der Seite professionellen Handelns die relative Reflexionseinschränkung des praktischen Handlungsvollzugs korrespondiert, kann im Übrigen theoretisch entschärft werden, wenn wir nicht auf der strikten Gegenüberstellung von „Reflexion“ und „Handeln“  bestehen, und Reflexionstätigkeit als ein Phänomen begreifen, das wie Handlungsvermögen überhaupt sich in und über Routinisierung und Habitualisierung vermittelt.)

Für eine reflexive Diversity-Praxis

Einem reflexiven Ansatz muss es vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen um dreierlei gehen. Erstens darum, sich systematisch mit der Frage auseinanderzusetzen, wo das Eintreten für Differenz und für die Pluralität von Differenz Machtverhältnisse als Dominanz- und Herrschaftsverhältnisse bestätigt und ermöglicht. Ein Kennzeichen des hier angesprochenen reflexiven Ansatzes besteht darin, sich dem „Feiern der Differenz(en)“ zu enthalten und vielmehr genau zu registrieren, unter welcher Bedingung das Eintreten für Differenz(en) weniger machtvoll ist. Ein reflexiver Diversity-Ansatz ist ein in einem weitreichenden Sinne beobachtender Ansatz, der die Entmächtigung von Menschen durch Differenzdiskurse und durch auf Identität beharrenden Verständnissen kritisiert.

Zugleich und zweitens heißt dies, dass Diversity als politische Praxis nur da überzeugend sein kann, wo sie selbstreflexiv ist. Diversity ist kein Königsweg (auch wenn so manche Hochglanzbroschüre dies zu versprechen scheint), sondern eine soziale und politische Praxis, die selbst auf ihre ausschließenden Effekte zu betrachten ist. Welche klischeehaften Vorstellungen werden durch Diversity-Ansätze befördert und revitalisiert? Welche Differenzzusammenhänge werden durch Diversity-Ansätze vernachlässigt? Auf welche Differenzzusammenhänge werden Menschen durch Diversity-Ansätze festgelegt? Wer profitiert von Diversity-Ansätzen? Wer gewinnt nicht oder verliert durch Diversity-Ansätze? Wem nützen, wem schaden Diversity-Ansätze? Diese und ähnliche Fragen, wären Perspektiven, die integraler Bestandteil einer sich ihres Machtpotenzials bewussten, reflexiven Diversity-Praxis wären.

Schließlich pflegt eine reflexive Praxis eine Aufmerksamkeit und auch eine bedingte Vorliebe für Phänomene, die aus dem Rahmen der üblichen Unterscheidungen, aus dem Rahmen dessen fallen, was mit Differenzordnungen ohne weiteres verstanden, klassifiziert, erkannt und eingeordnet ist. Es geht hier um ein Interesse an dem nicht schnell Verstehbaren, an dem  Mehrfachen, dem Uneingeordneten, dem sich den Ordnungen Entziehenden. Wo es politischen Strategien gelingt, an solche Phänomene anzuschließen, gewinnen sie eine Perspektive, die das einteilende, das vereindeutigende, das klassifizierende und das fixierende Denken und Handeln schwächt. Dieses Vermögen stellt aber keinen Selbstzweck dar, es geht in der Be-Achtung des Uneindeutigen nicht um ein Achten des Uneindeutigen des Uneindeutigen wegen, sondern vielmehr darum, an konkrete und empirisch gegebene Phänomene der Uneindeutigkeit anzuschließen, ihnen, so könnte man sagen, nachzueifern, um - und dies schient mir ein sehr gutes Motiv von reflexiven  Diversity-Ansätzen zu sein - den Menschen gerechter zu werden.

 

Bild entfernt.

Paul Mecheril ist Professor für Interkulturelles Lernen und Sozialer Wandel an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck.