Grüblerisches zum Thema „Heimat in der Fremde“

Teaser Bild Untertitel
Navina Sundaram

von Navina Sundaram

Berichten, anstatt zu beichten
Im Jahre 1931 sprach Erika Mann einmal hoffnungsvoll von der erwünschten Eigenart der modernen Autorin: „Die Frau, die Reportage macht, in Aufsätzen, Theaterstücken, Romanen. Sie bekennt nicht, sie schreibt sich nicht die Seele aus dem Leib, ihr eigenes Schicksal steht still beiseite, die Frau berichtet, anstatt zu beichten.“ Mein erlernter und ausgeübter Beruf als Journalistin und Fernsehreporterin sowie Redakteurin brachte es mit sich, dass ich hauptsächlich berichtet habe. Ich habe gelegentlich einen bekennenden Journalismus betrieben, einen engagierten womöglich, nie aber einen beichtenden. Nun soll ich über meine Erfahrungen in diesem unserem Lande erzählen (ist erzählen gleich beichten?) und für wen eigentlich? Für die Kinder? Für die Enkel? Eigene sind ja nicht vorhanden! Sachdienliche Informationen für die zweite Generation? Für die dritte Generation? Warum sollten meine Erfahrungen für die „Inderkinder“ von einst oder von morgen oder von übermorgen von Interesse, geschweige denn von Relevanz sein? Rauf- und runtergeleiert auf der Emotionsskala habe ich das garstige Lied von Gegensätzen, die vielleicht keine waren, auf jeden Fall für mich keine mehr sind: Insider/Outsider, Binnensicht/Außensicht, Stereosicht, Inklusion/Exklusion, fremd in der Heimat, heimisch in der Fremde. Befremdung, Entfremdung, Verfremdung, wurzellos und frei, verwurzelt und verwurschtelt, homogen/hybrid, authentisch/künstlich, Einfalt/Vielfalt, Singularität/Diversität, Doppelperspektive, Grenzen grenzenlos verwischt. Rollenspiele allesamt. Identitäten kreieren? Vielleicht sollte ich mir eine völlig neue Identität zulegen, eine Rekonstruktion, frei erfunden nach imaginären Erinnerungen von hier und von dort und mit sanften Ironien zusammengefügt. Zum Beispiel: Die Suche nach meinen Wurzeln endet im Möhrenbeet eines Deutschlands der Gartenzwerge!

Wie soll ich dem zwanghaften Hineinpressen in Schubladen, in maßgeschneiderte Kulturidentitäten entgehen, wenn meine Großmutter Ungarin, mein Großvater Sikh, mein Vater Tam-Brahm (ein Brahmane aus Tamil-Nadu) sind und ich – eine bunte Mischung – gehegt und gepflegt in einer kosmopolitischen Metropole mit einer britisch-kolonialen Geschichte, einer national-säkularen indischen Geschichte, und später einer bundesrepublikanischen deutschen Geschichte, auf die ich jederzeit mit Leichtigkeit zurückgreifen kann? Aus so üppiger Vielfalt sollte ich mich für eine klar definierte Identität entscheiden? Wie ärmlich! Wie beschränkt! Multiple choices sind keine Bedrohung, sondern eine Befreiung. Wie kam ich nun nach Hamburg? Angefangen hat alles ganz harmlos. Für eine Sendereihe „Asiatische Miniaturen“ benötigte der damalige ARD-Asien-Korrespondent, Hans Walter Berg, in Neu-Delhi einen einheimischen Aufmacher, und er fand ihn in meiner Person. So tauchte ich hinter einem Fächer hervor, in voller indischer Montur – Sari inbegriffen –, und stammelte ein paar auswendig gelernte Sätze auf Deutsch. Das war meine erste Begegnung mit dem Deutschen Fernsehen. Wir schrieben das Jahr 1963. Berg notierte in seinen Memoiren „Indien: Traum und Wirklichkeit“ (Hamburg 1985, S. 173): „Nach diesem etwas abenteuerlichen Debüt lernte die junge Inderin in kürzester Zeit, richtig Deutsch zu sprechen; sie bewährte sich als Studio-Mitarbeiterin, so dass der NDR sie zu einer zweijährigen Ausbildung in allen Sparten der Fernseharbeit nach Hamburg holte. Dort avancierte Navina in der Hauptabteilung »Zeitgeschehen« bald zur festangestellten Redakteurin, die ihre eigenen Dokumentarfilme und ‚Weltspiegel’-Beiträge [...] produzierte. Aus der Außenseiter-Elevin ist inzwischen eine der profiliertesten Fernseh-Journalistinnen deutscher Sprache geworden, die –- völlig auf sich allein gestellt, ohne jegliche Partei- Patronage – gegen mancherlei ehrgeizige Konkurrenz ihren Platz durch Leistung errungen hat.“

Ich zitiere diese Passage, weil Lob aus fremder Feder einfach besser ankommt. Wie war es damals, 1964, als ich zum ersten Mal – gerade 18 Jahre alt geworden – das „Kala Pani“ (das schwarze Wasser) überflog und in Hamburg für meine zweijährige Ausbildung beim Norddeutschen Rundfunk/Fernsehen landete? In Abwandlung des bekannten Caesar-Zitats „Veni, vidi, vici!“ könnte ich ausrufen: „Veni, vidi, mansi!“ Ich bin gekommen, ich habe gesehen (vielleicht habe ich auch gesiegt), aber vor allem: Ich bin geblieben. Genauer gesagt, ich pendelte zwischen hier und dort. Und ich hatte Angst. In einem Brief an eine Freundin, meine zeitweilige Deutschlehrerin, eine deutsche Kommunistin, die vor den Nazis in den 1930ern nach Indien geflohen war, schrieb ich am 10. Mai 1964 frisch importiert aus Delhi Folgendes noch in ziemlich mangelhaftem Deutsch: „Ohne Berg wäre ich wirklich verloren hier. Alles ist noch natürlich fremd und seltsam – mit der Sprache habe ich viele Schwierigkeit und es scheint mir genau wie ein Gespräch das man durch eine halb offene Tür hört in Watte eingewickelt. Aber das braucht nur Zeit und Geduld und viel habe ich von beiden. Gestern war ich in diesem Jenisch Park gewesen – und dort habe ich ein Museum von Barlach gesehen – unglücklicherweise war es zu – aber ich habe sofort an dir gedacht und erinnerte mich das ich muss an dir schreiben. Jetzt fühle ich mich satt und dick – ich habe schon sehr viel gefressen – Gänseleber, Spargel, Würste und die arme heilige Kuh und auch natürlich eine halbe Flasche Wein getrunken. Ich warte auf C. Sie ist jetzt nur zwei Stunden spät. Manchmal habe ich ein großes Heimweh und dann verlange ich mich nach einem vertrauten Gesicht und so etwas. Und auch manchmal habe ich eine große Angst vor der Arbeit hier – und ich erwarte nur Niederlage davon. Aber das ist bald vorbei oder mehr wahrscheinlich ist es fest niedergedrückt. Also was für ein Quatsch...“ So kam ich ins Nachwuchsstudio des NDR unter der Leitung des großen alten Publizisten Axel Eggebrecht und lernte sechs Monate lang das Hörfunk- und Fernsehhandwerk von der Pieke auf. Es folgten Stationen bei der Tagesschau, bei der Fernsehspielabteilung, bei Kultur und Wissenschaft und beim Zeitgeschehen.

„First-class immigrant“
Das Leben, die Arbeit in Deutschland, waren für mich zugleich unendlich leicht und unendlich schwer. Damals, 1964, stand mir alles offen. Ich konnte es mir aussuchen. Denn schließlich war ich eine Sensation – der exotische Gast aus dem ewig geheimnisvollen Indien hatte Seltenheitswert. Zu diesem Zeitpunkt gab es kaum Inder in Deutschland, schon gar nicht beim Fernsehen. Ich war ein „first class immigrant“. Es war ein Ausländerbonus, den ich einerseits genossen habe, andererseits aber auch als lästig empfand. Ich wollte ja dazugehören; ich hatte den Spruch satt: „Nun wollen wir es aus ‚anderen Augen’ betrachtet sehen.“ Ich wollte aus dieser geistigen Ghettoisierung heraus. Raus aus der Marginalisierung, rein in den Mainstream. Das, was ich als normal empfand, wurde zum Exotischen erklärt und umgekehrt. Und immer war es eine ungelöste Frage von Nähe und Distanz, die mehr mit der Herkunft als mit der Qualifikation zu tun hatte. Ein Beispiel: Ich hatte 1973 mein erstes Feature für die ARD über Bangladesch ein Jahr nach seiner Entstehung gemacht. Eine Kritik in einer Hamburger Zeitung lautete: „Es war ein zwar übliches, aber gut gebautes Feature. Der Text war ausgezeichnet, die Regie auch. Doch fehlte der Reporterin die leider notwendige Distanz zu ihrem Thema. Nach Ostfriesland sollte man die begabte Dame einmal schicken. Da kommt dann vermutlich viel heraus."

Also war ich nach Meinung des Kritikers zu nah dran, zu involviert. Ich hatte mich im Detail verloren, war wohl zu engagiert und wurde unverständlich durch das, was ich für Differenzierung hielt. So weit, so gut, oder so schlecht! Ein Gegenbeispiel: Jahrelang hatte ich einen Streit mit der Redaktion von „Extra Drei“ um die Moderation der Sendung ausgefochten. Nein, meinte der zuständige Redakteur, die deutschen Zuschauer würden mir die Moderation über den Sumpf der niedersächsischen Landespolitik nicht abnehmen. Ich könnte mich einfach nicht darin auskennen, so wie ich aussähe. Diese Einstellung hat jedoch die Redaktion nicht davon abgehalten, von mir das Erbe des Dritten Reiches filmisch aufarbeiten zu lassen, die Kinder vom Bullenhusener Damm oder die Geschichte des SS-Arztes Hans Münch, der als einziger von 40 Angeklagten im Krakauer Auschwitz-Prozess 1949 freigesprochen wurde. Ich durfte auch über den Freikauf von DDR-Häftlingen durch die Bundesrepublik berichten. Hauptsache, ich war nicht zu sehen. Das Exotische, die Andere, sollte sichtlich nicht zum Alltag werden! Ein Kollege wurde immer ganz konfus, wenn ich in meinen Moderationen von „uns“ sprach. Er wusste nie, ob ich damit uns Inder oder uns Deutsche meinte, und das bereitete ihm Kopfschmerzen. Die indische Kunsthistorikerin Geeta Kapur nennt so etwas die „symmetrische Hierarchie von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, die wie eine Wippschaukel funktioniert.“ Und heute, Jahrzehnte später, sucht der Westdeutsche Rundfunk in Großanzeigen Journalistinnen und Journalisten mit Migrationsbiographie, denn der WDR sieht „Vielfalt als eine wichtige Ressource unserer Gesellschaft“ und bittet um Bewerbungen unter dem Stichwort: „Raus aus den Nischen!“ Späte Einsicht, aber immerhin, welche Erkenntnis im 21. Jahrhundert!

Ich gehöre der Sorte Menschen an, die sich den hiesigen Verhältnissen angepasst hat – heutzutage wird das gelungene Integration genannt. „Interessant, diese wechselnde Perspektive auf die Gesellschaft von Leuten, die nie gefragt werden, wo sie sich verorten, und die aus dem Mainstream unbedingt raus wollen, und von jemandem wie dir, der kommt und der öfter gefragt wird, woher er denn kommt, und der unbedingt rein will in den Mainstream“, bemerkte ein junger deutscher Filmemacher einmal, als wir über die 68er Studentenbewegung sprachen, und wie wichtig sie für meine Entwicklung war. In Deutschland wollte ich nicht lange bleiben, aber wie das Leben so spielt, sind aus den zwei Jahren über 40 Jahre geworden – und es ist viel Wasser die Elbe, den Fluss meiner Heimatstadt, herunter geflossen, aber auch viel Wasser den Jamuna, jenen Fluss meiner anderen Heimatstadt, Delhi, hinunter mäandert. Salman Rushdie, den ich 1984 in Hamburg anlässlich der deutschen Ausgabe seines Buches „Mitternachtskinder“ für das NDR-Bücherjournal filmte, sagte über den Emigranten-Intellektuellen: „Dass unsere physische Entfremdung von Indien fast zwangsweise bedeutet, dass es uns nicht gelingen wird, haargenau das zurückzugewinnen, was wir verloren haben; dass wir, kurz gesagt, Fiktionen erschaffen, nicht tatsächliche Städte oder Dörfer, sondern unsichtbare, imaginäre Heimatländer, ein jeder sein ganz persönliches Indien der Phantasie ... Vielleicht ist der indische Schriftsteller, der außerhalb seiner Heimat schreibt und versucht, jene Welt wiederzugeben, einfach gezwungen, zerbrochene Spiegel zu verwenden, von deren Scherben einige unwiederbringlich verloren sind. Ein indischer Schriftsteller in dieser Gesellschaft zu sein bringt tagtäglich Definitionsprobleme. Was bedeutet es, außerhalb Indiens, 'indisch' zu sein? Wie kann man eine Kultur bewahren, ohne dass sie dabei verknöchert? Wie sollen wir die Notwendigkeit einer Veränderung in uns selbst und in unserer Gemeinschaft diskutieren, ohne unseren rassistischen Feinden dabei scheinbar in die Hände zu spielen? ... Wie sollen wir in dieser Welt leben?“

Authentizität und Expertentum
Das ist im weiteren Sinne die nie endende Debatte über Authentizität und Expertentum. Authentisch bin ich doch, als Inderin. Na, doch nicht ganz, denn ich lebe in Deutschland. Bin in die Fremde gegangen, bin also weniger authentisch als diejenigen, die in Indien geblieben sind. Aber zugleich lehne ich es ab, mich als Teil der „Desi-Diaspora“, der indischen Diaspora, zu sehen. Ich fühle mich zu Hause so weit von zu Hause weg – und darin besteht kein Widerspruch.

Gebrochene Identität, fragmentierte Identität, und dennoch fühle ich mich vollkommen wohl. Bin ich nun intuitiv kosmopolitisch, weil ich eigentlich mühelos in tiefen Gewässern zwischen Süd-Asien und Europa navigieren kann? Hin und her schaukelnd zwischen Eurozentrismus und Indo-Zentrismus, mir immer wieder vergegenwärtigend, dass dieses Feld reich mit Tretminen besät ist. Gutmeinende Kollegen rieten mir übrigens ständig zur Rückkehr nach Indien – um einer vermeintlichen Entfremdung entgegenzuwirken. Zurück zu den Wurzeln im Eigeninteresse! Ein übereifriger, „politisch korrekter“ Zeitungsjournalist sah in mir sogar ein Paradebeispiel für gescheiterte Entwicklungspolitik! „Ausbildung auf Entwicklungshilfekosten genossen, Kenntnisse eines hochindustrialisierten Landes erworben, dann in der Fremde geblieben, wo sie zwar nichts für ihr Volk, aber viel für sich selbst tun kann.“ Weiter hieß es: „Wie ein bunter Paradiesvogel wirkt sie in der nüchternen Atmosphäre der Tagesschau.“ Sprache ist verräterisch. Ich war die Projektionsfläche für tradierte Indien-Vorstellungen, pendelnd zwischen Bewunderung und Herablassung, bis dann schließlich eines Tages von dem außer-ordentlichen Wesen nur noch ein ordentliches geblieben war. Wurde eine neue Kreatur geschaffen? Nein, jenseits aller Gebrochenheit, Fragmentierung und Hybridität hat sich eine politische und professionelle Identität entwickelt, die Fragen der Herkunft und Kultur und des Standortes eigentlich irrelevant macht oder machen sollte. Und immer wieder wird die Heimat neu erfunden. Noch heute fragen mich besorgte Menschen, wo ich nun meinen Alterssitz aufschlagen möchte. In Indien? In Deutschland? Und wenn sie so fragen, dann frage ich mich zwangsläufig auch. Ja, wo? In Delhi? Da, wo ich herkomme und wo das Familienhaus steht? Schließlich bin ich ein durch und durch urbanes Wesen, geprägt von städtischer Freizügigkeit. In dieser Molochstadt mit ihren ewigen power-cuts and load-shedding, diesen unangekündigten Elektrizitätsausfällen, die, der „Shining-City“-Propaganda der einst regierenden BJP-Partei zum Trotz, große Teile der Hauptstadt regelmäßig in einen stromlosen Zustand versetzen, deren Trinkwasserversorgung immer prekär am Versickern und Versiegen ist.
Diese 14-Millionen-Stadt mit ihren riesigen Entfernungen und dem permanenten Verkehrsstau mit immer schriller werdendem Lärmpegel. Diese Stadt, die mich jedes Mal mit ihrer Aggression fertig macht, mich erschöpft. Diese Stadt, die mir so vertraut, ja so lieb ist und gleichzeitig so fremd und in den Wahnsinn treibend. Und wenn ich wieder mal in einem Verkehrsstau auf einer endlosen Straße Richtung Gurgaon stecke, umnebelt von Abgasen, die klapprige, längst TÜV-überfällige LKWs absondern, geht mir durch den Kopf, wenn ich das moderne Apollo-Krankenhaus sehe – mit allen Schikanen der Schulmedizin ausgestattet: Was wäre, wenn ich jetzt verunglückte und schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden müsste? Sicherlich würde ich im Krankenwagen, sollte es uns gelingen einen solchen zu organisieren, verbluten, da es schier unmöglich wäre, sich einen Weg durch dieses Verkehrsknäuel zu bahnen. Und just in diesem Moment schlängelt sich doch ein Rettungswagen durch den allgemeinen Verkehrsstillstand hindurch und erreicht die Tore des Hospitals! Delhi ist immer wieder verblüffend. Aber dort alt werden? Der Alterssitz, ja wo? In Hamburg? In meiner anderen Heimat? Seit über 40 Jahren lebe ich in dieser Stadt, und mein Weg führt mich immer öfter auf den Ohlsdorfer Friedhof. Halb so groß wie Manhattan, pflegte ein Freund von mir einst zu scherzen, aber tausendmal toter. Der Tod ist ein Meister, nicht allein aus Deutschland, aber hier ist er mir vertrauter geworden. In Ohlsdorf habe ich Freunde, Weggefährten, Kollegen, Bekannte beerdigt, und mit ihnen wurde auch meine Jugend und ja, meine späte Jugend, wurden viele meiner Erinnerungen begraben. Es sind die Erinnerungen, die mich vorübergehend verorten – dieses Gewebe aus Erlebtem, Erlittenem, Erlachtem, aus Geschichten, Gerüchen und Geräuschen, das alles gehört zu meinem Reisegepäck. In Hamburg kenne ich mich aus. Hier habe ich ein funktionierendes Netzwerk. Hier fühle ich mich wohl. Man nennt mich auch gelegentlich eine hanseatische Inderin, und diese Bezeichnung nehme ich nicht übel. Ich mag diese Stadt, deren Hauptmerkmal der Hafen ist. Häfen ziehen mich an, weil sie mit Reisen, mit Transit – ob von Gütern oder Passagieren – zu tun haben. Man kann ankommen, aber genauso gut abfahren. Als Metapher für mein Leben finde ich das passend.

Sprache ist der Schlüssel
Ich habe die Sprache gelernt, um deutsche Literatur und Philosophie und politische Ökonomie im Original zu lesen, ob Marx oder Hegel, ob Nietzsche, Rilke, Heine, Busch oder Benn, Ringelnatz oder Morgenstern, Lenz oder Grass – und wenn ich etwas nicht verstand, dann sollte es nicht an einer missglückten Übersetzung liegen. Die Sprache ist der Schlüssel, und zusammen mit meinem Beruf als Fernsehmoderatorin und Redakteurin war das eine starke Kombination. Ich wusste: Hier ist mein Platz. Ja, auch als „First Class“-Einwanderer. Dabei war mir schon bewusst, wie perfide das ganze Getue um Sprachkenntnisse sein kann und wie unerreichbar hoch die Ansprüche an die Sprache – je nach Bedarf – geschraubt werden können. Die Möglichkeiten, die das Fernsehen mir eröffnete, waren schon grandios, damals, als der Kasten zu flimmern lernte und man sich seiner nicht schämen musste. Natürlich gab es Ups and Downs, Niederlagen, Demütigungen. Aber eine grundlegende Infragestellung meiner Position gab es eigentlich nicht – zumindest habe ich es als solche nicht wahrgenommen oder geflissentlich ignoriert.

Und es gab sie doch, diese schrecklichen, grauenvollen Momente, wo ich mit Brecht nur noch feststellen konnte: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre habe ich mich verstärkt auf die uns damals wie heute unter den Nägeln brennenden Probleme gestürzt: Asyl, weltweite Flüchtlingsbewegungen, Ausländerfragen, Menschenrechte, Entwicklungspolitik. Diese Beiträge sind seinerzeit in „Panorama“ gelaufen, als Features im Ersten und im Dritten Programm, als 60- und 90-minütige Diskussionssendungen. Es gab keinen Mangel an Sendezeit, an Sendeplätzen, an Engagement und Elan, an Sendungsbewusstsein. Wir wollten dem auch schon damals virulenten Ausländerhass entgegentreten, um Verständnis für die Lage der Asylbewerber, für die Situation der hier lebenden Ausländer werben, für die multikulturelle Gesellschaft in der Bundesrepublik plädieren, die sich endlich als Einwanderungsland verstehen sollte. Die Menschen, die in unseren Sendungen auftraten, waren Betroffene, aber selten Objekte. Ich dachte, wir seien auf dem richtigen Weg. Ich habe mich geirrt. Es ging alles nach hinten los. Die Jahre jener in meinen Augen aufklärerisch um Toleranz werbenden Berichterstattung schienen vergeblich gewesen zu sein. Das Interesse der Redaktionen ließ nach, schlug teilweise in Resignation um – nach dem Motto: „Ach, nicht schon wieder ein Ausländerthema!“ Die Zuschauer, wie es hieß, nehmen angeblich solche Themen gar nicht mehr an. Nach anfänglichem Insistieren habe ich, wie auch andere Kollegen, die so ähnlich dachten, dann doch aufgegeben. Das müde, manchmal auch süffisante Lächeln der Redaktionsleiter, mit dem die Vorschläge quittiert wurden – nach der Devise, da reitet die Sundaram wieder ihr Steckenpferd – zeigte allmählich Wirkung. Ein lähmendes Gefühl des déjà-vu beschlich mich. Dann brach die DDR in sich zusammen, und mit der Wiedervereinigung brach Ostdeutschland über uns herein. Mit der alten BRD bin ich klargekommen. Mit den Abgründen, die sich in den neuen Bundesländern auftaten, kam ich nicht mehr zurecht. Wir standen wieder am Anfang der Diskussion, die wir schon in den 80er Jahren durchgemacht hatten. Wir waren nicht ein Jota weitergekommen. Die hilflosen, teilweise nach hinten losgehenden Aktionen der ARD und des ZDF gegen Ausländerfeindlichkeit – nach der ruhmreichen Wiedervereinigung und dem neuen gesamtdeutschen Volkssport, nämlich Türken-Toasten oder Inder-Kloppen – treiben mir die Schamröte ins Gesicht, wenn ich daran denke. Wer sprach schon wieder über wen, für wen und wozu? Der „Spiegel“ hat nicht von ungefähr mit dem ihm eigenen Zynismus damals von „Bimbophilie“ geschrieben. Mich packte die nackte Angst. Ich fuhr nach 22.00 Uhr nicht mehr mit der U-Bahn. Ich vermied auch tagsüber bestimmte Stadtteile. Die Ironie der Geschichte war, dass ich genau zu diesem Zeitpunkt vom Mitteldeutschen Rundfunk als Korrespondentin, für ein Jahr befristet, nach Neu-Delhi entsandt wurde. Ein Job, den ich dankend annahm, um aus diesem mir fremd gewordenen Deutschland zu verschwinden. Dass ich dann in Indien den hinterhältigen Anschlag auf den säkularen Staat, kulminierend in der Zerstörung der Babri-Moschee von Ayodhya am 6. Dezember 1992, sowie den Obskurantismus und das Morden eines entfesselten Hindu-Fundamentalismus hautnah miterlebte und darüber für das Deutsche Fernsehen berichtet habe, steht auf einem anderen Blatt.

Ein Jahr später, im September 1993, war ich wieder da. Deutschland war enger geworden, und so ist es geblieben. Auch im 21. Jahrhundert musste Wolfgang Thierse als Bundstagspräsident von „No-Go areas“ in den neuen Bundesländern sprechen und Menschen dunkler Hautfarbe beschwören, gewisse Gegenden zu meiden, wie als jüngstes Beispiel die Stadt Mügeln im Kreis Torgau-Oschatz. Und in der Hansestadt Hamburg gab es einen gewissen Ronald Barnabas Schill, der 2001 in die Bürgerschaft einzog, um als Innensenator auch die Migranten das Fürchten zu lehren. Aber Schill hat sich selbst erledigt und ist zu einer Fußnote der Hamburger Geschichte geworden. Ein Beleg für einen vermeintlichen Selbstreinigungsprozess der Demokratie? Es wäre zu hoffen.

Anpassung war meine Devise
Ich habe jetzt einen bundesrepublikanischen Pass. Ich gehöre also dazu. Wer wagt es, mich auszugrenzen? Diese Gesellschaft, die ich seit über 40 Jahren kenne und in der ich lebe, muss einfach mit mir und meinesgleichen auszukommen lernen. Und wenn nicht mit guten Worten, dann vielleicht mit Gesetzen? Anpassung war meine Devise. Mit Nachdruck einzufordern sollte vielleicht die Devise der nächsten und übernächsten Generationen von „Inderkindern“ sein.

Veni, vidi, mansi – und warum bin ich geblieben? Wegen der Arbeit, aus Bequemlichkeit, und nicht zuletzt – „chercher l’homme“ – ich habe einen Deutschen geheiratet. Im Prinzip ist Deutschland wie eine schlechte Gewohnheit, die ich nicht mehr los werde. Aber warum dieser Entscheidungszwang? Denke ich in der Nacht an meine vier Dekaden in Deutschland, werde ich nicht um meinen Schlaf gebracht. Erfolgreiche Jahre waren darunter, auch Jahre voller Niederlagen, geplagt manchmal von düsteren Gedanken, dass mein Lebenswerk genauso flüchtig sei wie das Medium Fernsehen selbst und dass alles, was ich gemacht habe, im Nu gelöscht, ja ausgelöscht werden kann mit einem Doppelklick auf der Delete-Taste. „Sic transit gloria mundi.“

Prekär ist das Leben in vielfacher Hinsicht, wobei existentielle Sorgen um den Lebensunterhalt nicht dazu gehören. Der Status eines „First Class“- Immigranten oder Emigranten behütet einen nicht vor Stimmungsschwankungen und rasenden Leitkulturdebatten im Lande, ob hier oder dort. In meinen beiden Heimatländern wütet, mal latent, mal ausbrechend, aber immer virulent, nach wie vor ein Fundamentalismus der jeweils eigenen Art, der so ätzend wie absurd ist.

In beiden Ländern scheint Konsens darüber zu herrschen, wer der vermeintliche Feind ist – der Islam und die Muslime. Ob in Köln geistige Größen wie Ralph Giordano gegen den Bau einer Moschee wettern oder die Kopftuchfrage auf weiblichen Häuptern die hiesige Republik in Wallung bringt – oder ob in Chennai eine Debatte darüber entflammt, ob die sogenannte „Rama-Setu“ (Adams Brücke) von einer Armee von Affen (und einem Eichhörnchen) gebaut wurde, wie es im Ramayana, dem heiligen Buch der Hindus, suggeriert wird, oder ob es sich um eine natürliche Felsenformation handelt, die Tamil-Nadu mit Sri Lanka verbindet, wie es die Satellitenbilder der NASA zeigen. Ist es Geschichte oder Geographie? Mythos oder Realität? Der entstandene Furor ist lächerlich, weil er uns in ein verrücktes „Kuckucksland“ führt, wofür man kein Visum zur Einreise benötigt. Eine mythische Vergangenheit, die es immer wieder mit Vernunft und Humor zu bewältigen gilt. Was bleibt, ist eine Sehnsucht, der ewige Reiz des Fremden verortet mal hier, mal dort. „Schöner ist es anderswo, denn hier bin ich sowieso“ – treffender als Wilhelm Busch hätte ich es auch nicht sagen können.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen im Band "Heimat in der Fremde - Migrationsgeschichten von Menschen aus Indien in Deutschland" Meine Welt (Hg.),Draupadi Verlag 2008.

_______________________________________________________

Geboren 1945 in Simla, Himachal Pradesh, Indien. Verheiratet. Ankunft in Deutschland: 1964. Studium/Ausbildung: Englische Literatur (B. A. Honours) an der Delhi-Universität. Von 1964 bis 1966 Praktikum/Ausbildung beim Norddeutschen Rundfunk (NDR), Hamburg. Qualifizierung als Fernsehredakteurin, Journalistin und Filmemacherin. Berufsjahre: In Indien 1966-1967, in Deutschland 1968-2005, dazwischen 1992-1993 in Indien. Seit 2005 Ruhestand. Wohnort: Hamburg. Wichtige Fernseh-Dokumentationen: Bharatnatyam – Indischer Tempeltanz (1967); Auf dem Wege zur Glückseligkeit – Hare Krishna & Transzendentale Meditation (1970); Fahndung nach einem Rebellen – Subhas Chandra Bose und die Achsenmächte 1941-1945 (1971); So lange es noch Tränen gibt: 25 Jahre unabhängiges Indien (1972); Die Freiheit und ihr Preis – Bangladesch, ein Jahr nach der Unabhängigkeit (1973); Darshan Singh will in Leverkusen bleiben – Das Schicksal von Uganda-Asiaten (1973); Meine Stadt, deine Stadt – Mannheim aus der Sicht von 2 ‚Benzlern’ – Heinz Schmidt und Ahmed Demirel (1976); Wenn die Begrüßungsreden verklingen – Vietnamesische Boatpeople in Niedersachsen (1979); Nur einer von 40 – Der SS-Arzt Hans Münch und der Befehlsnotstand (1982); Panorama – Der Tod von Cemal Altun (1983); Sommergäste – Ein Deutsch/Indisches Künstlertreffen am Himalaya (1983); Salman Rushdie und seine Mitternachtskinder (1984); Rabindranath Tagore: Ein Licht, das nicht erlischt (1985); Hinter jedem Vorhang eine Geschichte – Ein Theater-Workshop in Kasouli (1989); Narmada – Ein Staudamm und die Konsequenzen (1992); Der Maler und die Filmdiva – Das Vermächtnis von Stanislav Roerich und Devika Rani in Bangalore (1992); Bhopal – 8 Jahre nach der Giftgas-Katastrophe (1992); Ayodhya – die Erstürmung der Babri-Moschee (1992); Bombay – the riots (1993); Die kleinen Sklaven – Kreuzzug gegen Kinderarbeit in Indien (1983); Sarojini Naidu – die indische Nachtigall (1994); Wenn Schiffe sterben: die Abwrack-Werft Alang (1994); Gordian Troeller – Zwischen allen Stühlen auf dem richtigen Platz – Portrait des Filmemachers (1995); Amrita Sher-Gil: Ein Familienalbum (2006) Wichtige Publikationen: Für eine Kultur der Differenzen: Friedens- und Dritte-Welt- Zeitschriften auf dem Prüfstand, Mehr Farbe in den Medien oder der alltägliche Rassismus in deutschen Redaktionsstuben, Institut für Kirche und Gesellschaft, Iserlohn 2004; Import Export – Cultural Transfer India, Germany, Austria – An Outsider’s inside view or an Insider’s outside view – India on German TV 1957-2005 (Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin – Indien im Deutschen Fernsehen 1957-2005), Parthas Verlag, Berlin 2005

Alle Rechte vorbehalten ©

Bild entfernt.

Navina Sundaram auf dem Podium der Veranstaltung "InderKinder" in der Heinrich-Böll Stiftung. Foto: Isis Martins, Lizenz: CC BY-SA 2.0