Potenziale nutzen! Mehr Teilhabechancen durch die Anerkennung

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Weil akademischen Abschlüsse vieler MigrantInnen nicht anerkannt werden, können sie nicht in ihren Berufen arbeiten

 

von Krista Sager

Internationalisierung, grenzüberschreitende Mobilität und Migration haben dazu geführt, dass hierzulande viele Menschen leben, die über Qualifikationsabschlüsse aus dem Ausland verfügen. Allein unter den hier lebenden Zuwanderinnen und Zuwanderern haben 2,8 Millionen Menschen einen ausländischen Abschluss, darunter 800.000 Akademikerinnen und Akademiker. Dennoch werden die großen Chancen, die sich aus dem Potenzial mitgebrachter Bildungsressourcen für die Wissensgesellschaft, den Arbeitsmarkt und integrationspolitisch ergeben, weitgehend vertan. Ein Großteil dieses Potenzials bleibt ungenutzt, weil die Möglichkeiten, ausländische Abschlüsse in Deutschland formal anerkannt zu bekommen, völlig unzureichend sind.

Laut der Studie „Brain Waste“ nehmen z.B. nur 16 Prozent aller MigrantInnen mit einem im Ausland erworbenen Abschluss ihren erlernten Beruf wieder auf. Doch eben nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund sind betroffen, sondern alle, die sich in Deutschland um die Anerkennung ihrer im Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsqualifikationen bemühen. Sie scheitern an intransparenten Verfahren, einer Vielzahl zuständiger Stellen, Ansprechpartner und Restriktionen. Ohne formale Anerkennung droht die Abwertung vorhandener Qualifikationen. Viele bleiben erwerbslos oder arbeiten deutlich unterhalb ihres vormals erreichten Ausbildungsniveaus. Viele von ihnen müssen als so genannte „Ungelernte“ zu Niedriglöhnen und in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten.

Auswirkungen schlechter Arbeitsmarktintegration

Diese Verschwendung von Bildungspotenzial ist nicht nur gegenüber den Betroffenen extrem ungerecht und aus Gründen der Teilhabegerechtigkeit völlig inakzeptabel. Sie bedeutet auch einen enormen Verlust für die Gesellschaft. Schlechte Arbeitsmarktintegration wirkt sich negativ auf die individuellen Entwicklungschancen des einzelnen aus und hat zugleich negative Folgen für den gesellschaftlichen Innovationsprozess, Steuereinnahmen und die Sozialsysteme. Nicht zuletzt mit Blick auf den demografischen Wandel, den zunehmenden Fachkräftemangel und die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit im internationalen Wettbewerb sind wir dringend darauf angewiesen, an die im Ausland erworbenen Bildungs- und Ausbildungspotenziale anzuknüpfen. Dass die Anerkennungsmöglichkeiten grundlegend verbessert werden, liegt zudem im Interesse vieler Unternehmen. Schließlich sind sie als mögliche Arbeitgeber oftmals gar nicht in der Lage, die im Ausland erworbenen Abschlüsse und Kompetenzen zu bewerten und einzuschätzen.

Wie groß das tatsächliche Ausmaß derer ist, die aufgrund unzureichender Anerkennungsmöglichkeiten dequalifiziert werden, ist unklar. Belastbare Zahlen zur akademischen und beruflichen Anerkennungsproblematik wurden bislang nicht im ausreichenden Umfang erhoben. Aber es gibt Daten, die Rückschlüsse auf die Dimension des Problems zulassen. So ging das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Mai 2009 davon aus, dass von den zugewanderten Erwerbstätigen mit ausländischem akademischen Abschluss beispielsweise mehr als die Hälfte unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt sind. Und eine Untersuchung des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) kommt zu dem Ergebnis, dass jeder vierte der in der Studie befragten ALG II-Empfänger mit Migrationshintergrund über einen Berufs- oder Hochschulabschluss verfügt, der im Ausland erworben, hierzulande aber nicht anerkannt wurde.

Die unzureichenden Anerkennungsmöglichkeiten stellen allerdings nicht nur mit Blick auf jene Menschen, die bereits heute bei uns leben, ein Problem dar, das dringend bewältigt werden muss. Zunehmende Internationalisierung, grenzüberschreitende Mobilität und Zuwanderung werden unsere Gesellschaft zukünftig bleibend prägen. Somit sind immer mehr Menschen potenziell betroffen, wenn sich nichts ändert. Dazu gehören Deutsche, die Teile ihrer Bildungs- und Berufsbiografie im Ausland verbringen und nach ihrer Rückkehr nach Deutschland eine Chance brauchen, mit ihren im Ausland erworbenen Qualifikationen hier etwas anfangen zu können. Dazu gehören aber auch z.B. Menschen, die in binationalen Partnerschaften leben. Man denke an Menschen mit ausländischem Abschluss, die als Ehepartner eines oder einer deutschen Staatsangehörigen Zugang zum hiesigen Arbeitsmarkt suchen.

Betroffen sind darüber hinaus beispielsweise auch ausländische Ehepaare, die nach Deutschland ziehen, weil einer von beiden als Hochqualifizierter berufsbedingt das Angebot auf eine Führungsposition wahrnimmt. Die berufliche Zukunft des jeweiligen Partners kann sich dann plötzlich wegen der restriktiven Anerkennungsbestimmungen als äußerst ungewiss und schwierig darstellen.

Defizite bei der Anerkennung

Die Defizite bei der Anerkennung bestehen vor allem in rechtlicher, verfahrenstechnischer und finanzieller Hinsicht, aber auch mit Blick auf das quantitative Angebot von Beratungsmöglichkeiten, Zertifizierungsstellen, Brückenmaßnahmen und Anpassungsqualifizierungen. Die Chancen, dass ein im Ausland erworbener Berufs- oder Studienabschluss bei uns anerkannt wird, hängen von einer Reihe vielfältiger Faktoren ab. Zentral ist z.B. die jeweilige Rechtstellung der Betroffenen. Für EU-Bürger/innen gilt die EU-Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Spätaussiedler/innen wiederum haben durch das Bundesvertriebenengesetz die Option, für alle beruflichen Abschlüsse einen Antrag auf Anerkennung zu stellen. Migrantinnen und Migranten, die weder aus EU-Staaten kommen noch unter das Bundesvertriebenengesetz fallen, haben demgegenüber schlechtere oder auch gar keine Anerkennungschancen.

Die Anerkennungsmöglichkeiten unterscheiden sich ferner nach der Art der Qualifikation. Dies betrifft die Frage, ob es sich um Qualifikationen im Bereich reglementierter oder nicht reglementierter Berufe handelt. Zu den reglementierten Berufen zählen jene ungefähr 60 Berufe in Deutschland, deren Ausübung durch eigene Gesetze geregelt ist. Das ist beispielsweise bei Ärzten oder Lehrern der Fall. Erschwerend für den einzelnen Betroffenen kommt außerdem hinzu, dass die Zuständigkeiten bei der Anerkennung stark zersplittert sind. Zuständig für die Durchführung der Anerken-nungsverfahren sind die Bundesländer. Dort wiederum liegt die Verantwortung für die Anerkennung je nach Fall bei unterschiedlichen Ministerien, Behörden, Kammern und Berufsorganisationen. So ergeben sich je nach Land auch unterschiedliche Anerkennungsmöglichkeiten und vor allem Verwaltungspraxen, die schwer zu überblicken sind.

Das alles führt dazu, dass das deutsche Anerkennungswesen in seiner Gesamtheit intransparent, ungerecht und undurchlässig ist. Viele Interes-senten resignieren angesichts des institutionellen Irrgartens. Zu viele Barrieren versperren den Weg zur erfolgreichen Anerkennung: Informationsdefizite und allgemeiner Intransparenz, Mangel an Beratungsmöglichkeiten, Anlauf- und Zertifizierungsstellen und finanzieller Unterstützung. Hinzu kommt die Tatsache, dass es zu wenig Angebote wie Brückenmaßnahmen, Anpassungsqualifizierungen und berufsspezifische Sprachkurse gibt, die Betroffenen den Weg zur Vollanerkennung ihrer Abschlüsse ermöglichen könnten.

Grüne fordern individuellen Rechtsanspruch zur Prüfung

Seit der Veröffentlichung des Nationalen Integrationsplans 2007 wird politisch darum gerungen, wie die Anerkennung ausländischer Qualifikationen verbessert werden kann. Dass sich dennoch bis heute nichts an den unhaltbaren Zuständen beim Anerkennungswirrwarr verändert hat, ist darauf zurückzuführen, dass man sich bislang nicht auf einen individuellen Rechtsanspruch auf ein leicht zugängliches, transparentes und schnelles Verfahren zur Anerkennung von ausländischen akademischen Abschlüssen und Qualifikationen hat einigen können. Zwar erklärten auf dem Dresdner Bildungsgipfel im Oktober 2008 die Bundesregierung und die Regierungschefs der Länder, dass bei der Anerkennung verbesserte Rechtsgrundlagen und Verfahren erzielt werden sollen. Außer verschiedener Eckpunktepapiere und immer neuer Ankündigungen, herrschte jedoch eine ganze Weile Stillstand.

Um hier Druck zu machen, haben zu Beginn der neuen Legislaturperiode Bündnis 90/Die Grünen dazu als erste Bundestagsfraktion einen Antrag auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gesetzt. Darin fordern wir für alle Personen mit im Ausland erworbenen Abschlüssen einen individuellen Rechtsanspruch auf ein leicht zugängliches, transparentes und schnelles Verfahren zur Bewertung und Anerkennung ihrer Leistungen. Was sollte ein solcher individueller Rechtsanspruch leisten?

Der Rechtsanspruch soll allen Menschen mit im Ausland erworbenen Qualifikationen das Recht auf ein Prüfverfahren geben. Dabei sollen die ausländischen Qualifikationen bewertet und unter klaren Bedingungen formal anerkennt bzw. teilweise anerkannt werden. Die Anerkennungskriterien, nach denen die Bewertungen erfolgen, sollten dabei so ausgestaltet sein, dass sie ausländisch Qualifizierten tatsächlich auch eine faire Chance auf Anerkennung ihrer Abschlüsse geben. Denn dass eine Ausbildung im Ausland etwas anders als hierzulande verlaufen ist, bedeutet schließlich noch lange nicht, dass sie nicht gleichwertig und anschlussfähig sein kann. Im Fall von Teilanerkennungen ist es wichtig, dass die Antragstellenden eine verbindliche Auskunft darüber erhalten, durch welche Anpassungsqualifizierungen sie zu einer Vollanerkennung kommen können und auch, welche Angebote es dazu in diesem Bereich gibt. Das Verfahren sollte innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach gültiger Antragstellung abgeschlossen sein und auch vom Ausland aus eingeleitet werden können.

Wichtig ist, dass das Anerkennungswirrwarr überwunden wird. Ein zentraler Schritt in diese Richtung ist die Einrichtung von Anlaufstellen. Sie sollen die Antragstellenden beim Anerkennungsverfahren informieren und individuell begleiten und das Anerkennungsverfahren nach dem One-Stop-Agency-Prinzip durchführen. Ebenso zentral ist, dass das Ergebnis der Anerkennungsprüfungen bundeseinheitlich verbindlich ist und anerkannt wird. Voraussetzung dafür ist auch eine bundesweite Vereinheitlichung der Anerkennungsverfahren und -kriterien. Grundlagen hierfür sollten die schon jetzt beteiligten Fachleute aus Kammern, Hoch- und Fachschulen sowie das Bundesinstitut für Berufsbildung und die KMK entwickeln.

Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung des Anerkennungsverfahrens

Flankierend zum Rechtsanspruch müssen eine Reihe weiterer Maßnahmen umgesetzt werden, damit der Rechtsanspruch auch wirken kann und die Betroffenen profitieren. Die Bildungsberatungsstruktur muss im Zuge der Reform so ausgebaut werden, dass die Antragstellenden passend zur Anerkennung oder Teilanerkennung ihrer Qualifikationen eine berufliche oder eine weiter qualifizierende Perspektive erhalten. Damit das funktioniert, müssen die Angebote zur fachlichen und sprachlichen Anpassungs- und Nachqualifizierung quantitativ ausgebaut werden. Dies gilt sowohl für akademische als auch für andere berufliche Maßnahmen inklusive berufs-spezifischer Sprachschulungen.

Letztere sind von zentraler Bedeutung, um Zuwanderinnen und Zuwanderern den Zugang bzw. (Wieder)einstieg zu Berufsfeldern zu ermöglichen, in denen sie auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen wollen. Denn bei vielen sind die fachlichen Qualifikationen auf hohem Niveau, was aber fehlt, sind ausreichend deutsche Fachsprachkompetenzen, um sich hierzulande im Beruf angemessen ausdrücken zu können. Allein der Sprachunterricht im Rahmen der Integrationskurse reicht nicht aus, um fachsprachlichen Anforderungen im jeweiligen Berufsfeld später gewachsen zu sein. Wir brauchen daher mehr berufsbezogene Sprachförderung im Rahmen von Nachqualifizierungen und Weiterbildung und als Regelinstrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik im SGB III und insbesondere im SGB II.

Verbessert werden müssen zudem die finanziellen Fördermöglichkeiten von Anpassungsqualifizierungen, damit nötige Maßnahmen nicht daran scheitern, dass die Interessenten in der Qualifizierungsphase ihren Lebensunterhalt nicht sichern können. Die persönlichen Voraussetzungen für den Rechtsanspruch auf diese Leistung müssen weit gefasst werden. Es soll beispielsweise keine Altersgrenzen und nur minimale Anforderungen an den Aufenthaltstitel geben.

Vorangetrieben werden muss zudem die Entwicklung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR). Der DQR steht im Zusammenhang mit dem auf europäischer Ebene bereits erarbeiteten Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) und soll dazu dienen, hiesige Qualifikationen in Beziehung zu den Niveaustufen des EQR zu setzen. Die Einführung des DQR würde so dabei helfen, dass die jeweiligen Kompetenzen in ihrer ganzen Spannbreite von beruflichen bis akademischen Qualifikationen vergleichbar gemacht und eingestuft werden können.

Die Bundesregierung hat nun angekündigt, im 2. Halbjahr 2010 einen Entwurf für ein Gesetz zur (Neu)regelung der Berufe des Bundes vorzulegen, um so die Situation ausländisch Qualifizierter zu verbessern. Sie plant, ergänzend zu den bestehenden Regelungen für Menschen mit ausländischen Qualifikationen einen Rechtsanspruch auf Feststellung der individuellen Kompetenzen und Nachschulungsbedarfe einzuführen. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen setzt sich dafür ein, diesen Prozess intensiv im Parlament und dem federführenden Bildungs- und Forschungsausschuss zu begleiten. Wir dringen darauf, im Rahmen einer öffentlichen Fachanhörung ExpertInnen dazu zuhören, wie ein Rechtsanspruch auf Anerkennung ausgestattet sein sollte, um hier wirklich zu Verbesserungen zu führen.

Es besteht die Gefahr, dass die Bundesregierung mit ihrem Ansatz zu kurz springt. Mit der Expertenanhörung wollen wir Expertise und Benchmarks gewinnen - für die Bewertung des zu erwartenden Referentenentwurfs zum Gesetzesvorhaben der Bundesregierung. Schon jetzt stellen sich mit Blick auf die von der Regierung vorgelegten Eckpunkte eine Reihe von offenen Fragen, die kritisch geprüft und erörtert werden müssen:

Wie z.B. ist der Personenkreis genau definiert, die von dem in Rede stehenden Rechtsanspruch profitieren soll, für wen soll er gelten? Wodurch will die Bundesregierung die Zersplitterung der Zuständigkeiten begrenzen? Welche Aufgaben sollen die geplanten „Erstanlaufstellen“ haben? Wer soll zukünftig die „Bescheide“ über das Ergebnis der Anerkennung ausstellen? Wie kann überhaupt die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Anerkennungsverfahren umgesetzt werden? Wie kann im Föderalismus die bundesweite Verbindlichkeit der Anerkennungsergebnisse erreicht werden? Wie und in welchem Umfang will die Bundesregierung gewährleisten, dass tatsächlich mehr Angebote an Ergänzungs- und Anpassungsmaßnahmen geschaffen werden? Diese und weitere Fragen werden bei der Anhörung der Sachverständigen und im weiteren Verfahren die entscheidende Rolle spielen. Dann wird sich zeigen, wie entschlossen die Regierung tatsächlich ist, bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse wirkliche Verbesserungen zügig zu erzielen.

 

Literatur

  • Englmann, Bettina/ Müller, Martina 2007: Brain Waste. Die Anerkennung von ausländischen Qualifikation in Deutschland, Augsburg: Tür an Tür Integrationsprojekte
  • BMAS 2009 Forschungsbericht 395: Herausgegeben vom Institut für Arbeit und Qualifikation, Duisburg – Essen, 2009 im Auftrag des Bundesministerium für Arbeit und Soziales
     

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Krista Sager ist Mitglied im Deutschen Bundestag, Wahlkreis Eimsbüttel. Sie ist Sprecherin für Wissenschafts- und Forschungspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.