Vietnamesinnen und Vietnamesen in Ostdeutschland: Der Traum von der DDR

Dong-Xuan-Zentrum - Bild: Matthias Schätte
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Dong-Xuan-Zentrum - Bild: Matthias Schätte

Frei, aber arbeitslos: Dreiviertel der Vietnames_innen in der DDR gingen nach der Wende zurück. Bui Quang Huy blieb. Ein Besuch im Vietnam Leipzigs.

Die Tür steht offen. Der Tritt über die Schwelle gibt den Blick in den Klassenraum frei: Drei Reihen Schultische, unter denen man vergessene Pausenbrote vermuten könnte, die dunkelgrüne Tafel davor ist gewischt. Die Wände sind verziert mit Fotos von Fußball-Turnieren und tanzendenden Mädchen auf girlandengeschmückten Bühnen. In der Ecke steht ein lebensgroßer Pappaufsteller einer Stewardess der Fluggesellschaft Vietnam Airlines. Hier, in Eutritzsch, einem Stadtteil von Leipzig, lernt die „zweite Generation“ Vietnamesisch. Bui Quang Huy tritt lächelnd aus seinem Büro in das kleine Klassenzimmer.

Herr Bui spricht langsam, ist bemüht jede Silbe deutlich zu betonen, wobei er den letzten Laut meist verschluckt. Er antwortet kurz - oft in Zahlen, als würde er sie zum x-ten Mal wiederholen: 50 Prozent der Leipziger_innen mit vietnamesischen Wurzeln seien zu DDR-Zeiten gekommen, der Rest danach. 70 Prozent davon stammten aus Nordvietnam, der Rest aus der Mitte und dem Süden. Viele, die nach der Wende nach Leipzig auswanderten, folgten ihren Familienmitgliedern. Woher er die Zahlen hat? Sie stammen nicht von der Stadt. Er schätzt sie, sagt er. „Das Leben hier ist besser – Vietnam ist ein armes Land“, erklärt Bui. Leipzig sei seine Heimat.

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Herr Bui Quang Huy - Bild: Matthias Schätte

Kein kritisches Wort

Er kam mit 20 Jahren in ein Land, das er bis dahin nur aus der Zeitung kannte. „Die Menschen in Vietnam träumten davon, einmal die DDR besuchen zu können“. Die Lebensqualität im sozialistischen Bruderstaat galt als eine der Höchsten überhaupt. Das habe er schon in der Schule gelernt. Die besten Absolvent_innen durften nach Deutschland. Für ihn war die DDR das „schönste Land der Welt“. Daran änderte sich für Bui auch nichts, als er 1982 in Karl-Marx-Stadt – heute Chemnitz – ankam. Er bewunderte die Häuser – die Ordnung. Und, dass es genug zu essen gab. Als Schüler in Vietnam habe er oft bis zum Mittag nichts gegessen. Kein kritisches Wort über die DDR geht dem 52-Jährigen über die Lippen. Die Menschen seien freundlich und hilfsbereit gewesen. Nichts sei ihm eigenartig oder befremdlich erschienen. Alles fand er „soviel besser“. Ein Lachen fährt ihm durchs Gesicht, als er von seinem Betreuer im Wohnheim erzählt. Den Kontakt zu ihm hat er verloren.

Bui bekam Unterstützung als er sein Ziel erreichte. Er will etwas davon zurückgeben. Er hilft daher denen, die heute in Leipzig ankommen – Probleme haben mit dem Ausländeramt, sich nicht verständigen können, wenn sie krank sind oder die Kinder in der Schule nicht zurecht kommen. Die zwei Mitarbeiter, die Bui einmal unterstützen, kann sich der Verein nicht mehr leisten - seit April 2012 werden keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mehr finanziert. Ihre Stühle stehen akkurat vor den aufgeräumten Schreibtischen. Sie bleiben bisher leer. Er habe schon einen Antrag an die Stadt geschrieben, der Geld verspricht, um die Stellen wieder zu besetzen.

Die meisten der rund 3000 Leipziger_innen mit vietnamesischen Wurzeln vernetzten sich über den Verein, so Bui. „Tradition ist sehr wichtig für uns“, erklärt er. Sie feierten gemeinsam das Neujahrsfest, das Mondfest, das Kinderfest. Bei jährlichen Fußballturnieren träten Obst- gegen Gemüse- gegen Textilwarenhändler an.

Buis Büro, in dem die Fäden zusammenlaufen, liegt im „Vietnam Leipzigs“, so nennt manche Bürger_in das Dong-Xuan-Zentrum in einem Industriegebiet nördlich des Hauptbahnhofes, zwischen Bahngleisen und Bundesstraße: Es gibt zwei Markthallen, vietnamesische Restaurants, ein Reisebüro. Bui kennt hier fast jeden.
Viele der ehemaligen Vertragsarbeiter_innen seien heute selbstständig, erklärt Bui. Das liege an ihrem Unternehmergeist. Schon in der DDR-Zeit suchten sie sich ihre Nischen – stillten die Nachfrage, zum Beispiel nach Jeans, die heimlich genäht und verkauft wurden. Auch nach der Wende besetzten sie die Angebotslücken, die sich auftaten, nachdem die Planwirtschaft zusammengebrochen war. Sie eröffneten kleine Geschäfte für Lebensmittel, Blumen oder Kleidung. Bis heute gehören die vietnamesischen Läden zu Leipzigs Stadtbild, wie Gewandhaus und Messe.

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Dong-Xuan-Zentrum - Bild: Matthias Schätte

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Dong-Xuan-Zentrum - Bild: Matthias Schätte

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Dong-Xuan-Zentrum - Bild: Matthias Schätte

Die Geschäfte laufen schlecht

In der neuen Halle auf dem Gelände des Dong-Xuan-Centers, die 2002 fertig gestellt wurde, ist das Großhandelszentrum untergebracht. Hier kaufen Händler die Waren für ihre Geschäfte. Die klassenzimmergroßen Verkaufsräume, in die man von den langen hellen Gängen aus sehen kann, bergen mal Mengen weißer Unterwäsche, mal Damenoberteile in knalligen Farben und Mustern. In manchen flimmert VTV4 – das Fernsehprogramm der vietnamesischen Community im Ausland. Viel los ist hier nicht. Es scheinen nur die Händler_innen selbst zu sein, die durch die Flure huschen. „Das Geschäft läuft nicht gut“, sagt Bui und geht durch eine der offenen Türen. Vier Männer in der Ecke erheben grüßend die Köpfe über ihren dampfenden Suppenschalen. Hinter einer Reihe von Topfpflanzen auf der Ladentheke kommt eine kleine Frau mit schwarzem Pferdeschwanz hervor. Auch sie ist eine ehemalige Vertragsarbeiterin. Sie schüttelt Bui die Hand. „Die Konkurrenz ist größer geworden, schon seit zwei Jahren verkaufe ich wenig.“ So bliebe ihr mehr Zeit zum Schlafen, sagt sie und lacht. Ihr Blick fällt auf den kleinen Schrein an der Wand hinter der Theke. In knalligem Rot heben sich die Schriftzeichen von der goldenen Oberfläche ab. Kleine pinke Papierlaternen hängen zu jeder Seite der verglommenen Räucherstäbchen in der Mitte. „Ich bete für Glück“, sagt die Buddhistin.

Zu kaufen gibt es die Schreine einige Meter weiter bei Tang Van The. Sie thronen auf dem Regal über Dosen mit Obst und Saft. Auch Tang kam vor 30 Jahren als Arbeiter in die DDR. Metalleitern habe er zusammengebaut, sagt er. Um nach der Wende der Arbeitslosigkeit zu entkommen, baute er sein Geschäft auf. Heute importiert er massenweise Klebreis, Gewürze - und eben Schreine.

Bui betritt die alte Halle aus rotem Backstein. Hier liegt der Quadratmeter-Mietpreis fünf Euro unter dem der Neuen. Das Dach wird gerade repariert, Plastikplanen schützen vor dem Staub der Baustelle. Leuchtstoffröhren spenden Licht, die Wände am Eingang sind mit Zetteln beklebt. Es ist auffällig warm. In dem Raum rechts vor dem Gebläse, das die Wärme freigibt, bietet Le Thi Minh Nguyet ihre Waren an – Kleidung für Damen und Herren. Sie verpackte Damenbinden nachdem sie 1987 in Karl-Marx-Stadt angekommen war – ohne zu wissen, was sie da eigentlich eintütete. Binden, so etwas habe es in Vietnam nicht gegeben, flüstert sie leise. Sie winkt ab und sucht die Fotos ihrer Töchter, die mit ihr und ihrem Mann in Deutschland aufwachsen. „Die älteste ist 17 Jahre alt, sie geht aufs Gymnasium“, sagt sie stolz.

Integration unerwünscht

Wie Bui redet auch die Händlerin Le Thi nur gut über ihre Zeit in der DDR, obwohl die Parteiführung ausschließlich an der Arbeitskraft ihrer Gäste interessiert war. Ihre Integration war unerwünscht. So durften die Arbeiter_innen nur allein, ohne Begleitung ihrer Familienangehörigen, anreisen. Die Aufenthaltsdauer war auf vier Jahre beschränkt. Sowohl die Arbeitsstätten als auch die Wohnheime waren, so gut es ging, nach Geschlechtern getrennt.

Liebe war verboten. Wurde eine Frau doch mal schwanger, blieb ihr die Wahl zwischen Heimfahrt und Abtreibung. „Die Parteiführung propagierte die Vertragsarbeit als sozialistische Bruderhilfe – zur Qualifizierung der Leute. Der Umgang mit den Arbeiter_innen sollte anders sein, als der mit den Gastarbeiter_innen in kapitalistischen Ländern“, erklärt Kristin Mundt, die für ihre Doktorarbeit das Leben der Vietnames_innen in der DDR erforschte. Als man aber ab 1987 immer mehr Arbeitskräfte anwarb, um die Fünfjahrespläne zu erfüllen, wurde dieses Vorhaben immer unglaubwürdiger. Man habe ihnen meist keine Ausbildung mehr zugestanden – „sie wirkten als reine Lohnarbeiter_innen", so Mundt.

Heute bemüht man sich in Leipzig darum, die Bürger_innen vietnamesischer Herkunft zu integrieren. Die Stadt finanziert schulübergreifende Klassen für „herkunftssprachlichen Unterricht“. Es habe sich gezeigt, dass sich Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule besser zurecht fänden, wenn sie ihre kulturellen Wurzeln nicht verlieren, begründet Christiane Brielmann von der sächsischen Bildungsagentur, Regionalstelle Leipzig.

Die Reise nach Vietnam ist teuer

Auch die heimischen Politiker_innen geben sich Mühe ein gutes Verhältnis zu der Community zu pflegen – zumindest wenn es darum geht, sich bei den Veranstaltungen zu zeigen. Einige Fotos in Buis Büro zeigen den ehemaligen Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, wie er die Hände einiger Vereinsmitglieder schüttelt. Zu jedem großen Fest lade man die Stadtverwaltung ein. Tiefensee sei immer gekommen, sagt Bui anerkennend.

In Anzug und mit Aktentasche steht Bui Quang Huy zwischen den Markthallen und dem grauen funktionalen Gebäude, in dem sich die Räume des Vereins befinden. Er hebt die Hand zum Gruß, als ein weißer Lieferwagen langsam an ihm vorbei fährt. Er muss zurück in seinen Laden – Geld verdienen. Der Flug nach Vietnam ist teuer und die Familie erwartet Geschenke.

 

Vertragsarbeiter_innen in der DDR

• ab 1980 warb die Parteiführung der SED VertragsarbeiterInnen aus sozialistischen Bruderstaaten, wie Vietnam, Kuba, Mosambik und Angola an
• die größte Gruppe kam mit rund 700.000 Arbeiter_innen aus Vietnam
• ihre Aufgabe: sie sollten Produktionsengpässe ausgleichen
• zwölf Prozent ihres Lohns mussten sie zur „Entwicklung ihres sozialistischen Vaterlands“ abgeben
• zu Beginn ihres Aufenthaltes in der DDR durften die Arbeiter_innen nicht älter als 35 Jahre alt sein
• nach der Wende bekamen sie eine befristete Aufenthaltsgenehmigung in der BRD bis zu dem Zeitpunkt, der in ihrem Arbeitsvertrag vermerkt war
• wer gleich zurück ging, erhielt 3000 DM sowie das Flugticket

 

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Britta Veltzke, studiert Journalistik an der Uni Leipzig. „Die Menschen mit vietnamesischen Wurzeln gehören zu Leipzig.“ Das motivierte die Autorin sich mit der Community zu beschäftigen.