Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität in Deutschland: Was ist die Aufgabe der Kirche?

Protestschild "No Human is illegal"
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Protestschild "No Human is illegal"

 

von Weihbischof Josef Voß

 

Die Katholische Kirche versteht ihr Engagement für Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität als selbstverständlichen Teil ihres kirchlichen Weltauftrags. Was man, ausgehend von Artikel 1 Satz 1 des Grundgesetzes zur unantastbaren Würde und zu unverhandelbaren Menschenrechten sagen kann, hat aus Sicht der Kirche seinen tiefen Ursprung in der christlichen Überzeugung vom Menschen als Gottes Ebenbild. Der Mensch hat eine unverlierbare Würde und darin gründende Rechte, die ihm nicht von Seiten des Staates – und schon gar nicht wegen der Staatsangehörigkeit oder durch einen Aufenthaltstitel – zuerkannt werden müssen und auch aberkannt werden könnten.

Gott gab den Menschen die Erde zur Wohnung und zur Nahrung – dass der Mensch die Welt in Nationalstaaten parzellierte und den Aufenthalt in diesen lizenzierte, ist dessen eigene Erfindung. Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität sind für die Kirche nicht „draußen“, in ihnen als den vergessenen und ausgegrenzten Menschen begegnen wir Christus selbst: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 40). Für die Achtung der Menschenwürde aller Menschen einzutreten und diese gerade in gefährdeten Situationen anzumahnen, ist für die Kirche deshalb unverzichtbar. Papst Johannes Paul II. formulierte dies 1996 in der Papstbotschaft zum Welttag der Migranten so: „Der Status der Ungesetzlichkeit rechtfertigt keine Abstriche bei der Würde des Migranten, der mit unveräußerlichen Rechten versehen ist, die weder verletzt noch unbeachtet gelassen werden dürfen“.

Dieser Grundsatz prägt auch die Handreichung der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, die im Mai 2001 veröffentlicht wurde: „Leben in der Illegalität in Deutschland – eine humanitäre und pastorale Herausforderung“. Sie entstand vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerseelsorge sowie der Caritas und anderer kirchlicher Einrichtungen seit Mitte der 1990er Jahre machten: Sie stießen zunehmend auf Frauen, Männer und Kinder, die aus ganz unterschiedlichen Gründen ohne Aufenthaltsrecht und Duldung in Deutschland leben und in eine äußerst schwierige humanitäre Situation geraten sind.

Die deutschen Bischöfe sahen sich durch diese Situation herausgefordert und setzen sich seither in Gesellschaft und Politik dafür ein, dass auch Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität ihre grundlegenden sozialen Rechte wahrnehmen können. Denn unstrittig stehen auch diesen Menschen fundamentale Rechte nach der deutschen Rechtsordnung und internationalen Übereinkommen zu. Zu diesen Rechten gehören vor allem: der Schutz vor Ausbeutung und Gewalt, das Recht auf eine medizinische Grundversorgung, das Recht auf Bildung sowie das Recht auf eine Geburtsurkunde. Tatsächlich können irreguläre Zuwanderer in Deutschland diese Rechte jedoch nicht durchsetzen, ohne zugleich die Abschiebung befürchten zu müssen. So geraten sie schnell in eine schwierige und verzweifelte Lage.

Ein zentrales Hindernis zur Durchsetzung sozialer Rechte stellen die Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen (gemäß § 87 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes) dar. Diese Meldepflichten verpflichten „öffentliche Stellen“, den Ausländerbehörden Personen zu melden, wenn sie Kenntnis von deren fehlendem Aufenthaltstitel haben. Die Einführung von Übermittlungspflichten fußte auf der Vorstellung, dass sich Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität zur Wahrnehmung ihrer sozialen Rechte an die Behörden wenden und ihre Identität und ihren Aufenthaltsstatus offenbaren.

Als Mittel der Migrationskontrolle sollten die Übermittlungspflichten dazu dienen, den unerlaubten Aufenthalt auf diese Weise möglichst umgehend beenden zu können. Heute zeigt sich jedoch in der Praxis, dass die Übermittlungspflichten des Aufenthaltsgesetzes dieses Ziel verfehlen: Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität schrecken aufgrund dieser Regelung vor der Inanspruchnahme ihrer elementaren sozialen Rechte selbst in Notsituationen zurück und meiden jeglichen Kontakt zu öffentlichen Stellen, weil sie andernfalls Gefahr laufen, abgeschoben zu werden.

Während es daher in der Praxis kaum zu einer Meldung an die Ausländerbehörden kommt, prägen die Übermittlungspflichten auf der anderen Seite jedoch die Lebensbedingungen der Betroffenen erheblich. Denn aufenthaltsrechtliche Illegalität ist auf diese Weise in Deutschland mit dem hohen Risiko verbunden, dass Erkrankungen oder Verletzungen nicht oder nicht rechtzeitig behandelt werden, Impfungen bei Kindern unterbleiben, Frauen auf medizinische Hilfe bei Schwangerschaften und Entbindungen verzichten, Neugeborene keine Geburtsurkunde erhalten, Kinder statusloser Eltern weder einen Kindergarten noch eine Schule besuchen können, illegal beschäftigten Ausländern der vereinbarte Lohn von betrügerischen Arbeitgebern vorenthalten werden kann oder irreguläre Zuwanderer zu schutzlosen Opfern von Mietwucher und Straftaten werden.

Vielfach wenden sich diese Menschen in ihrer Not an kirchliche Einrichtungen: die muttersprachlichen Kirchengemeinden, die Beratungsstellen der Caritas, des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes und anderer Migrations- und Flüchtlingsdienste, die Malteser-Migranten-Medizin oder karitative Einrichtungen der Obdachlosenhilfe. Die Beratung von Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität ist mittlerweile ein wichtiger und anerkannter Bereich kirchlicher Sozialarbeit. Mitarbeiter dürfen mit der vollen Rückendeckung ihrer Verbände rechnen.

Dennoch besteht bei haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern die Sorge, bei der Bereitstellung von Hilfeleistungen für diese Menschen selbst die Grenzen der Legalität zu überschreiten. Denn in Deutschland wird allein in Fällen medizinischer Behandlungen die Strafbarkeit einer Beihilfehandlung nach allgemeinem Strafrecht ausdrücklich verneint.1 Andere haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kirchlicher und anderer Einrichtungen, die sich für Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität einsetzen, sie beraten und im Notfall Hilfe leisten, sind stark verunsichert, ob sie sich wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt strafbar machen können.

Zwar wird von staatlicher Seite immer wieder signalisiert, die Behörden hätten kein Interesse daran, humanitär begründete Hilfe strafrechtlich zu verfolgen. Bisher ist auch kein Fall bekannt, in dem es zu einer Verurteilung gekommen wäre – wohl aber in vereinzelten Fällen zu Anzeigen und Ermittlungsverfahren. Es ist vor diesem Hintergrund sehr gut zu verstehen, dass humanitäre Helfer das Anliegen haben, erst gar nicht ins Zwielicht zu geraten. Zumal ihr Engagement auf der anderen Seite durch öffentliche Ehrungen – wie die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes oder Auszeichnungen als „Botschafter der Toleranz“ – belobigt wird.

Auch in diesen Ehrungen zeigt sich sehr deutlich, dass es sich bei der humanitär motivierten Hilfe für Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität nicht nur um ein beruflich geschuldetes, sondern auch um ein gesellschaftlich als notwendig und wertvoll geachtetes Verhalten handelt. Um für Seelsorger, Lehrer, Sozialarbeiter usw. endlich Rechtssicherheit zu schaffen und unnötige und für alle belastende Ermittlungsverfahren zu verhindern, ist eine Klarstellung der Straflosigkeit beruflich veranlasster humanitärer Hilfeleistungen zugunsten von Menschen ohne Aufenthaltsrecht erforderlich. Würde dies geschehen, dann könnten karitative Einrichtungen vielleicht auch offensiver auf ihre Angebote auch für diese Menschen aufmerksam machen, so dass mehr Betroffene den Weg zu ihnen finden und über ihre sozialen Rechte aufgeklärt werden könnten.

Die Politik ist herausgefordert, sich mit dem Thema der irregulären Zuwanderung und dem irregulären Aufenthalt zu beschäftigen, um problemnahe Lösungen für die hier vorliegenden Probleme zu finden. Die Kirche sieht es dabei als ihre Aufgabe an, diese Probleme überhaupt zur Sprache zu bringen und sich für humanitäre Lösungen einzusetzen. Da wir diese Ziele nur erreichen können, wenn die verschiedenen Träger kirchlicher Arbeit ihre Kräfte bündeln und ihre vielfältigen Handlungskonzepte und Aktivitäten verbinden, hat sich auf Initiative der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz im September 2004 das Katholische Forum „Leben in der Illegalität“ gegründet.

Unter meinem Vorsitz haben sich unter diesem Dach der Deutsche Caritasverband, die Deutschen Malteser, der Jesuiten-Flüchtlingsdienst, das Kommissariat der deutschen Bischöfe und der Nationaldirektor für die Ausländerseelsorge zusammengeschlossen. Die Arbeit des Forums begann mit zwei Initiativen: dem Werben um Unterstützung für das „Manifest Illegale Zuwanderung – für eine differenzierte und lösungsorientierte Diskussion“ und der Organisation der Jahrestagung Illegalität, die seither jeweils im März in der Katholischen Akademie in Berlin stattfindet. Wesentliches Ziel des Forums ist es, ein öffentliches Bewusstsein für dieses komplexe Thema zu schaffen und die politische Debatte um Fragen der aufenthaltsrechtlichen Illegalität zu enttabuisieren, zu versachlichen und jenseits der Schlagworte für differenzierte und pragmatische Lösungswege zu werben.2

Die Kirche hat das Recht des Staates, Migration zu kontrollieren und zu beschränken nie bestritten. Sie fragt jedoch, ob der Kontroll- und Rechtsdurchsetzungsanspruch des Staates angesichts seiner ungewollten Wirkung, Menschen von der Inanspruchnahme ihrer Rechte abzuhalten, nicht zurückgenommen werden sollte. Denn die unverhältnismäßigen Folgen können politisch wie rechtlich nicht einfach ignoriert werden. Dass Übermittlungspflichten kein unverzichtbares Mittel der Migrationskontrolle darstellen, zeigt sich darin, dass das deutsche Ausländerrecht sie erst seit der Einführung des Ausländergesetzes von 1991 kennt und sie in anderen europäischen Rechtsstaaten in dieser Form gänzlich unbekannt sind.

Insgesamt ist der Erfolg der Anstrengungen zur Bekämpfung irregulärer Migration begrenzt. Allein durch Maßnahmen wie die Verstärkung der Grenzkontrollen, die Verschärfung der Visabestimmungen und die Ausweitung der Inlandskontrollen und Behördenkooperationen ist ihr nicht beizukommen. Denn irreguläre Migration ist das Resultat eines Zusammenspiels komplexer Umstände: Angesichts der Prozesse der Globalisierung, des Wohlstandsgefälles in der Welt und unserer Nachfrage nach billigen Arbeitskräften im Haushalt, in der Pflege, im Baugewerbe, der Landwirtschaft und im Hotel- und Gaststättengewerbe werden sich Menschen auch weiterhin auf den Weg nach Deutschland machen. Eine menschenrechtlich legitimierte Migrationspolitik muss daher auch irreguläre Migration als Realität anerkennen.

Das Katholische Forum „Leben in der Illegalität“ setzt sich daher dafür ein, dass die Betroffenen ihre grundlegenden sozialen Rechte (wie das Recht auf medizinische Versorgung, Schulbesuch und Schutz vor Ausbeutung) auch faktisch Inanspruch nehmen können. Eines besonderen Schutzes bedürfen Opfer von Menschenhandel. Wir fordern außerdem, dass humanitär motivierte Hilfe für Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität nicht unter den Straftatbestand der „Beihilfe zu unerlaubtem Aufenthalt“ fällt. Um sicherzustellen, dass das Recht auf Schulbesuch für alle statuslosen Kinder gewährt wird, müssen auch die Bundesländer entsprechende Regelungen schaffen. Hier gilt es auch in den Schulgesetzen der Länder klarzustellen, dass der Aufenthaltstatus eines Kindes irrelevant für die Anmeldung an der Schule ist.

Die Kirche will und darf aber nicht zur Stabilisierung aufenthaltsrechtlicher Illegalität in der Gesellschaft beitragen. Deshalb drängen wir auch auf die Entwicklung nachhaltiger Konzepte zur Vermeidung von aufenthaltsrechtlicher Illegalität. Hierzu sollten verbesserte Möglichkeiten der legalen Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten sowie Möglichkeiten einer Legalisierung des Aufenthalts in begründeten Härtefällen diskutiert werden. Die Kommission für Migrationsfragen hat schon vor vier Jahren „restriktive Regelungen für dauerhafte oder befristete Zuwanderung“ kritisiert, die „einen Anstieg der Zahl von illegalen Aufenthalten bewirken.“3

Es ist Aufgabe der Kirche, sich für eine Welt einzusetzen, in der eine menschenwürdige Migration ohne Verlierer möglich ist. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam mit der Politik und der Zivilgesellschaft erreichen. Dabei erscheint es unverzichtbar, einen Dialog führen, der sowohl sachgerecht ist als auch den Lebenslagen der Menschen gerecht wird. Nur auf dieser Basis können notwendige politische und praktische Maßnahmen entwickelt werden.

Anmerkungen

1 Vgl. Bericht des Bundesministeriums des Innern zum Prüfauftrag “Illegalität“: Illegal aufhältige Migranten in Deutschland - Datenlage, Rechtslage, Handlungsoptionen, Februar 2007, Ausschussdrucksache 16(4)306 des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, S. 33.

2 Zu den Aufgaben, Zielen und Aktivitäten des Katholischen Forums „Leben in der Illegalität“ vgl.:  (Stand: Nov. 2007). Das Manifest „Illegale Zuwanderung – für eine differenzierte und lösungsorientierte Diskussion“ greift vor allem die humanitären Folgeprobleme illegaler Migration auf. Es erfährt eine breite gesellschaftliche und überparteiliche Unterstützung: Inzwischen haben sich über 400 prominente Unterzeichner aus allen Teilen der Zivilgesellschaft sowie aus Verwaltung und Politik bereit erklärt, sich öffentlich mit den Forderungen zu identifizieren. pdf-Download
3 Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz (2001): Leben in der Illegalität in Deutschland – eine humanitäre und pastorale Herausforderung, S. 51

 

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Weihbischof Dr. Josef Voß ist Vorsitzender der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz und Vorsitzender des Katholischen Forums „Leben in der Illegalität“.