Sommer der Solidarität?

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Freiwillige bereiten sich am Frankfurter Hauptbahnhof auf die Ankunft von Flüchtingen vor.

Wie nie zuvor engagieren sich Menschen in Deutschland derzeit für Flüchtlinge. Nachdem wochenlang der Hass in Orten wie Freital und Heidenau die Öffentlichkeit beschäftigte, dominierte in den Medien bald das Bild der weltoffenen Bundesrepublik. Doch die neue „Willkommenskultur“ und ihre mediale Repräsentation bergen auch Gefahren.

Sie steigen aus den Zügen und die Menge hinter den Absperrgittern beginnt zu applaudieren. Teddybären werden in die Luft gehalten, Fahnen geschwenkt: „Refugees welcome“ steht darauf. Über hundert Münchner haben sich versammelt am Hauptbahnhof, um die Flüchtlinge willkommen zu heißen. Ein Mann stimmt „Freude schöner Götterfunken“ an. Die Menschen drängen sich an die Gitter, wollen ihre Mitbringsel überreichen, wollen die Neuankömmlinge umarmen. Seit einigen Wochen geht eine nie dagewesene Welle der Solidarität mit Flüchtlingen durch Deutschland - und die ganze Welt ist gerührt. Nach „Kindergarten“ und „Blitzkrieg“ könnte ein neues deutsches Wort in den angelsächsischen Sprachgebrauch einfließen, schreibt der Guardian: „Willkommenskultur“.

Die Bedeutung einer solchen „Willkommenskultur“ ist nicht zu unterschätzen angesichts der Erfahrungen der Geflüchteten mit dem europäischen Grenzregime. Angesichts der massiven Mobilisierungen gegen Neuankömmlinge sei es in Freital, Heidenau oder Hellersdorf, oder in den Edelvierteln Deutschlands wie in Hamburg Harvestehude, wo die Ablehnung nur einen anderen, förmlicheren Ausdruck findet. Angesichts der miserablen Bedingungen, denen die Menschen in den Lagern hierzulande ausgeliefert sind, wo Krankheiten ausbrechen, Betten und Essen fehlen.

Dem institutionellen Versagen setzen viele Einzelne eine enorme Hilfsbereitschaft entgegen. Doch bergen sowohl der aktuelle Solidaritäts-Trend als auch der Diskurs der „Willkommenskultur“ Gefahren – diese reichen von der Praxis über ihre kompensatorische Funktion bis hin zur Instrumentalisierung durch die Politik. Der Reihe nach:

Die Grenzen zwischen Solidarität und Paternalismus, darauf verweist der Journalist Christian Jakob, zwischen Hilfsbereitschaft und Eigennutz, zwischen Integration und Instrumentalisierung können leicht verschwimmen. Eigentlich gibt es Richtlinien für die Versorgung von Asylsuchenden: Die Menschen werden medizinisch und psychotherapeutisch betreut, ihnen wird Privatsphäre geboten, Erholung, Freiraum, sich zu bewegen und zu ernähren, wie sie wollen. So sieht es zumindest das Gesetz vor. Wenn der Staat dazu aktuell aber nicht in der Lage ist und Geflüchtete statt von einer Erstaufnahmestelle von Studierenden in einer WG aufgenommen werden, liegt es allein in deren Händen, was sie den Hilfsbedürftigen bieten und wie lange und was sie dafür erwarten.

„Ein Lächeln reicht“, sagen manche Helfenden. Doch schon diese Erwartung verdeutlicht das Dilemma: Plötzlich bedarf es vielleicht einer Gegenleistung, um Schutz zu bekommen. Plötzlich wird der Schutz abhängig von der Laune Ehrenamtlicher, die eine Aufgabe zu leisten haben, die ihnen dauerhaft nicht möglich ist, sind sie doch weder ausgebildet in der Betreuung Traumatisierter, noch werden sie bezahlt dafür, Aufgaben des Sozialstaates zu übernehmen. So wird häufig die fundamentale Asymmetrie zwischen denen, deren freie Entscheidung es ist zu helfen, und denen, die gezwungen sind, Hilfe anzunehmen, vertieft: In der Facebook-Gruppe der Initiative „Flüchtlingspaten Syrien“ postet eine Person ein Bild von drei Menschen aus Syrien, und schreibt dazu: „Hab` ich erwähnt, dass man für 10 Euro im Monat solche süßen Leute aus dem Bürgerkrieg retten kann?“ Und diejenigen, die niemand süß findet, wer rettet die?

Viele Helfende reflektieren die Fallstricke der ehrenamtlichen Fürsorglichkeit und teilen die Verantwortung in einem Netzwerk, das auffangen kann, was der Staat versäumt. Auch der Verein „Flüchtlingspaten in Syrien“ hat mit dem paternalistischen Posting auf seiner Facebook-Seite nichts zu tun: Er eröffnet einen legalen Weg aus Syrien heraus nach Deutschland für Menschen, die nicht aus eigener Kraft fliehen können. Viele Initiativen, die neu entstanden sind, greifen auf bereits vorhandene Strukturen und Erfahrungen der Antira-Szene zurück, wie etwa im Hamburger Bündnis „Recht auf Stadt - Never Mind the Papers“. Sie erwarten keine Dankbarkeit, sondern versuchen, Räume zu schaffen, in denen die Menschen sich selbst organisieren, Voraussetzungen zu schaffen, damit die Menschen sich repräsentieren und artikulieren können, wie es zum Beispiel das „Social Center 4 All“ in Berlin plant. Und diese Initiativen verlangen parallel vom Sozialstaat das, wofür er da ist: Den Geflüchteten die Grundversorgung zu bieten. Um nicht denen in die Hände zu spielen, die sich der Verantwortung entziehen und gar einen „Paradigmenwechsel“ in der Flüchtlingspolitik, hin zu privatem Engagement, fordern, wie  etwa der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt. Wenn die Zivilgesellschaft nicht auch den staatlichen Missstand anprangert, den sie kompensieren muss, wird der noch verstärkt, wie die Migrationsexpert_innen Johanna Bröse und Sebastian Friedrich betonen.

Und die Bundespolitik versucht, das Ehrenamt, die Willkommenskultur nicht nur zu nutzen, um sich sozialstaatlichen Verantwortlichkeiten zu entziehen, sondern auch um Deutschlands Image aufzupolieren, das durch zunehmende Brandanschläge angeschlagen war. Wie instrumentell der „Aufstand der Anständigen“ gegen Flüchtlingshass sein kann, zeigt sich darin, dass er gar über die Bild-Zeitung vermarktet wird. Das Boulevard-Blatt, zu dessen Markenkern, wie das Lower Class Magazin treffend schreibt, seit vielen Jahren Rassismus, die lustvolle Zurschaustellung von „Ausländerkriminalität“ und die Hetze gegen „Wirtschaftsflüchtlinge“ gehören, hat einhundert „Stimmen gegen Flüchtlingshass“ gesammelt. CSU-Chef Horst Seehofer, der auch bei dieser Gelegenheit noch gegen „Asylmissbrauch“ wettern darf, ist dabei genau wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der im Lauf des letzten Jahres ein Gesetz durchgebracht hat, das erlaubt, Hilfesuchende gleich nach der Einreise in Gefängnisse zu stecken – nach einer Einreise, die auch auf Deutschlands Mühe hin weiter nur illegal möglich ist. Seht her, sagen die Gesichter auf der Bild-Zeitung, die Deutschen, die lieben ihre Flüchtlinge. Die, die das nicht tun, gehören zum „Pack“, und das wiederum nicht zu Deutschland, wie Sigmar Gabriel sagt, der in der Bild-Zeitung selbstverständlich auch nicht fehlt. Warum man diesem „Pack“ zuerst gar nichts entgegen gesetzt hat und die Polizei in Heidenau zwei Nächte in Folge dramatisch unterbesetzt war wie in Rostock-Lichtenhagen 1992, das sagt er nicht.

Der Dualismus zwischen den guten Deutschen und dem flüchtlingsfeindlichen „Pack“ verschleiert die Feindseligkeit, die Geflüchteten in Deutschland noch immer entgegenschlägt - aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft. Wenn das „Pack“ aus Heidenau nicht deutsch ist, was ist dann mit den Anwohnern des Hamburger Nobelviertels Harvestehude, die erst vor wenigen Monaten gegen den Bau eines Flüchtlingsheims prozessierten? Was ist mit den ganzen Menschen, denen das Protestzelt der Geflüchteten auf dem Berliner Oranienplatz nach zwei Jahren lästig wurde? Und mit den Politiker_innen, die die Selbstorganisation der Geflüchteten schließlich zu zerschlagen versuchten?

Es sind eine ganze Menge Menschen, die sich engagieren, sich politisieren, doch es sind nicht „die Deutschen“. Die deutsche Regierung empfängt auch weiter niemanden mit offenen Armen – und seit gestern Abend ist klar: nicht einmal mehr mit offenen Grenzen, wie sie im Schengenraum der EU selbstverständlich wären. In Anbetracht der Entscheidungen, die die Bundesregierung gerade trifft, scheint die Willkommenskultur nur in einem Punkt ernst gemeint: Wirklich willkommen sind vor allem die Migrant_innen, die dem deutschen Kapital als gut ausgebildete Fachkräfte etwas bieten können.

Ansonsten verschärft die deutsche Regierung die Asylgesetzgebung zunehmend, um etwa Abschiebungen zu beschleunigen, erklärt weitere Länder zu „sicheren Herkunftsstaaten“, um noch mehr Asylsuchende ausweisen zu können, und gibt mit sechs extra Milliarden für Flüchtlingspolitik gerade mal die Summe aus, die nötig ist, um völliges Chaos zu vermeiden.

Das Dublin-System, jene Regel, wonach Flüchtlinge nur in dem europäischen Land, welches sie zuerst betreten, Asyl beantragen und dauerhaft leben dürfen, hat die Bundesregierung miterfunden und lange davon profitiert. Erst als klar wurde, dass die Regel nicht mehr funktionierte - Italien etwa schickte Geflüchtete weiter, ohne sie vor Ort zu registrieren -, ertönte immer mehr Kritik aus den Reihen der Politik. Und erst als sich Bilder verbreiteten von kleinen Kindern aus Syrien, die am Budapester Hauptbahnhof nächtelang auf dem Betonboden schlafen müssen, von ungarischen Polizist_innen, die syrische Familien mit Knüppeln verfolgen, da tat Merkel, was sie kurz als Heldin der Flüchtlinge erscheinen ließ: Auf Grund der akuten Notsituation sollte die Dublin-Regel für Syrer_Innen ausgesetzt werden. Doch nicht für Flüchtlinge aus Somalia, Iran und dem Irak, die konnten weiterhin ins Elend nach Bulgarien, Italien oder Ungarn abgeschoben werden. Und seit gestern Nachmittag ist auch für Familien aus Syrien nichts mehr zu machen: Jetzt ist die deutsche Grenze im Süden dicht - akute Notsituation für Menschen aus Syrien hin oder her. Geöffnet wird erst wieder, wenn „die Lasten“ in der EU nicht mehr einseitig verteilt werden würden, auf Deutschland etwa, wo der Reichtum konzentriert wird und sozialstaatlich noch am besten verteilt ist. Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel forderten in ihrem kürzlich veröffentlichten Zehn-Punkte-Plan zur Asylpolitik bereits „eine faire Verteilung von Flüchtlingen in Europa“. Dabei führten sie vor Augen, wie sich mit Verweis auf die „Willkommenskultur“ auch mit deren Kehrseite, dem Mob drohen lässt  – die Attacken auf Flüchtlingsheime, so schrieb die Jungle World, mussten gar nicht zur Sprache kommen: „Wie nie zuvor engagieren sich Bürgerinnen und Bürger in unserem Land bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Diese Solidarität wird langfristig aber nur Bestand haben, wenn alle sehen, dass es in Europa gerecht zugeht.“ Und so werden das „Pack“ und die Solidarität genutzt, wie es der Politik gerade passt.

In einem Beitrag der ZDF-Sendung aspekte erzählt ein junger Syrer von seiner Flucht: Eine legale Einreise nach Europa war unmöglich, so stieg er gegen viel Geld mit seiner Freundin von der Türkei  aus in das Boot eines Schleppers, das einige Kilometer vor der griechischen Küste kentert. Die Küstenwache taucht auf, die Geflüchteten klammern sich an das Boot der europäischen Grenzschützer. Die aber treten die Menschen mit ihren Stiefeln zurück ins Meer. Er und seine Freundin schaffen es auf die Insel. Dort werden sie tagelang ohne Wasser in ein Lager gesperrt. Das einzige, was ihn vor der Verzweiflung rettet, sind die Graffitis, erzählt er: „refugees welcome“.

Gerade unter den gegenwärtigen Bedingungen der herrschenden Migrationspolitik in ganz Europa und der rassistischen Mobilisierungen in den einzelnen Ländern ist eine „Willkommenskultur“ unerlässlich, die von Graffitis und Applaus am Bahnhof, über Sachspenden, Sprachkurse, Begleitungen zu Behörden, bis zur Aufnahme von Geflüchteten in die eigene Wohnung oder Blockaden von Abschiebungen reicht. Der Diskurs rund um die „Willkommenskultur“ mag als PR-Kampagne dienen. Doch bleibt die Hoffnung, dass das, was unter diesem Label läuft, Menschen, die sich bislang nicht für Asylpolitik interessiert haben, nachhaltig politisiert, darüber dass sie Geflüchtete kennen gelernt und so vom Leid erfahren haben, das die europäische Grenzpolitik verursacht. Dass sie die Zusammenhänge zwischen diesem Leid, den migrationspolitischen Entscheidungen auf nationaler und EU-Ebene und den lokalen Rassismen thematisieren und in Zusammenarbeit mit Geflüchteten und deren bereits bestehenden Protesten langfristig für andere Strukturen kämpfen.