Schule und Migration

Empfehlung der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung

In der sechsten Empfehlung der Bildungskommission „Schule und Migration“ geht es um den Umgang mit Unterschieden der Kulturen, der Bildungsvoraussetzungen und der Lerngewohnheiten. Normative Ausgangslage für den schulischen Umgang mit Diversität sind die Menschenrechte auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit. Die hier dokumentierte 6. Empfehlung ist in drei Abschnitte gegliedert:

1.  Klärung der Ausgangslage
Die Befunde der PISA-Studie weisen mit Bezug auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund auf ein immenses Versäumnis deutscher Bildungspolitik und Schulen hin. Ihre schulischen Karrieren und Leistungen sind dermaßen defizitär, dass sie eine dauernde Gefährdung aller Integrationsbemühungen darstellen. Die Unfähigkeit deutscher Schulen, soziale Benachteiligungen auszugleichen oder abzumildern schlägt hier besonders zu Buche.

1.1. Normative Grundlagen der Empfehlung - Der Wandel der öffentlichen Sozialisationsnormen
Neben dem Kontext der Entwicklung zur Wissensgesellschaft und zur Stärkung der Zivilgesellschaft gewinnt die Wahrung von Menschenrechten durch Bildung an Bedeutung. Das Recht auf Entwicklung der Persönlichkeit, der individuellen Entfaltung, im Verhältnis zur sozialen Kohäsion bedarf einer Neubestimmung. Bildungseinrichtungen werden sich mit dem Recht der Einzelnen, kulturelle Identitäten selbst zu definieren vor dem der fremden Zuschreibungen und Gruppenzuweisungen stärker befassen müssen und SchülerInnen darin stärken, dieses Recht wahrzunehmen. Mit der zunehmenden Vielfalt im Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Herkünften und Hintergründen werden neue Bestimmungen von individueller Freiheit und Kollektivität notwendig.

1.2. Integrationskonzepte – Umgang mit Zuwanderung im Vergleich
Wieweit Länder sich selbst als Einwanderungsland begreifen, hat eine hohe Bedeutung für die Umgang mit der Vielfalt/Diversität der Bevölkerung und erleichtert die Akzeptanz. Die Antwort fällt in den Ländern unterschiedlich aus, z.B. lehnt Frankreich eine multikulturelle Orientierung ab, während sie in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern die meisten Politikfelder leitet. Die Unklarheit der deutschen Haltung zur Einwanderung bzw. die teils offensiven Widerstände sind Haupthindernisse, positive pädagogische Konzepte für Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien zu entwickeln.

1.3.  Situation von Kindern mit Migrationshintergrund
Insgesamt leben heute in Deutschland 7,3 Mio. Ausländer (8,9 Prozent der Bevölkerung) – der Anteil ethnischer Minderheiten dürfte eingedenk der Spät-/Aussiedler deutlich höher liegen. „Hätten wir [zudem] in den letzten 25 Jahren ein liberaleres Staatszugehörigkeitsrecht gehabt, hätten wir heute etwa 4 Mio. Ausländer und eine Ausländerquote von knapp 5%.“
Die Anzahl und die Vielfalt von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wächst. Es gibt erhebliche Verbesserungen in der Bildungsbeteiligung, aber der Abstand zu SchülerInnen mit deutschem Hintergrund ist nicht geringer geworden.

1.4. Bildungssituation von Migrantenkindern
Das Problem der Kinder mit Migrationshintergrund ist nicht die quantitative Bildungsbeteiligung, sondern die Qualität ihrer Förderung. Die Verteilung auf die verschiedenen Schulformen ist ein Problem. Zwar haben die Bildungsabschlüsse insgesamt zugenommen, aber der Abstand zu deutschen Jugendlichen ist wie in der Bildungsbeteiligung gleich geblieben.

2. Bildungseinrichtungen und Integration

2.1. Vorschulische Bildung und Migration
Zwischen Anspruch und Realität in den Tageseinrichtungen für Kinder besteht eine große Diskrepanz. „Fördern und Fordern“ sind speziell im Kindergarten oft tabuisierte Begriffe. Konzepte mehrsprachiger Bildung und Instrumente zur Diagnose von Sprachkompetenz in Erst- und Zweitsprachen gibt es bislang nur wenige. Die Kooperation mit Eltern ist auch in Kindertagesstätten  generell unterentwickelt  Die Ausbildung der ErzieherInnen sowie auch die Forschungslandschaft in diesem Bereich sind defizitär.

2.2. Curriculum und Schulbuch-Gestaltung: Medien der Selbst- und Fremddarstellung
Das langjährige offizielle Credo der Bundesrepublik, nicht als Einwanderungsland verstanden werden zu wollen, hat eine Mischung aus Konzeptionslosigkeit und bornierter Ignoranz auf der einen Seite und, in Reaktion auf die kritische Diagnose von Versäumnissen, einen kaum weniger problematischen wohlmeinenden Kultur-Relativismus auf der anderen Seite befördert. Die grundsätzliche kulturelle Pluralität moderner Gesellschaften wird damit ausgeblendet. Migration wird in deutschen Schulbüchern überwiegend als ein Problem thematisiert, das auf den eurozentrischen Nenner der fremdartigen Kultur gebracht wird. Ansätze antidiskriminierender Pädagogik sind kaum erkennbar. Bezeichnend für den Umgang in Schulbüchern ist eine Präsentation, die Fremdheit fokussiert.  Mit größter Selbstverständlichkeit werden Gruppen entlang nationaler Herkunft konstruiert, die in dieser Eindeutigkeit gar nicht existieren.

2.3. Schulkultur, Diversität und Integration
Problematisch ist, dass an die Stelle der Subjektorientierung – als elementarer Teil des erklärten pädagogischen Ziels freier und selbstbewusster Persönlichkeiten – ein kollektives Stereotyp „kultureller Andersartigkeit“ tritt. Die bemerkenswerte Schlussfolgerung, die viele SchülerInnen mit Einwanderungsherkunft selbst aus ihrer Erfahrung der multiplen Unterscheidungen zogen, war die Normalität individueller Differenz, und auf dieser Basis die Forderung nach Anerkennung als Gleiche. Während Auslandsaufenthalte als Horizont erweiternde Aktivitäten gelten, wird die innergesellschaftliche Pluralisierung infolge Zuwanderung nicht in gleicher Weise als eine Chance, sondern in erster Linie als Zumutung und Problem begriffen. Eine positive Wertschätzung von Einwanderung und Vielfalt lässt sich nicht verordnen. Sehr wohl lassen sich aber die normativen Konzepte zur Integration, Motivationsanreize und Rahmenbedingungen günstig gestalten.

Zur Vermittlung von interkultureller Kompetenz gehört die Fähigkeit, die gewohnten Strukturen des Denkens und Handelns in Frage zu stellen, die Anerkennung von Vielfalt als einem Wert und ein offener Umgang mit Unbekanntem sowie den in der Konfrontation mit Fremdem möglicherweise entstehenden Konflikten.

Vorbilder für ein erfolgreiches Zusammenspiel zwischen Schulkultur und Integration bieten Länder mit einem multikulturellen oder pluralistischen Gesellschaftsmodell wie beispielsweise Schweden, Kanada und die Niederlande. Vielfalt wird in diesen Ländern programmatisch als positives Kapital einer Gesellschaft vermittelt, als Pool an kulturellen Ressourcen, aus dem eine Nation schöpfen kann und das die Lebensqualität ihrer Bewohner eher bereichert als einschränkt. Positives Beispiel in Deutschland ist das Projekt „Betzavta  - Miteinander leben“. Evaluationsstudien zeigen, dass es durch Programme des interkulturellen Lernens zu Prozessen der Reflexion, zur Änderung oder Stabilisierung von Einstellungen bei SchülerInnen und LehrerInnen kommt. Sowohl Verhaltensbereitschaften wie das Überdenken eigener Wertvorstellungen, Wahrnehmungsmuster und Interpretationen als auch das konkrete Verhalten von Lehrern und Schülern werden durch das Programm positiv beeinflusst.

2.4.  Die Schule als Community Center: Kommunikation und Kooperation mit Eltern und außerschulischen Partnern
Die Öffnung von Schulen für ihr gesellschaftliches Umfeld und die Zusammenarbeit mit den Eltern wird erheblich durch neue Organisationsformen von Unterricht gefördert. Projekte im Unterricht verbunden mit Kooperationen im Umfeld der Schule schaffen für Schülerinnen und Schüler Gelegenheitsstrukturen, in denen Selbstwirksamkeitserfahrungen, Erfolgserlebnisse und Anerkennung jenseits traditioneller Formen zum Tragen kommen. So fördern Projekte des Service-Learning (Verantwortung Lernen) die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Ligaturen, die an sozialen, kulturellen oder ökologischen Bedürfnisse in der Gemeinde festgemacht sind und über die Artikulation gemeinsamer Anliegen gegen Apathie und Rassismus im gesellschaftlichen Zusammenleben wirkt. Im nordamerikanischen Kontext ist inzwischen empirisch erwiesen, dass Service-Learning dazu beiträgt, die stereotype Wahrnehmung von Menschen anderer Ethnien, Hautfarbe und sozialer Herkunft abzubauen.

2.5. Spracherwerb
Dem Spracherwerb von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund kommt eine elementare Bedeutung zu, ist die Sprache doch der Schlüssel zur Erschließung aller weiteren Wissensbestände und zur Teilhabe an allen gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen. Sie ist konstitutiver Bestandteil schulischer Kommunikation sowie schulischer Lehr- und Lernprozesse. Das bedeutet auch, dass das sozialstaatliche und demokratische Gebot der Chancengleichheit oder des Nachteilsausgleichs dem Erwerb der Verkehrsprache eine hohe Bedeutung zumessen muss, auf der anderen Seite gelten alle Forderungen nach Anerkennung von Differenz und kultureller Identität auch und insbesondere für den Sprachgebrauch. Das Sprachvermögen, die Fähigkeit zu kommunizieren, ist wie keine andere Kompetenz untrennbar mit der Persönlichkeit verbunden.

Die Tatsache, dass die Zusammensetzung der SchülerInnenschaft hinsichtlich der sprachlichen Voraussetzungen sehr heterogen ist, tangiert die Unterrichtsarbeit und die Lernerfolge zentral und lässt die Schwäche des deutschen Schulsystems, mit Heterogenität nur mangelhaft umgehen zu können, besonders deutlich hervortreten und zum Nachteil einer ganzen Gruppe von Risikokindern und –jugendlichen werden.

Konzepte der Mehrsprachigkeit müssen daher differenziert auf den unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen der Kinder aufbauen. Sie brauchen klare Standards hinsichtlich der Kompetenzen, die erworben werden sollen.

3. Reformempfehlungen

3.1. Umgang mit Heterogenität/Diversität
Es gilt, Vielfalt zu akzeptieren und kompetenten Umgang mit ihr zu entwickeln, statt mit Hilfe von Defizit- und Kulturkonflikt-Hypothesen scheinbar unlösbare Probleme zu konstruieren. Die politische Ignoranz gegenüber der Einwanderungsrealität der vergangenen 40 Jahre hat bewirkt, dass hier vieles versäumt wurde, das nun nachzuholen ist.

3.2.  Reformempfehlung - Vorschulische Bildung und Migration
Eine Verbesserung der pädagogischen Arbeit der Kindertagesstätten nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund wird davon abhängen, wie weit Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen ausgebaut werden. Eine frühzeitige kognitive und sprachliche Förderung setzt voraus, dass dies als Auftrag der Kita von den Beteiligten gesehen wird und die Instrumente dafür beherrscht werden. Sprachförderung braucht hier Einbindung in motivierende, spielerische Konzepte der interkulturellen Bildung und Erziehung im Elementarbereich. In dieser Lernphase bieten sich Konzepte zweisprachiger Sprachförderung an, die die Eltern – insbesondere die Mütter – einbeziehen  und eine Zusammenwirken der Familien und der Regeleinrichtungen fördern.

3.3.  Schulische Bildung und Migration
Bildungsrichtlinien und die Schulbücher, die nach den curricularen Vorgaben entstehen, sind wirksame Instrumente und Medien, um kollektive Selbst- und Fremddarstellungen zu vermitteln. Dieses Potenzial muss verantwortlich im Sinne des offenen demokratischen Gesellschaftsmodells eingesetzt werden.
Wir brauchen eine Schulpädagogik der Anti-Diskriminierung und Qualitätsstandards zur Evaluation ihrer Umsetzung. Wir brauchen Schulen mit Profil, die die Zusammensetzung der Schülerschaft programmatisch reflektieren. Dazu braucht es einen kooperativen Umgang mit Eltern und außerschulischen Partnern.
Damit auf nachteilige Bedingungen, die besonderes Engagement seitens der Schule fordern – sei es ein allgemein bildungsfernes Milieu von ökonomisch und sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen oder eine starke Präsenz von Zuwanderern mit sprachlichen Defiziten – mit verstärkten Bemühungen eingegangen werden kann, braucht es schulische Ressourcen, um die nötigen Leistungen zu erbringen.

3.4.  Spracherwerb
Sprache ist eine Persönlichkeitskompetenz wie keine andere.
Der Erwerb der Verkehrssprache ist unabdingbar und zwar auf einem Level, der nicht nur die alltägliche Kommunikation ohne Probleme ermöglicht, sondern auch den Gebrauch von Fachsprachen, die für den beruflichen Erfolg erforderlich sind.

Die Vielfalt der vorhandenen sprachlichen Kompetenzen sollte als Ressource genutzt werden.
Ziel ist die Mehrsprachigkeit für alle Kinder, daher sollten auch die jeweiligen Muttersprachen mit diesem Ziel weiterentwickelt werden.

Die Muttersprache, bzw. die verwendete Familiensprache ist erforderlich, wie sie für die Identität von Kindern und Jugendlichen von diesen selbst gewünscht wird. Ein Bruch in der Sprachentwicklung sollte vermieden werden. Die Muttersprache ist aber nicht zwingend für den Erwerb der Verkehrssprache Voraussetzung. Ein differenziertes Unterrichtsangebot sollte auf die Vielfalt der möglichen Sprachentwicklungen und Voraussetzungen eingehen/angepasst werden. 

Deutsch als Zweitsprache gehört zum Kerncurriculum für die gesamte Schulzeit, solange die Sprachkompetenz nicht den gesetzten Standards entspricht. Zusätzlich bedarf es der Förderangebote über die normale Unterrichtszeit hinaus an Samstagen und in den Schulferien (Sommerschule). Besondere Konzepte zur Förderung der Fachsprache, durch jeweils vorziehende curriculare Bearbeitung sollten hierbei ebenfalls verwandt werden. Kinder und Jugendliche brauchen Kompetenzerfahrung als Lernmotivation.

Wir brauchen ein generelles Umdenken und einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel von einer monolingualen Orientierung hin zu einem Sprachenlernen auf der Grundlage von Zwei- und Mehrsprachigkeit, die als Potenzial und Ressource gewertet wird.

Daten über den Sprachstand und den Schulerfolg von Zuwanderern müssen regelmäßig erhoben und politische Entscheidungen auf der Grundlage dieser Daten neu überdacht werden. Wir brauchen also eine neue Bildungsberichterstattung und neue statistische Erhebungskriterien, die über Fragen der Staatsangehörigkeit hinausgehen und brauchbare Informationen für Bildungsplanung liefern.

3.5. Personalentwicklung
Damit die Realität der Einwanderungsgesellschaft auch im schulischen Alltag repräsentiert ist, brauchen wir mehr Personal mit Migrationshintergrund in vorschulischen Einrichtungen und in den Schulen. Zusätzlich brauchen wir qualifizierte Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte mit einer Zweisprachigkeit, die die Koordinierung des Unterrichts in den Familiensprachen mit dem Deutsch- und Fachunterricht sowie verbesserte Fremdsprachenangebote ermöglichen.

4. Schlussbemerkung
Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind aufgrund der doppelten Benachteiligung, des häufig bildungsfernen sozio-ökonomischen Hintergrunds wie der Sprachproblematik besonders von der selektiven Wirkung des deutschen Schulsystems betroffen. Die Empfehlung beschränkt sich auf den Ausbau von Fördermöglichkeiten, die auch ohne große Systemveränderungen möglich sind, aber auch den Umgang mit Heterogenität in den Schulen generell fördern können und sollen.

Die Bildungskommission will mit dieser Empfehlung vor allem auch die Forderung nach mehr systematischer Forschung zur Entwicklung und Evaluation von geeigneten Konzepten unterstützen, die im Interesse aller in diesem Land lebenden Menschen einen konstruktiven Umgang mit der gesellschaftlichen Heterogenität befördern. Die sog. empirische Wende in der Pädagogik und Bildungspolitik, die sich seit den internationalen Vergleichsstudien abzeichnet, ist gerade im Bereich der Pädagogik für sozial benachteiligte Gruppen, besonders von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, dringend geboten.

"Schule und Migration" Empfehlungen der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung [pdf, 36 S., 150 KB]

 

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Sechs Reformempfehlungen zur Veränderung des bundesdeutschen Schulsystems hat die Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung erarbeitet. Sie sind an dem Ziel ausgerichtet, Schule in die Zivilgesellschaft einzubinden.