Frontex. Kritiken, Konzeptionen, Konstruktionen

Anti-Frontex DemonstrantInnen
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MIt dem fortgesetzten Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer gerät vor allem die europäische Grenzschutzagentur Frontex in die Kritik

 

von Bernd Kasparek

The earth's been covered with borders, the sky
filled with flags. But there are only two nations
– that of the living and that of the dead

Juca Sabão
 

Mit dem Europawahlkampf, dem fortgesetzten Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer und dem völkerrechtswidrigen Vorstoß Italiens, Flüchtlinge ohne Prüfung des Asylrechts direkt nach Libyen zurückzuschieben, wird auch die europäische Dimension der Migrationspolitik wieder stärker öffentlich verhandelt. Dabei steht vor allem die europäische Grenzschutzagentur Frontex im kritischen Licht der Öffentlichkeit.

Am 19. und 20. Mai 2009 veranstaltete die Heinrich-Böll-Stiftung die Konferenz „Festung oder Raum der Freiheit. EU-Grenzpolitik im Mittelmeerraum“ in Berlin. Anhand der Podiumsdiskussion, die am ersten Abend stattfand, soll der Befund über den Zustand der Kritik an Frontex exemplarisch ausgeführt werden. An der Podiumsdiskussion nahmen unter anderem Omid Nouripour, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen und Klaus Roesler, Leiter der Operativen Abteilung von Frontex teil. Zwischen den beiden ergab sich im Laufe der Diskussion ein kurzer Schlagabtausch. Dabei stellte Omid Nouripour die Existenzberechtigung von Frontex nicht in Frage, sondern kritisierte vor allem zwei Punkte. Ihm ging es zum einen um die mangelnde Transparenz der Konstruktion einer Agentur wie Frontex, die mit „exekutiven Aufgaben“ beauftragt sei, zum anderen kritisierte er die teilweise „menschenrechtswidrige Praxis“ von „Frontex-Offizieren“ während bestimmter Einsätze. Klaus Roesler konnte diese Kritik jedoch relativ einfach kontern, in dem er darauf verwies, dass Frontex an sich gar keine exekutiven Aufgaben habe und es inbesondere gar keine „Frontex-Offiziere“ gäbe. Frontex koordiniere lediglich, „command and control“ läge bei dem jeweiligen Mitgliedsstaat, der eine Operation beherberge. Zudem gäbe es eine Kontrolle durch das Europaparlament und natürlich hätte die Wahrung der Menschenrechte bei Frontex „allerhöchste Priorität“.

Mit dieser Erwiderung war die Kritik an Frontex auch schon abgeschmettert, und die Diskussion widmete sich anderer Themen der europäischen Migrationspolitik. Es stellt sich jedoch die Frage, wieso eine Kritik, die einen berechtigten Hintergrund hat und so vielen im Publikum aus dem Herzen sprach, so einfach ins Leere laufen konnte.

Menschenrechte

Bisher konnte Frontex selber keine Missachtung der Menschenrechte nachgewiesen werden, dennoch spielt die Frage der Menschenrechte eine gewichtige Rolle in der Kritik an Frontex. Neben Omid Nouripour formuliert auch die grüne Europaparlamentskandidatin Barbara Lochbihler,  Frontex „arbeite nicht immer menschenrechtskonform,“ (vgl. Tagblatt Tübingen vom 30.4.2009) ohne dies jedoch genauer belegen zu können. Vorsichtiger formuliert es Günther Burkhardt von Pro Asyl: „Auch wenn es im Einzelnen bislang nicht möglich ist, Frontex die Verantwortung am Tod von Flüchtlingen nachzuweisen, häufen sich die Hinweise, dass die Agentur Frontex in Menschenrechtsverletzungen involviert ist“ (Grundrechte-Report 2009: 217). Im Konkreten stützt  sich die Kritik dabei zum einen auf die von Pro Asyl recherchierten Praktiken der griechischen Küstenwache (vgl. Pro Asyl 2007) sowie auf die Aussage eines Einsatzleiters der italienischen Militärpolizei, in dem dieser seine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringt, dass im Rahmen von Frontexoperationen Verbände anderer europäischer Staaten eine „harte Linie“ führen, die sich in der Entnahme von Lebensmitteln und Treibstoff von Flüchtlingsbooten äußere, um diese zur Umkehr zu zwingen (Herzog 2008). All diese Praktiken können jedoch jeweils nur den nationalen Grenzschutzinstitutionen nachgewiesen werden, eine Verbindung zu Frontex ist bisher schwer zu belegen.

Europäisierung

Nun lässt sich jedoch argumentieren, dass die Schwierigkeit einer menschenrechtlichen Kritik kein Zufall ist, sondern in der Konstruktion von Frontex angelegt ist. Nach der Frontex-Verordnung vom 26.10.2004 ist Frontex tatsächlich lediglich mit einer koordinierenden Funktion ausgestattet. Zwar hatte die EU-Kommission ursprünglich für die Schaffung eines „European Border Guard Corps“ plädiert (Europäische Kommission 2002), scheiterte damit jedoch am Widerstand der Mitgliedsstaaten der EU, die ihre Souveränität über die jeweilige nationale Grenze nicht aufgeben wollten. Die europäische Außengrenze ist zwar über die Schengener Verträge europäisiert worden, wird aber in einem Prozess der geteilten Verantwortung verwaltet, ohne dass Kompetenzen wesentlich zentralisiert worden wären. Eine europäische Grenzpolizei würde daher eine fundamentale Kompetenzverschiebung mit sich bringen, die womöglich auch nicht vom Amsterdamer Vertrag legitmiert gewesen wäre, bezieht doch das „integrated border management“ Konzept der EU auch Elemente der 3. Säule mit ein, also Politikfelder, für die von der EU gefasste Rahmenbeschlüsse zunächst keine bindende Wirkung für die Mitgliedsstaaten entfalten.

So wurde als Kompromiss die europäische Grenzschutzagentur Frontex eingerichtet, mit einem wesentlichen Fokus auf irreguläre Migration, ein Politikfeld, welches im Amsterdamer Vertrag in die 1. Säule überführt wurde. Die 1. Säule beinhaltet anders als die 3. Säule Politikfelder, für die bindende Verordnungen erlassen werden können. Dennoch hält die Frontex-Verordnung fest, dass die Verantwortung für die Kontrolle und Überwachung der Außengrenze weiterhin bei den Mitgliedsstaaten liegt. In diesem Feld stockender Europäisierung und tendenziell unklarer Kompetenzen agiert Frontex.

Dabei wirkt die Konstruktion und das schwierige politische Feld nur initial als Hemmschuh. Denn die Diffusität des Mandats, die „lediglich koordinierende“ Rolle ist präzise die Nebelwand, hinter die sich Frontex immer dann zurückziehen kann, sobald Kritik an der Praxis einzelner Grenzschutzorgane aufkommt. Dementsprechend leicht fällt auch das oftmals geäußerte Bekenntnis zu den Menschenrechten. Dennoch ist Frontex nicht lediglich der passive Makler multilateraler Operationen im Hintergrund ohne Einfluss auf das Geschehen an den Grenzen Europas. Seit der neoliberalen Wende von Frontex in der Zeit der externen Evaluation durch die Wirtschaftsberatungsfirma COWI (COWI 2009) stellt sich Frontex als Dienstleister dar, der „Projekte, Produkte und Dienstleistungen“ (Frontex 2009) zur Verfügung stellt. Der relativ autonome Status als Europäische Agentur verstärkt diese Selbstkonzeption.

Synthetisierung

Die Problematik von Frontex liegt nun im Entwicklungsprozess der „Produkte“. Diese kann am besten als eine Synthetisierung einer europäischen Grenzschutzpraxis beschrieben werden. Im Rahmen von Pilotprojekten, Gemeinsamen Operationen, Trainingsworkshops sowie Workshops mit Universitäten und Firmen wird diese Praxis erarbeitet, und zwar im Rückgriff auf etablierte nationale Praxen. Durch die Fokussierung von Frontex auf bestimmte „hot spots“ der irregulären Migration ist dabei der Einfluss der Staaten, die in diesen Regionen liegen, wesentlich größer, wie es die Rechtsanthropologin Silja Klepp für den Fall Malta darlegen konnte (Klepp 2008).

Andererseits ist Frontex nun auch nicht die EU-Grundrechteagentur, sondern versteht sich als neutraler, technischer Dienstleister im Bereich des Grenzschutzes, was sich eben darin äußert, dass die „Produkte“ kein Logo „human rights inside“ tragen. In diesem praxeologischem Prozess, einem „doing border management“, werden die Grenzschutzdispositive des 21. Jahrhunderts entwickelt.  Diese tragen die Praktiken der Migration in sich, entstehen sie doch quasi in einem Prozess der Feldforschung.

Die unter der Federführung von Frontex entwickelten „Produkte“ werden dann an die Mitgliedsstaaten der EU zurückgespielt, die diese in der Praxis einsetzen. Damit liegt die politische Verantwortung bei den „Kunden“. In diesem arbeitsteiligen Prozess verwischen die Verantwortungen und die Autorenschaft. So konnte Klaus Roesler, von der Moderatorin gefragt, ob Frontex die italienische Praxis des Refoulements (vgl. UNHCR 2009) auf hoher See in das eigene Repertoire des Grenzschutz aufnehmen wolle, dies klar zurückweisen und erklären, es handele sich um eine Politik der italienischen Regierung, auf die Frontex keinerlei Einfluß habe.

Dennoch weist die Politik Italiens frappierende Ähnlichkeit mit der Operation Hera auf, die Frontex seit 2006 im Atlantik vor der Küste des Senegals, Mauretaniens und der Kap-Verde-Inseln unterhält und die die Unterbindung der Überfahrt auf die Kanarischen Inseln zum Ziel hat (vgl. Kasparek 2009). Die Operation Hera, eine der ersten großen Operationen von Frontex, geht selber jedoch wieder auf Programme Spaniens zurück (vgl. Carrera 2007). Dies unterstreicht noch einmal die These der arbeitsteiligen Synthetisierung, wobei die Spuren der Praktiken der Migration nicht vergessen werden dürfen. Das Wissen um diese Praktiken der Migration reist schnell, was in Richtung der Kanarischen Inseln funktioniert, wird auch Richtung Lampedusa funktionieren und bald versucht werden. Erst Frontex, mit dem „global approach“, kann diesen strukturellen Vorteil wettmachen.

Einbettung

Dennoch erklärt sich die Existenz und die Aufgabe einer Agentur wie Frontex nicht vollkommen aus der von der EU konstatierten Notwendigkeit einer homogenisierten Grenzschutzpraxis. Auch wenn Klaus Roesler auf dem Podium betonte, Frontex habe eher weniger mit Migration zu tun, so muss Frontex doch als repressiver Baustein eines europäischen Migrationsregimes verstanden werden. Dieses kommende Dispositiv, in dem das internationale Regime der Genfer Flüchtlingskonvention nur noch einen Aspekt darstellt, etabliert sich nicht mehr entlang politischer Linien wie Kontrolle und Unterbindung, sondern ist gekennzeichnet durch die Evidenz der Migration und durch das Wissen um ihre Beständigkeit. Für die EU gilt es, sich auf diesem Feld zu positionieren und die von ihr erwünschten Effekte der Migration zu maximieren.

Es war daher kein Zufall, dass das Podium ebenso die neuen europäischen Instrumente des „migration management“ diskutierte. Die Vorschläge der EU-Kommission zu „zirkulärer Migration“ sowie „Mobilitätspartnerschaften“ sind keinesfalls migrationspolitische Eintagsfliegen gewesen, sondern gezielte Interventionen, um das Feld der Arbeitsmigration, welches jahrelang im wesentlichen jenseits staatlichen Einflusses ablief, regierbar zu machen.

Doch wie soll die Wiederauflage des deutschen „Gastarbeitersystems“ eine attraktive Alternative für potenzielle MigrantInnen sein, die um die Durchlässigkeit der europäischen Grenzen wissen? An dieser Stelle wird die erhöhte Kontrolle der Durchlässigkeit zu einem notwendigen Faustpfand, um Migration im Sinne der EU beeinflussen zu können. Damit ist aber auch die alte Metapher der „Festung Europa“ von der Realität einer europäisierten Migrationspolitik überholt worden. Denn anders als es das Bild der Festung suggeriert, geht es weniger um Abschottung als um eine selektive Durchlässigkeit.

Der kanadische Politikwissenschaftler William Walters hat in diesem Zusammenhang die Metapher einer „Firewall“ in die Diskussion eingebracht (Walters 2005), die in der Tat geeigneter ist, Frontex und die europäische Konzeption der Grenze zu beschreiben. Firewalls erfüllen im Computer- und Netzwerkbereich die Funktion eines Filters, der jedoch durchlässig genug sein muss, um die zentralen Funktionen eines durch eine Firewall abgeschirmten Computers nicht zu beeinträchtigen, sprich die Netzwerkkommunikation nicht vollständig zum Halt zu bringen. Ähnlich verhält es sich mit der EU, die in einer globalisierten Welt erreichbar sein muss und Reisende nicht unter einen Generalverdacht stellen darf. So befürwortet Frontex die Einführung biometrischer Grenzkontrollen, um den rund 300 Millionen „bona fide travellers“ pro Jahr eine höhere Durchlässigkeit der Grenze zu garantieren. In diesem Sinne gehen Firewalls sehr selektiv vor, inspizieren die verwendeten Protokolle der Kommunikation sehr tief und werden vor allem ständig mit neuen Regeln an Bedrohungsszenarien angepasst. Eine Praxis, die auch Frontex unter dem Begriff „Risikoanalyse“ betreibt.

Postnationale Kritik

All diese Überlegungen entkräften keineswegs die Kritik an dem, was sich tagtäglich an den Grenzen Europas abspielt. Dennoch müssen die Adressaten der Kritik klarer benannt werden, damit sie nicht verhallt. Es wäre daher ein fataler Fehler, Frontex lediglich als Oberbegriff für alle Grenzschutzpraktiken in der EU zu nehmen, denn es würde die historisch einmalige Konstitution der Europäischen Union sowie die spezifischen Modi der Europäisierung, die zu der Etablierung der Agentur geführt haben, vernachlässigen. Gerade diese bleiben jedoch tendenziell verborgen, solange Institutionen wie Frontex als autonome Agentur agieren. Solange Frontex und die Migrationspolitik der EU nicht als Ganzes zur Disposition stehen, bedarf es in der Tat einer größeren Transparenz und Demokratisierung einer Institution wie Frontex, um eine Kontrolle über die bis dato autonome Agentur ausüben zu können, die über die jetzige Tätigkeit der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments hinausgeht.

Die Forderung nach Demokratisierung verweist jedoch weiter, nämlich auf den Befund, dass Schengenland selber in doppelter Weise liminal und postdemokratisch konstruiert ist (vgl. Tsianos et al 2008; Karakaylis in diesem Dossier). Die Grenzen Europas konstituieren auch die Grenzen der Demokratie und der Rechte in Europa. Die mangelnde demokratische Verfasstheit der Agentur Frontex ist damit kein Zufall, sondern der Tatsache geschuldet, dass sie ein Schengener Produkt ist und damit selbst eine Grenzgängerin. Ein Neu-Denken von Schengenland und Europa wird dabei die Tatsache ins Zentrum stellen müssen, dass beide zutiefst von der Faktizität und Autonomie der Migration geprägt sind. So stellt sich die Frage nach Demokratie und Rechten auch für diejenigen, die kommen, nicht nur für diejenigen, die schon da sind. In diesem Neu-Denken wird die Grenze Austragungsort eines gemeinsamen Kampfes für Rechte, die sich nicht länger auf die territorialen Kategorien eines „methodologischen Nationalismus“ beziehen, sondern eine postnationale Verrechtlichung einfordern.

 

Literatur

 

Bild entfernt.

 

Bernd Kasparek (Dipl. Mat.) promoviert in Europäischer Ethnologie über europäische Grenz- und Migrationsregimes. Im Rahmen der Ausstellung „Crossing Munich – Orte, Bilder und Debatten der Migration“ forscht er zu Modi kommunalen Regierens der Migration.