Die Bequemlichkeit der Definitionshoheit

Label Noir

von Lara-Sophie Milagro

 
Der Aufschrei ist groß unter Theatergänger_innen, Intendant_innen, Schauspieler_innen, Journalist_innen und Kritiker_innen: Sie alle nehmen Weltoffenheit und antirassistisches Denken und Handeln für sich in Anspruch und sind nicht gewillt, dieses sorgsam gepflegte Selbstbild so einfach aufzugeben. So war man denn auch zu Beginn der Blackfacing-Debatte vor allem damit beschäftigt, sich gegenseitig von jedwedem Rassismus frei zu sprechen: "Es ist ebenso rassistisch, wenn Weiße keine Schwarzen spielen dürfen – und es ist gerade rassistisch, wenn Schwarze Schwarze spielen", so ein häufiges Argument. Oder: "Das Stück war ja anti-rassistisch, darum kann das darin verwendete Blackfacing ja gar nicht rassistisch sein", als ob der Zweck alle Mittel heiligen würde. Nicht minder ignorant waren die nicht enden wollenden Verweise auf die künstlerische Freiheit, den vermeintlichen ("positiven") Rassismus der Protestierenden, die Qualität einzelner Inszenierungen oder die schauspielerischen Fähigkeiten einzelner schwarzer Schauspieler_innen.

 

Theater und Rassismus

Gleichzeitig setzte sich lange kaum einer der Verantwortlichen mit den tatsächlichen Inhalten der Protestierenden auseinander, wie sie zum Beispiel auf den Flugblättern nachzulesen waren, die im Rahmen der Aktion am Deutschen Theater gegen das Blackfacing in dem Stück Unschuld (Regie: Michael Thalheimer) verteilt wurden. Statt dessen wurden Argumente aufgeführt, die unfreiwillig bewiesen, dass die Protestler mit ihren Diskriminierungsvorwürfen recht hatten. Erfreulicherweise hat das Deutsche Theater die letzte Aufführung von "Unschuld" am 21. März ohne Blackfacing statt finden lassen und somit einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan.
 
Das Einheits-Weiß deutscher Stadttheater

Erstmals entbrannte die Blackfacing-Debatte um Dieter Hallervordens Inszenierung "Ich bin nicht Rappaport". Darin verkörpert der schwarz angemalte Schauspieler Joachim Bliese eine schwarze Rolle. Von Seiten des Schlosspark-Theaters hieß es damals, man hätte keine afro-deutschen Schauspieler gefunden, weil es in deutschen Theater-Ensembles keine gäbe.
 
Es ist löblich, dass das Schlosspark Theater dies erkannt hat. Schade nur, dass es daraufhin nicht die nächst liegende Frage stellte: Warum gibt es diese systematische Ausgrenzung von People of Color an Deutschlands Theatern? Stattdessen wurde ein augenscheinlicher Missstand als Rechtfertigung für die Notwendigkeit einer weiteren Diskriminierung, die des Blackfacing, genutzt. Verkehrte Welt.
 
Klickt man sich im Internet auf der Homepage deutscher Stadt- und Staatstheater durch die Fotos der Ensemble-Mitglieder so bietet sich einem tatsächlich stets dasselbe, einheitliche Bild: Schauspieler_innen mit stereotyp deutschem Erscheinungsbild, sprich: weißer Hautfarbe. Hin und wieder mal ein Nachname, der nicht urdeutsch klingt, aber zum Glück sieht man es der Trägerin kaum an. Die wenigen Ausnahmen kann man an einer Hand abzählen.
 
Die Uneinheitlichkeit der deutschen Gesellschaft

Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es gibt Deutsche mit türkischen, afrikanischen, asiatischen, russischen – kurz: mit jeden nur denkbaren ethnischen und/oder kulturellen Wurzeln. Sie sind Ärztinnen, Schauspieler, Bauarbeiterinnen, Restaurantbesitzer, Studenten, Zahnarzthelfer, Juristinnen, Grafik Designer, Schriftstellerinnen, Politiker und Hartz IV-Empfänger.
 
Das bunte Bild auf Deutschlands Straßen weicht einem Einheits-Weiß, sobald man ein Sprechtheater betritt. Keine People of Color weit und breit, Schwarze schon gar nicht. Allerhöchstens beim Kantinenpersonal, in der Verwaltung oder der Technik. Warum ist das so?
 
Im Jahre 2012 haben gut 18 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen einen multiethnischen Vordergrund. Rund acht Millionen von ihnen sind Deutsche, weitere sieben Millionen besitzen zwar nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, prägen, gestalten und definieren aber durch ihren permanenten Aufenthalt hier die deutsche Kultur genauso mit. All diese Menschen werden zukünftig immer weniger bereit sein, sich damit zufrieden zu geben, dass ihre Gleichberechtigung gegenüber weißen Deutschen zwar auf dem Papier garantiert, aber in der Realität ein frommer Wunsch ist. Sie werden es nicht mehr hinnehmen, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihnen vorzuschreiben versucht, wann sie sich diskriminiert fühlen dürfen und wann nicht. Und dass diese Gesellschaft die Definitionshoheit darüber beansprucht, was Rassismus ist, wie ein Deutscher aussieht und wer die deutsche Kultur auf deutschen Bühnen mit seinem Gesicht zu vertreten hat.
 
Selbstverständlichkeit in englischsprachigen Ländern

Im Sprechtheater repräsentieren die Darsteller_innen, in einem noch viel höheren Maße als in der Oper oder im Tanz, die Kultur des Landes durch ihr Aussehen, ihre Physiognomie. In der Oper steht die Musik im Vordergrund, beim Tanz der Körper und die Bewegung, beim Schauspiel das Gesicht (als Teil der Gesamterscheinung) und die Sprache. Wen wir in welchem Land in welchen Rollen auf der Bühne sehen, gibt also auch Aufschluss darüber, wen die jeweilige Gesellschaft als geeignet ansieht ihre Kultur in welchen Rollen zu vertreten, was wiederum offenbart, welche Länder People of Color als Teil ihrer Kultur betrachten und welche nicht.
 
In England und Amerika zum Beispiel vertreten People of Color ganz selbstverständlich die amerikanische bzw. europäische Kultur. Man findet Menschen jedweder Hautfarbe – in großer Anzahl, nicht nur vereinzelt – in den Ensembles und auf den Bühnen der großen Theater. Ein Viertel des Ensembles der Royal Shakespeare Company besteht aus People of Color, das National Theatre in London wirbt derzeit mit einem Plakat, auf dem zwei schwarze (nicht angemalte) Schauspieler zu sehen sind, für ihre aktuelle Produktion der "Comedy of Errors" (ca. die Hälfte der Rollen in dieser Produktion sind dann auch tatsächlich mit Schwarzen besetzt), die amerikanisch-iranische Schauspielerin Shohreh Aghdashloo spielt Lorcas Bernada Alba am renommierten Londoner Almeida Theatre und afro-britische Schauspieler_innen wie Adjoa Andoh werden regelmäßig an großen Häusern für Hauptrollen in klassischen und modernen Stücken besetzt. Andoh spielte beispielsweise die Portia in "Julius Cäsar", die Blanche in "Endstation Sehnsucht" und Misses Saunders in Carol Churchills "Cloud Nine" – Rollen, von denen afro-deutsche Schauspieler_innen hierzulande nur träumen können.
 
Wer welche Rollen spielen kann und darf

Im Unterschied dazu haben in Deutschland Intendant_innen, Regisseur_innen, Schauspielschulen, Vermittlungsagenturen stellvertretend für den (angeblichen) Geschmack eines überwiegend weißen Publikums entschieden, dass schwarze Schauspieler_innen – Deutsche wie Ausländer – aufgrund ihres Aussehens, insbesondere ihrer Hautfarbe (also ihrer sogenannten "rassischen" Merkmale wegen), nicht geeignet sind für die meisten Stücke der deutschen und europäischen Dramatik. Weiße Darsteller_innen hingegen dürfen alles spielen, einschließlich Kleopatra, Midge ("Ich bin nicht Rappaport"), schwarze Flüchtlinge ("Unschuld") sowie ausdrücklich als schwarz deklarierte Rollen ("Clybourne Park"). Schwarze Schauspieler_innen kommen derweil für reguläre klassische und moderne Rollen nicht in Frage, nicht für das Gretchen oder den Romeo, für Jelineks "Winterreise" oder Borcherts Beckmann, für Polly Peachum ebenso wenig wie für Mackie Messer, Leonce, Lena oder die "Geschlossene Gesellschaft" – man könnte die Liste endlos fortführen. Eine solche systematische Benachteiligung aufgrund vermeintlich "rassischer" Merkmale nennt man Rassismus.
 
Jede einzelne Schauspielerin, Zuschauer, Theaterkritikerin und Intendant an jedem einzelnen deutschen Theater kann sicherlich allerlei politisch korrekte Gründe vorbringen, warum auch im Ensemble seines Theaters (fast) keine PoC-Schauspieler_innen zu finden sind. Gerade auch in den auf nachtkritik.de geführten Debatten war sich die empörte Masse für kein Argument zu schade, um Thalheimer, Hallervorden und den gesamten deutschen Staatstheaterbetrieb stellvertretend für sich selbst von allen Rassismus-Vorwürfen frei zu sprechen.
 
Lange Tradition

In dem Bestreben, rassistisches Denken und Handeln von sich zu weisen, offenbarten diese Rechtfertigungen allerdings eben gerade dies: Rassistisches Denken und Handeln ihrer Absender_innen.
 
Rassismus erfreut sich, wie auch das Blackfacing, weltweit einer langen Tradition, nur hat er im Laufe der Geschichte immer wieder sein Gesicht verändert. Und so existiert er auch heute noch auf verschiedensten Ebenen und zeigt sich in mannigfaltigen Formen und bunten Verkleidungen, trotz Demokratie, Karneval der Kulturen und Minister_innen mit "Migrationshintergrund". Wie auch der Sexismus wird er dadurch aufrecht erhalten, dass eine bestimmte Gruppe, die (weiße) deutsche Mehrheitsgesellschaft nämlich, Schlüsselpositionen in Politik und Gesellschaft weiterhin unter sich aufteilt: Leitungspositionen in der Judikative, Exekutive und Legislative, Vorstandsposten in der Wirtschaft, Intendanten-Posten in der Kultur, Hauptrollen auf der Bühne. Auf diese Weise sichert sich dieselbe Gruppe (sicherlich zumeist unbewusst) die Definitionshoheit darüber, was Rassismus und was künstlerische Freiheit ist und wie Blackfacing beurteilt werden sollte.
 
Die Begriffe "Mehrheitsgesellschaft" und "Minderheit" bezeichnen dabei nicht in erster Linie zahlenmäßige Dominanz, sondern Machtverteilung und Repräsentanz. Es ist bundesdeutsche Realität, dass Menschen mit einer bestimmten Hautfarbe, einem bestimmten kulturellen Hintergrund oder Geschlecht, weniger (Repräsentations-)Macht haben als andere. Das mag im Einzelfall an den minderen Fähigkeiten der Individuen liegen, aber keiner wird ernsthaft behaupten wollen, dass Frauen oder Schwarze von Natur aus weniger begabt und ehrgeizig sind als Weiße oder Männer. Die systematische Ausgrenzung von PoC an deutschen Theatern ist also kein Einzelfall ist, sondern die Regel. Eine Debatte über Blackfacing ohne eine Debatte über die dort herrschenden diskriminierenden Strukturen ist daher undenkbar, denn das eine bedingt das andere.
 
Man muss kein Neonazi sein

Der humanistisch gebildete, Menschen verschiedenster Herkunft zu seinem Freundeskreis zählende und in Political Correctness ebenso wie in Fremdsprachen bewanderte deutsche Durchschnittsbürger_innen unterliegt immer wieder dem grausamen Irrtum, Rassismus sei ein Phänomen, das sich ausschließlich im Denken und Handeln Keulen schwingender Neonazis und rechtsextremer NPD-Volksverhetzer_innen offenbart. Dieser Glaube ist genauso falsch wie fatal; da sich kein zivilisierter Mensch den oben genannten Gruppen zuordnen würde, schon gar nicht als Kunstschaffender mit bildungspolitischem Auftrag, können alle folgerichtig niemals Rassisten sein. Dem zugrunde liegt der unerschütterliche Glaube, um rassistisch zu denken und zu handeln bedürfe es eines bösartigen und vor allem bewusst gefassten Entschlusses. Dem ist nicht so.
 
Tatsächlich sind rassistisch motivierte, verbale und handgreifliche Gewalttaten, im Vergleich zum tagtäglich praktizierten, ihre Wirkung auf allen Ebenen unserer Gesellschaft entfaltenden, strukturellen und institutionellen Rassismus, die Ausnahme. Man muss kein Neonazi sein, um rassistisch zu handeln, genauso wie man kein Frauenhasser sein muss, um Frauen zu diskriminieren. Rassistische Strukturen werden von denen, die sie geschaffen haben, als normal empfunden, genauso wie die ungleiche Behandlung von Frauen lange Zeit gesellschaftlich sanktioniert war. Das, und nur das, ist der Grund, warum struktureller und institutioneller Rassismus in diesem Land nicht auch konsequent als solcher benannt wird: weil er Normalität ist. Für Schwarze und Weiße gleichermaßen. Dieses kann bewusst oder unbewusst, in bester Absichten oder aus bösartigen Motiven heraus geschehen – im Ergebnis und in der Konsequenz ist und bleibt es für die Betroffenen: Rassismus.
 
Die Bequemlichkeit der Definitionsmacht

Natürlich braucht ein Umdenken Zeit. Die Demokratie in den Köpfen hinkt der auf dem Papier stets hinterher. Vielen weißen Deutschen wird es einiges abverlangen zu erkennen, dass das, was sie seit jeher als "normal", als "fremd" oder "gute alte Tradition" angesehen haben, nur deshalb diese Bezeichnungen trägt, weil sie sich untereinander darauf geeinigt haben, ohne ihre afro-, türkisch- oder asiatisch- deutschen Mitbürger_innen nach ihrer Meinung zu fragen. Deren Ansichten waren meist irrelevant, da ohne politisches Gewicht. Seit sich jedoch immer mehr PoC organisieren und öffentlich zu Wort melden, ist selbst die einst allerorts hippe sogenannte Political Correctness in Verruf geraten. Diese bezeichnet ja eigentlich nichts anderes als den Anspruch, jeder Mensch möge sich der politischen Dimension seiner Ausdrücke und Handlungen bewusst sein und dementsprechend bedachtsam damit umgehen. Doch manch einer hat gemerkt, dass diese Forderung nicht nur der eigenen geistigen Bequemlichkeit im Wege steht und den Alltag verkompliziert – plötzlich sollte man sich über die Gefühle von Leuten Gedanken machen, deren Nachnamen man noch nicht einmal aussprechen kann – sondern zudem die Aufgabe von Privilegien und das Teilen von (Definitions-) Macht bedeutet. So wird die Frage, ob Blackfacing rassistisch ist oder nicht, auch in Deutschland zukünftig nicht mehr nur von Weißen entschieden werden, sondern vor allem auch von denen, die durch Blackfacing dargestellt werden (sollen) und darin eine rassistische Diskriminierung erkennen. Weiße Deutsche werden sich daran gewöhnen müssen, dass sie die Uhren nicht mehr zurück drehen und in eine Zeit zurück kehren können, in der es ihnen möglich war, alles und jeden einfach so zu bezeichnen und darzustellen wie sie es "schon immer" getan haben. Sie werden sich ferner daran gewöhnen müssen, sich nicht mehr rassistisch verhalten zu können, ohne dass dies auch rassistisch genannt wird.
 
Theater und Blackfacing 

Die immer wieder vorgebrachten Argumente für das Blackfacing folgen derselben Logik wie die Rechtfertigungen rassistischer Strukturen am Theater. In beiden Fällen wird davon ausgegangen, dass die weitgehende Abwesenheit von PoC Schauspieler_innen an deutschen Theatern bzw. ein sogenanntes künstlerische Mittel – Blackfacing – nicht grundsätzlich rassistisch seien, sondern dass erst der Kontext, in dem sie auftreten, darüber entscheide, ob es sich um Diskriminierung handelt oder nicht. Gemäß dieser Logik gibt es also nichts – kein Symbol, kein Wort, kein künstlerisches Mittel, keine gesellschaftliche Realität – was grundsätzlich als rassistisch bezeichnet werden kann.
 
"Habt ihr's immer noch nicht kapiert?"

Statt dessen entscheidet wiederum eine weiße Mehrheitsgesellschaft, dass sie einen neuen künstlerischen Kontext geschaffen hat, in welchem, einst ebenfalls von einer weißen Mehrheitsgesellschaft geschaffene, negative Konnotationen nun nicht mehr gelten. Zwar gibt es an deutschen Theatern Blackfacing immer noch und schwarze Schauspieler_innen immer noch nicht, aber der neue künstlerische Kontext verleiht dem Ganzen eine vollkommen neue, ja sogar anti-rassistische Bedeutung. Schwarzen wird dabei wieder einmal die passive Rolle der Duldenden zugebilligt, die die jeweilige Bedeutung der Darstellung ihrer selbst zwar zur Kenntnis nehmen, aber nicht bewerten, ihr also von sich aus keine Bedeutung geben dürfen. Tun sie dies dennoch, werden sie ignoriert, lächerlich gemacht und /oder belehrt: "Habt ihr's immer noch nicht kapiert? Weiße bewerten Blackfacing doch jetzt schon lange nicht mehr als diskriminierend!"
 
Wer besitzt das (Vor-)Recht festzulegen, was in puncto Blackfacing aktueller Konsens ist? Diejenigen, die dieselbe Hautfarbe haben wie jene, welche die ursprünglich diffamierende Bedeutung etablierten? Diejenigen, die gleichzeitig behaupten, keine schwarzen Darsteller_innen gefunden zu haben? Diejenigen, die gleichzeitig kaum einen schwarzen oder anderen PoC als Darsteller ins Ensemble holen? Diejenigen, die gleichzeitig behaupten, an deutschen Theatern gäbe es keinen Rassismus? Oder sind nicht die in erster Linie berechtigt, die dieselbe Hautfarbe haben wie jene, die damals die diffamierende Bedeutung, welche die Weißen dem Blackfacing gaben, aushalten mussten, und die nun wiederum angehalten sind hinzunehmen, dass diese Bedeutung neuerdings (für die Mehrheitsgesellschaft) nicht mehr gilt, auch wenn Schwarze weltweit tagtäglich gegenteilige Erfahrungen machen, nämlich, dass schwarz = minderwertig oder schwarz = fremd sehr wohl noch Konsens ist.
 
Theatermacher_innen können sich nicht einfach außerhalb einer diskriminierenden Geschichte positionieren, die eine weiße Mehrheitsgesellschaft selbst hervor gebracht hat, die damit verbundenen negativen Gefühle einer ganzen Gruppe von Menschen ignorieren und mit dem Verweis auf künstlerische Freiheit vom Tisch wischen.
 
Blackfacing als Ausdruck künstlerischer Freiheit?

Für mich als afro-deutsche Zuschauerin sowie für viele andere PoC funktioniert weder ein schwarzer noch ein schwarz angemalter weißer Schauspieler als Verfremdungseffekt oder Darstellung des "Fremden an sich". Für uns sind schwarze Haut und krauses Haar oder schmale, schräg gestellte Augen oder große braune Augen in Kombination mit schwarzem Haar, braunem Teint und vollen Lippen nicht automatisch gleich fremd, weder im nationalstaatlichen noch im zwischenmenschlichen Sinn. Denn WIR sehen so aus und sind weder in Deutschland noch in Europa Fremde.
 
Die künstlerische Freiheit ist eine zu Recht in Deutschland hochgehaltene Errungenschaft, das den Werk- und Wirkungsbereich der Kunst schützt und es verbietet, auf Methoden und Inhalte künstlerischen Schaffens einzuwirken. Nun kollidieren durch den Gesetzgeber garantierte Freiheiten seit jeher mit den von ihm ebenso garantierten Rechten. Oft endet die Freiheit des Einen dort wo das Recht des Anderen beginnt und umgekehrt. Es gilt also Freiheiten und Rechte gegeneinander abzuwägen, zum Beispiel das Recht auf künstlerische Freiheit gegen den ebenfalls im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz und das darin enthaltene Diskriminierungsverbot. Dieses verbietet die Ungleichbehandlung bzw. Diskriminierung und Herabwürdigung von Personen(-gruppen) aufgrund bestimmter Merkmale – z.B. Hautfarbe, "Rasse", nationaler Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit – wenn dafür keine sachliche Rechtfertigung vorliegt. Sowohl Freiheits- als auch Gleichheitsrechte sind weitläufig interpretier- und auslegbar, je nachdem wessen Freiheit bzw. wessen Recht man stärker gewichtet. Sowohl hinsichtlich der (Unter-)Repräsentation schwarzer Schauspieler_innen als auch der Darstellung schwarzer Menschen an deutschen Theatern fällt diese Gewichtung derzeit in Deutschland eindeutig und ausschließlich zugunsten der Freiheiten der Mehrheitsgesellschaft aus. Welche sachliche Rechtfertigung erklärt, dass PoC, gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, an deutschen Theatern praktisch nicht in Erscheinung treten? Welche sachliche Rechtfertigung gibt es dafür, dass Blackfacing als künstlerisches Mittel unerlässlich und unersetzbar ist, auch wenn sich eine ganze Bevölkerungsgruppe erklärtermaßen dadurch herabgewürdigt fühlt?
 
Freiwillig statt Quote

An der öffentlichen Debatte um die Auslegung von Freiheiten und Rechten werden sich PoC künftig immer stärker beteiligen und eventuell zu anderen Ergebnissen kommen als ihre weißen Mitbürger_innen. Trotzdem wird man der ungleich höheren Gewichtung künstlerischer Freiheit zu Lasten schwarzer Menschen und Schauspieler_innen rechtlich kaum beikommen können. An jedem einzelnen deutschen Theater ist es eben Ausdruck der künstlerischen Besetzung-Freiheit, keine PoC einzustellen und Blackfacing zu betreiben. Man stelle sich nur einmal vor, Frauen wären in den Ensembles kaum präsent, gleichzeitig würden Männer sämtliche Rollen spielen, weibliche Rollen inbegriffen, und hin und wieder auch mit überdimensional großen, aufgemalten Brüsten. Als sachliche Begründung kann da jedes erdenkliche Argument herhalten: Wir haben keine Schauspielerin gefunden! Der männliche Darsteller war einfach besser! Die Brüste sind ein Verfremdungseffekt!
 
Wer will und kann eine Quotenregelung für Theater-Ensembles fordern? So würden vielleicht Missstände beseitigt, aber auch jede Möglichkeit einer künstlerisch fruchtbaren Arbeit. Eine andere Besetzungspraxis und der freiwillige Verzicht auf rassistische Ausdrucksmittel wird wohl erst Realität werden, wenn, wie in England und den USA, PoC Schlüsselpositionen im Theaterbetrieb inne haben und damit auch die Macht, ihre Auffassung von künstlerischer Freiheit umzusetzen.
 
Wenn Romeo albern wird

Angesichts der Forderung, schwarze Rollen sollten besser mit Schwarzen als mit schwarz bemalten Weißen besetzt werden, gab Ulf Schmidt auf nachtkritik.de zu bedenken: "Die Konsequenz einer solchen Forderung wäre nämlich auch die Frage, wie denn überhaupt einer einen anderen 'spielen' können soll, wie die Differenz zwischen dem Spielenden und Gespielten, der durch diese Differenz die Möglichkeit hat, szenische Bedeutung zu erzeugen, überhaupt zu rechtfertigen wäre: Wie sollte ein Bürgerlicher einen König, ein Deutscher einen Dänen, wie ein Moderner einen Mittelalterlichen spielen können?" Und Theaterfreunde fragten sich besorgt: Darf jetzt der Romeo nur noch von einem Italiener und keine Frau mehr von einem Mann gespielt werden?
 
Abgesehen davon, dass Blackfacing-Gegner_innen nicht die Differenz zwischen Spielendem und Gespieltem, sondern ein rassistisch konnotiertes Theater-Mittel kritisiert haben, hat Ulf Schmidt natürlich recht: alle sollten – theoretisch – alles spielen können. Gerade ein, wie auch immer gearteter, Unterschied zwischen Schauspielerin und Rolle generiert mitunter spannende Bedeutungen. Warum sollten also nicht auch Weiße Schwarze spielen, solange dies ohne die Verwendung rassistischer Stilmittel geschieht. Und natürlich, liebe Theaterfreunde, wäre es auch albern, den Romeo künftig nur noch von Italienern spielen zu lassen, mindestens genauso albern, wie ihn fast ausschließlich von weißen Deutschen spielen zu lassen, was gegenwärtig in Deutschland der Fall ist.
 
Bedeutungs-Festlegung nach Hautfarbe

Doch die Sache ist die: An deutschen Theatern dürfen nicht alle alles spielen. Schwarze kommen für 99 Prozent der Rollen nicht in Frage, schon gar nicht für Rollen, die ausdrücklich als weiß bezeichnet sind. Warum also kocht die Empörung hoch, wenn PoC nicht bereit sind, in einzelnen Produktionen schwarz angemalte Weiße als Darsteller für Schwarze zu akzeptieren, während die Mehrheit der Bevölkerung verständnisvoll nickt, wenn das Schlosspark-Theater verlauten lässt, dass die meisten Rollen im Repertoire der Staatstheater nicht für Schwarze geeignet seien?
 
Dahinter steht die Behauptung, dass bei einem schwarzen Schauspieler fast immer eine Differenz zwischen ihm und der Rolle besteht und zwar in einem so großen Ausmaß, dass es kaum eine Rolle gibt, die er spielen kann, weil er darin unglaubwürdig wäre. Während ein weißer Schauspieler jedes menschliche Wesen repräsentieren kann (Schwarze inbegriffen), wobei eine etwaige Differenz zu seiner Rolle künstlerisch wertvolle Bedeutung schafft. Weiß steht für die Menschheit schlechthin, schwarz steht nur für schwarz, und manchmal noch nicht einmal das.
 
Warum legen Regisseur_innen, Intendant_innen, Kritiker_innen und Zuschauer_innen in Deutschland schwarze Haut auf einige wenige Bedeutungen fest, weiße Haut aber nicht? Das Klischee besteht doch nicht darin, dass Schwarze Flüchtlinge, Drogendealer oder Bedienstete spielen, sondern darin, dass sie fast AUSSCHLIESSLICH diese Rollen spielen. Um noch einmal das Romeo-Beispiel zu bemühen: Warum darf ein weißer Deutscher den Romeo ganz selbstverständlich spielen, ein Afro-Deutscher jedoch nicht bzw. nur als Ausnahme von der Regel? Beide sind keine Italiener. Oder ist es am Ende vollkommen egal, welche Hautfarbe oder Nationalität der Schauspieler des Romeo hat, weil es im Stück (anders als in "Clybourne Park" ) gar nicht um Hautfarben geht?
 
Weiße können alles spielen?

Leider sieht die Realität an deutschen Theatern derzeit so aus: Weiße spielen Rollen, die a) hinsichtlich der Hautfarbe nicht näher definiert sind, die b) ausdrücklich als weiß beschrieben sind und die c) ausdrücklich als schwarz beschrieben sind. Dies geschieht a) ohne jede Begründung b) mit der Begründung des naturalistischen bzw. historischen Korrektheit c) mit der Begründung der künstlerischen Freiheit bzw. einer gewünschten Verfremdung. Wird diese Besetzungspraxis als rassistisch bezeichnet, wird das selbstverständlich abgestritten mit der Begründung, dass es a) ausschließlich darum ginge, wer der beste Schauspieler ist (Fazit: Schwarze sind IMMER die schlechteren Schauspieler, selbst wenn es darum geht, dass sie sich selber darstellen) b) man keine schwarzen Schauspieler gefunden hätte (Fazit: es gibt keine schwarzen Schauspieler in Deutschland bzw. so wenige, dass man unsagbare Mühen auf sich nehmen muss um sie zu finden), c) es an den Ensembles keine schwarzen Schauspieler gibt und das Geld fehlt, um sie als Gäste einzustellen, d) es an den Ensembles keine schwarzen Schauspieler gibt, weil es zu wenig Rollen für sie gibt – wobei natürlich, theoretisch, jeder alles spielen können sollte und darf!, e) es rassistisch wäre, wenn Weiße, nur weil sie weiß sind, keine Schwarzen spielen dürften, f) es ebenso rassistisch wäre, ausschließlich Schwarze für als schwarz bezeichnete Rollen zu besetzen, weil man sie dadurch wiederum auf ihre Hautfarbe reduzieren würde, was aber gleichzeitig der Grund ist, warum sie für alle anderen Rollen auch nicht in Frage kommen, was jedoch nicht rassistisch ist, weil es nun mal nicht so viele Rollen für Schwarze gibt, weil sie schwarz sind. Ergebnis: Weiße können alles spielen, Schwarze nicht mal "sich selbst".
 
Institutioneller Rassismus gegen People of Color

Natürlich bekommen auch weiße Schauspieler_innen aufgrund äußerer Kriterien keine Rollen – zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu jung, zu alt oder schlichtweg nicht der Typ. Das Theater sortiert gnadenlos aus, nach Kriterien, die immer dann diskriminierend werden, wenn sie Schauspieler_innen auf reine Äußerlichkeiten reduzieren und einen bestimmten Typ gegenüber anderen systematisch bevorzugen. Jeder, der sich auf diesen Beruf einlässt, muss jedoch damit rechnen, über den Typ definiert zu werden, den Theatermacher_innen in ihm sehen.
 
Nun ist Schwarz-Sein aber kein Typ, kein Rollenfach, genauso wenig wie Weiß-Sein. Es ist eine Hautfarbe, die in manchen Stücken genutzt wird, um eine bestimmte Bedeutung zu generieren. Im Falle der schwarzen Haut ist es jedoch immer dieselbe, eindimensionale Bedeutung, die fast nie erwünscht ist, außer es soll Exotik oder Fremdheit generiert werden. Die Bedeutung weißer Haut hingegen ist neutral bzw. so mannigfaltig wie die Welt selbst. Auch gibt es keine systematische und tief in der Gesellschaft verankerte Diskriminierungsform, die sich ausschließlich auf Weiße bezieht. Sexismus, Homophobie oder Benachteiligung aufgrund einer körperlichen Konstitution (Gewicht, Größe) oder Einschränkung, trifft PoC genauso wie Weiße. Institutioneller Rassismus in Deutschland hingegen richtet sich ausschließlich gegen PoC. Das heißt, selbst wenn ein Schwarzer von Körperbau und Typ her dem Rollenprofil des "jugendlichen Liebhabers" entspricht, wird dies überlagert von der Bedeutung, welche die Mehrheitsgesellschaft seiner Hautfarbe zuschreibt. Also kann er, selbst wenn er alle anderen Kriterien erfüllt, nicht besetzt werden, da Theatermacher_innen und -rezipient_innen nicht den Liebhaber, sondern immer in erster Linie den Schwarzen in ihm sehen (wollen). Fortwährend würde also die Frage im Raum stehen: "Ich verstehe ja, dass der Romeo verliebt ist – aber warum ist er schwarz?"
 
Warum nicht gleich so
 
Selbst da, wo ein Regisseur einfach nur das Naheliegende tut und vom Autor ausdrücklich als "weiß" oder "schwarz" beschriebene Rollen auch entsprechend besetzt, muss er sich rechtfertigen. Selbstverständlich nur für die schwarzen Darsteller_innen.
 
So erging es Matthias Fontheim, Intendant des Staatstheaters Mainz und Regisseur der deutschen Uraufführung des Stückes "Die Unerhörten" von Bruce Norris. Fontheim hatte sich dafür entschieden, Weiße von Weißen und Schwarze von Schwarzen verkörpern zu lassen. Nicht, um einen vermeintlichen Realismus zu bedienen und dem Publikum authentische Afrikaner_innen zu präsentieren (alle fünf schwarzen Schauspieler_innen sind übrigens Deutsche). Auch nicht, um schwarze Darsteller_innen wieder einmal zum Sinnbild des Fremden zu machen, sondern im Gegenteil: Er wollte Schwarze wie Weiße in diesem Stück als Abbild unser aller Selbst zeigen. Schwarze sind in "Die Unerhörten" eben nicht die guten, armen, bemitleidenswerten Gebeutelten der Geschichte. Sondern sie sind genauso hilfebedürftig, böse, gut und korrupt wie die weißen Figuren. Gleichzeitig verleugnet Bruce Norris in seinem Stück aber niemals den Rassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen und stellt damit die Situation zwischen Afrika und der westlichen Welt genau so dar, wie sie ist: widersprüchlich. Ob die schwarzen Darsteller_innen wirklich Afrikaner_innen und die weißen Darsteller_innen wirklich Amerikaner_innen sind, ist dabei vollkommen irrelevant; dass sie schwarz bzw. weiß sind, allerdings nicht. Denn so wird verdeutlicht: egal ob schwarz oder weiß, es geht um den Missbrauch von Macht und den Wert eines menschlichen Lebens.
 
Möglichkeiten und Wirklichkeiten der kritischen Reflexion

Nun hatte der Kritikerin Shirin Sojitrawalla die Mainzer Inszenierung nicht gefallen. Legitim. Aber anstatt sich auf Kritik an der Inszenierung oder den schauspielerischen Leistungen zu beschränken, kritisierte sie Fontheims Besetzungsentscheidung und zwar nach Kriterien der Hautfarbe (nein, das ist nicht dasselbe, was Blackfacing Gegner taten, denn sie kritisierten die rassistische Darstellungsform). Interessanterweise tat Frau Sojitrawalla dies aber ausschließlich hinsichtlich der schwarzen Darsteller_innen. Genauso gut hätte sie Fontheim vorwerfen können, dass selbst die Besetzung der weißen Rollen mit Weißen nichts gegen die, ihrer Meinung nach, in der Inszenierung vorherrschende Künstlichkeit auszurichten vermochte. Tat sie aber nicht. Sondern sprach ausschließlich darüber, dass die schwarzen Darsteller_innen dem einzigen Sinn, den sie ihnen in dieser Inszenierung zugestand – nämlich Authentizität zu generieren – nicht gerecht wurden und somit auch durch Weiße hätten ersetzt werden können.
 
Wir sind uns wohl alle einig sind, dass sich ein Deutscher nicht über seine Hautfarbe definiert, genauso wenig wie Amerikaner_innen, Afrikaner_innen oder ein Mensch an sich. Deshalb sollte nicht nur dann gegen eine "biologistische" Besetzung und die "Realismusfalle" protestiert werden, wenn es um die Privilegien Weißer geht. Dann bitte konsequent. Dann bitte auch mal eine Kritik mit dem Wortlaut: "Inszenierung xy war misslungen, daran konnten auch die weißen Darsteller_innen nichts ändern. Hätte man also auch gleich schwarze Darsteller_innen nehmen können."

 

 

Artikel erschienen auf Nachtkritik.

Bild entfernt.

Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, Sängerin, Autorin und künstlerische Leitung des Afrodeutschen Schauspielensembles "Label Noir".

 

ÜBERBLICK

THEMA Theater und Diskriminierung
Der Themenschwerpunkt widmet sich den Debatten um rassistische Aufführungspraxen auf Bühnen, Diskriminierungen im Kulturbetrieb, Vielfalt im Theater und den Möglichkeiten eines postmigrantisches Theaters. (weiter)

Über die Autorin
(weiter)