Ich bin mehr als meine Hautfarbe! Vom Bedürfnis, nicht auf etwas reduziert zu werden

 

von Abini Zöllner

Jeder Mensch ist die Summe seiner Erfahrungen. Und jeder Mensch muss seine Erfahrungen selbst machen. Ich wollte immer glatte Haare haben und grüne Augen. Mir wurde gesagt, ich würde dann „meine Identität verleugnen “. War das eine Warnung? Ich fühlte mich herausgefordert, kaufte mir grüne Kontaktlinsen und ging zum Friseur. Es war eine gute Erfahrung, trotz aller Veränderung dieselbe zu sein. Ich will neugierig bleiben, mich irren dürfen, weiter ermitteln – und alles meinen Erfahrungen hinzuaddieren.

Wie viele Menschen habe ich den Wunsch, ein unheimlich kompliziertes Wesen zu sein: nicht bequem durchschaubar, nicht trivial, nicht angestorben. Ich möchte mich und andere gern überraschen: mit meinem Wesen, meinen Entscheidungen, meinem Tun. Das ist ein Teil meiner Persönlichkeit.

„Ich bin ein anderer“ hieß die Kolumne, in der ich mal die Identitätsfindung schilderte. Es ging darum, wer man eigentlich war. Um Erklärungsversuche anderer und um Selbstwahrnehmung. Kurz nach der Veröffentlichung rief mich ein Verleger an und schlug mir vor, ein Buch zu schreiben. Es war eine einmalige Gelegenheit, mein Bewusstsein zu schärfen.

"...Vor allem aber ist sie Mutter zweier Kinder und ewige Tochter ihrer Mamel. Im Jahr 2003 erschien ihr Buch 'Schokoladenkind' beim Rowohlt Verlag."

„Der Anteil vom Himmel...“

Der Untertitel war sofort klar: „Meine Familie und andere Wunder.“ Das Buch hätte ich gern „Der Anteil vom Himmel“ genannt – das ist die Übersetzung des Namens Abini. Jedoch war das kein verkaufsförderndes Schlagwort. 90 000 Bücher erscheinen jährlich, da sollte ein Debüt am Markt evident auftreten. Man könnte auch sagen: einen Reflex bedienen. Oder etwa in eine Schublade passen? Jedenfalls habe ich über 250 Seiten gegen Verallgemeinerungen angeschrieben – und musste doch einsehen, das dies zwar ein Lebensentwurf sein mochte, aber kein Marketingkonzept. So entstand das „Schokoladenkind“.

Schokoladenkind verband ich sinngemäß mit Schokoladenseite, Glückskind und Sonntagskind. Also eher mit Lebensgefühl als mit Hautfarbe. Meine Farbe wurde in meinem Leben ohnehin meist von anderen thematisiert – für mich war sie immer eine Selbstverständlichkeit. Mich beschäftigten noch andere Dinge: Ich wollte meiner Mutter eine Liebeserklärung schreiben, wollte von dem Land erzählen, in dem ich aufwuchs, von  tiefen Einsichten und flachen Behauptungen, von großen und kleinen Wundern.

Das Erstaunliche war, dass das Buch auch so verstanden wurde. „Schokoladenkind“ wird tatsächlich als Mutter-Tochter-Geschichte, als DDR-Geschichte, als Frauenbuch wahrgenommen. Als ein Stück „Genauigkeit und Distanz aus dem Alltag“, als Erinnerung daran „wo und wie wir mal gelebt haben“, als „Lust am Anderssein“, als „Wende-Geschichte ohne Larmoyanz“, als „Zeitzeugnis“, als etwas „das nicht in das Klischee des kleinbürgerlichen Alltags passt“. Das macht mich stolz, denn niemand versucht, mich zu verschlagworten. Und es zeigt mir: Ich bin mehr als meine Hautfarbe.

Seit ich ein kleines Mädchen war, spürte ich: Ich hatte nicht nur eine andere Farbe – ich musste mich auch oft zu ihr verhalten. Ich musste Antworten auf Fragen geben, die ich nicht gestellt hatte. Ich musste mich gegen Vorurteile wehren. Manchmal musste ich sogar erfahren, dass meine Hautfarbe als Provokation wahrgenommen wurde.
Es wäre einfach gewesen, allen Menschen pauschal Rassismus zu unterstellen.  „Zu einfach“, meinte meine Mutter, die großen Wert darauf legte, zu differenzieren: „In der Regel ist jeder Mensch eine Ausnahme“. Ich sollte nie glauben, alle zu kennen.

„Den Menschen etwas zutrauen...“

"Auf mich wartete eine gut behütete Kindheit: Mamel schützte mich davor, der Vernunft zum Opfer zu fallen, die DDR schützte mich davor, die Welt kennen zu lernen, Gott schützte meine Familie vor materiellem Wohlstand und mein Vater schützte mich vor dem Glauben, Reis dürfe nicht klumpen.“ 

Meine Mutter ist 1937 mit ihrer jüdischen Familie aus Berlin geflohen, 1950 kam sie zurück nach Deutschland – und fand Freunde. Menschen, die „nicht nur ihre Erfahrungen gemacht haben, sondern ihre Erfahrungen auch anwenden konnten“. Sie hätte es verhängnisvoll gefunden, selber Vorurteile zu hegen. Sie traute den Menschen was zu.
Und sie hatte etwas gegen Schubladen: Weil sich dort das Wahrhaftige  kleinmachen, anpassen und einrichten sollte. Weil sich dort nur Klischees verstauen, Irrtümer unterbringen und Widersprüche verbergen ließen. Deshalb achtete meine Mutter darauf, dass jede Schublade, in die ich gesteckt werden sollte, sofort klemmte. Das hat mein Leben geprägt. Bis heute schaudert es mir bei dem Gedanken, jemanden aus einer Schublade heraus bedienen zu sollen. Ich lebe nicht den Entwurf anderer, mein Leben gehört mir. Ich muss mein Dasein nicht rechtfertigen. Und deshalb lasse ich mich auch nicht auf meine Hautfarbe reduzieren – nur, weil andere dies tun.

So kann ich nie den Erwartungen einer Community entsprechen, egal ob weiß oder schwarz. Treffe ich andere Schwarze, empfinde ich einen positiven Impuls und spontane Sympathie – aber nicht automatisch ein Signal unmittelbarer Zusammengehörigkeit. Welche Gedanken, welche Haltungen, welche Absichten prägen den anderen? Ist sein Urteil entschlossen oder nur radikal? Tritt er Dingen aus Prinzip oder aus Überzeugung entgegen? Argumentiert er kategorisch oder leidenschaftlich? Wendet er sich an meinen Verstand oder an meinen Instinkt? Die Antworten darauf sind mein Maßstab. Für mich ist Hautfarbe kein Motiv, mich eingemeinden zu lassen. Dies ist ein Privileg meiner Sozialisation.

"Ich war ein Gemisch, halb jüdisch, halb Yoruba, und es war bereits mehr als ein Jahr vergangen, ohne dass ich den Segen irgendeines Gottes erhielt. Dann endlich entschieden sich meine Eltern, und ich wurde getauft. Protestantisch"

Dass man sich den entspannten Umgang mit seiner Hautfarbe erarbeiten – ja manchmal sogar leisten können – muss, das ist fatal. Ohne Zweifel hängt in unserer Gesellschaft die Selbstwerdung des Einzelnen von den Umständen ab: So gibt es lokale Unterschiede (zwischen Stadt und Land), geschlechtsspezifische (zwischen Mann und Frau), familiäre oder soziale. Tatsächlich ist jedes Individuum die Summe eigener Erfahrungen.

Meine Hautfarbe macht mich stolz, ich wollte keine Sekunde eine andere haben. Aber ich möchte eben nicht nur darüber definiert werden. Meine Hautfarbe ist ein Kompliment, dass ich meinen Eltern zu verdanken habe. Sie ist keine rassistische Falle, sondern eine Offenbarung. Keine gefühlte Identität, sondern ehrliches Bewusstsein. Meine Hautfarbe ist keine Einschränkung, sondern Reichtum.

 „Schokoladenkind“ landete auf den Bestsellerlisten, aber in keiner Schublade. Ich bin eben auch Berlinerin, Deutsche, Europäerin, Mutter, Tochter, Frau, Freundin, Falschparkerin. Jeder Mensch ist so vieles.

 

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Abini Zöllner, geboren 1967 in Berlin-Lichtenberg, nahm nach ihrer Friseurausbildung das Studium für Musikgeschichte auf, wurde 1990 Korrespondentin bei der "Jungen Welt" und arbeitet seit 1991 als Redakteurin im Feuilleton der "Berliner Zeitung".