Willkommen in der Isolation

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Textfassung des Audio-Beitrags

Elisabeth Ngari sitzt in einem Café in Berlin-Schöneberg. Die gebürtige Kenianerin floh 1996 nach Deutschland. Sie engagiert sich seit vielen Jahren für die Interessen und Rechte von geflüchteten Frauen. Wenn man sie auf den Begriff ‚Willkommenskultur’ anspricht, huscht ein müdes Lächeln über ihr Gesicht:

Elisabeth Ngari: „Jemanden willkommen zu heißen heißt nicht, jemandem einfach ein Bett und Essen zu geben. Es heißt auch zu zeigen, wie man sich selbstständig versorgen und wirklich in die Gesellschaft integrieren kann. Wie bekomme ich einen Job? Ich will die Sprache lernen oder etwas anderes ... ich denke, das wäre ein Willkommen. Aber ein Dach über dem Kopf und Essen zu haben, ist nicht genug.“

Das deutsche Asylsystem hat Elisabeth Ngari dazu gezwungen, jahrelang in Flüchtlingsheimen zu leben. In Häusern abseits größerer Orte oder Städte, mit vielen Menschen auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Hinzu kamen das Arbeitsverbot und die Residenzpflicht, also das Verbot sich frei in der Bundesrepublik zu bewegen. All das zwang sie zu einem untätigen und abhängigen Leben. Nach Jahren kam der Punkt, an dem ihr klar wurde, dass sie so nicht leben will. Sie fühlte sich sehr isoliert im Heim; gleichzeitig gab es Probleme mit Rechtsradikalen.

Elisabeth Ngari: „Das ist eigentlich der Grund, warum ich mich organisiert habe, an Protesten teilnahm. Es gab Menschen die zum Heim kamen, die versuchten uns zu helfen und uns die politische Situation zu erklären. Denn zu der Zeit hatten wir viele Probleme mit Rechten. Und es gab Leute, die sich gegen die Rechtsradikalen organisiert haben. Und sie kamen zu dem Heim, um mit uns zu sprechen.“

Zunächst hat Elisabeth Ngari sich mit anderen in der Brandenburger Flüchtlingsinitiative zusammengetan und versucht, Geflüchtete in den Heimen zu organisieren. Das war im Jahr 2000. Doch weil Frauen nochmal ganz anders unter den Regelungen des deutschen Asylrechts leiden, gründete sie gemeinsam mit anderen Frauen die Initiative „Women in Exile“. Sie engagiert sich politisch speziell für geflüchtete Frauen und Kinder, hilft bei Problemen und berät Frauen zu ihren Rechten. Die Forderung nach der Abschaffung von Sammelunterkünften – ‚Women in Exile’ nennt sie Lager – ist zum zentralen Anliegen der Initiative geworden. Denn durch die Art der Unterbringung kommt es immer wieder zu Gewalt und sexueller Belästigung von Frauen.

Elisabeth Ngari: „Wir haben uns auf 'Keine Lager für Frauen. Schafft alle Lager ab!' konzentriert, weil wir realisiert haben, dass diese Isolation die Dinge wirklich schwierig macht. Und von den Interviews, die wir mit Frauen geführt haben, und durch die Broschüre, die wir herausgebracht haben, haben wir verstanden, dass wenn die Frauen nicht in den Heimen wären, könnten ihnen die meisten Dinge nicht passieren. Oder sie wüssten, wo sie hingehen könnten, wenn sie außerhalb der Heime leben würden. Wenn sie sich in die Gesellschaft integrieren, dann werden sie die Gesetze kennen und all das.“  

Elisabeth Ngari versucht nach wie vor, neue Netzwerke zu knüpfen. Um noch mehr Frauen im ganzen Bundesgebiet anzusprechen, beteiligte sich ‚Women in Exile’ in diesem Sommer an der bundesweiten Konzerttour des Musikers Heinz Ratz. Die Idee: durch Konzerte auf die Situation aufmerksam machen und durch Gespräche in Flüchtlingsunterkünften mit den Frauen dort in Kontakt kommen. Die Reise auf Flüssen, mit Flößen, sollte die verletzliche Position speziell von Frauen und Kindern symbolisieren. Und gleichzeitig daran erinnern, dass tagtäglich Menschen auf Booten über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, um Schutz zu suchen. Und dass dabei immer wieder Menschen sterben. 

Elisabeth Ngari sieht in den letzten 14 Jahren punktuelle Verbesserungen für Geflüchtete in Brandenburg, wo sie lebt und sich engagiert. Dort wurde, wie in vielen anderen Bundesländern auch, die Residenzpflicht gelockert. Auch das Gutscheinsystem ist dort vielerorts abgeschafft. Das sei auch ein Erfolg der langjährigen politischen Organisierung der Geflüchteten, meint sie. Aber nach wie vor müssen Geflüchtete in Sammelunterkünften leben, deswegen habe sich auch die Situation der Frauen nicht verbessert.

Seit zwei Jahren sind die Proteste von Geflüchteten in Deutschland lauter und sichtbarer geworden. Ein bundesweiter Protestmarsch, ein Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor in Berlin, die Besetzung des Kreuzberger Oranienplatzes und der Gerhard-Hauptmann-Schule sind einige Etappen. Elisabeth Ngari findet es wichtig, dass die politischen Themen öffentlich angesprochen werden. Nur so könne man Forderungen stellen und gegen diskriminierende Gesetze kämpfen. Sie kritisiert, dass Medien über die Aktionen eher wie über eine Sensation berichten. Die Kernanliegen der Refugee-Bewegung aber würden nur selten herausgebracht: die Forderung nach einem menschenwürdigen Leben und nach einem Ende der Diskriminierung und Ausgrenzung von Geflüchteten durch das deutsche Asylsystem.

Elisabeth Ngari: „Es ist genauso bei den Menschen auf dem Oranienplatz oder in der Schule. Sie wollen arbeiten ... Wenn sie arbeiten, bekommen sie Geld und sie können für ihre eigenen Wohnungen bezahlen. Es geht nicht darum, dass sie in der Schule bleiben wollen. Das ist nicht die Frage, sie wollen integriert sein, arbeiten, die Dinge tun, die sie tun wollen, und nicht das, was die Politiker für sie vorgesehen haben.“

Während die deutsche und europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik immer restriktiver wird, nehmen die Proteste von Geflüchteten zu. Vor kurzem gab es sogar einen europäischen Protestmarsch nach Brüssel. Wie Elisabeth Ngari haben sich auch andere Aktive nach Jahren der Isolation in Flüchtlingsheimen entschieden, politisch aktiv zu werden und für die eigenen Rechte zu kämpfen. Die europäischen Gesetze, Frontex, all das mache es schwieriger, überhaupt nach Europa zu kommen. Und wer es schafft, der soll gleich wieder abgeschoben werden. Ihre ausweglose Lage treibe die Geflüchteten zu immer radikaleren Formen des Protests, so Elisabeth Ngari: 

Elisabeth Ngari: „Ich denke, die Geflüchteten selbst haben realisiert, dass es wenig Möglichkeiten gibt. Wenn sie sich nicht selbst organisieren und für ihre Rechte kämpfen, werden sie nicht überleben oder in der Lage sein ihren Weg zu machen.“

Eine Stiftung, die früh die Selbstorganisierung von Geflüchteten unterstützt hat, ist die Amadeu Antonio Stiftung. Seit 1998 fördert sie Initiativen für demokratische Kultur und gegen Rechtsextremismus. Im Büro der Stiftung in Berlin-Mitte beobachtet das Team die Aktivitäten der rechten Szene, speziell auch beim Thema 'Flucht und Asyl'.  

Geschäftsführer Timo Reinfrank findet es gut, dass die Geflüchteten inzwischen selbst öffentlich für ihre Rechte kämpfen. Das deutsche Asylsystem setze nach wie vor auf Abschreckung. Die Unterbringung in Sammelunterkünften, das Arbeitsverbot, die in Europa einmalige Residenzpflicht, die Kontakt zu Freundeskreis und Familien verhindere, all das isoliere die Geflüchteten extrem und führe zu Verzweiflung:

Timo Reinfrank: „Das ist alles sehr, sehr dramatisch irgendwie und in der Situation, finde ich dann, wenn die Leute sich auch noch von der Politik und der Gesellschaft alleine gelassen fühlen und dazu diese rassistischen Übergriffe kommen, dann finde ich es ehrlich gesagt auch nicht verwunderlich, dass manche Leute über einen Suizid nachdenken, weil sie einfach nicht mehr wissen wohin.“

Der Selbstmord eines jungen Geflüchteten aus dem Iran in einem bayrischen Flüchtlingsheim hatte vor zwei Jahren bundesweite Proteste ausgelöst. Öffentlichkeitswirksame Aktionen haben die Proteste der Geflüchteten seitdem mehr und mehr in die Medien gebracht, auch die Besetzung des Kreuzberger Oranienplatzes. Doch ihre grundlegenden politischen Forderungen – wie die Abschaffung der Residenzpflicht, ein Ende Unterbringung in Sammelunterkünften, das Recht eine Ausbildung zu machen, zu studieren oder zu arbeiten – sind nicht oder nur zum Teil verwirklicht. Auch viele der Versprechen, die der Berliner Senat den Geflüchteten beim Verlassen des Oranienplatzes gab, wurden nicht eingehalten.

Als Anfang Juli 2014 die Polizei die Gerhard-Hauptmann-Schule umstellte und deren Räumung anstand, zogen sich einige Geflüchtete auf das Dach zurück und drohten mit Selbstmord. Zahlreiche Einzelpersonen initiierten damals einen öffentlichen Aufruf zur Solidarität mit den Geflüchteten, der von der Amadeu Antonio Stiftung unterstützt wurde. Darin heißt es: „Die Refugee-Bewegung der vergangenen beiden Jahre hat Deutschland mit praktischen Fragen von Menschenrechtspolitik konfrontiert. Der erste Paragraph des Grundgesetzes lautet: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.' Die Refugees erinnern an diesen Auftrag des Grundgesetzes, helfen also bei der Wahrung der politischen Interessen der Bundesrepublik. Sie erinnern daran, dass Menschenrechte immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden müssen.“

Timo Reinfrank findet, dass die Geflüchteten von der Politik in die Enge getrieben wurden und für sich keinen anderen Ausweg sahen. Die Forderung nach einem menschenwürdigen Leben, nach einem menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten, sei nicht beantwortet worden. Dabei gerate aus dem Blick, dass es um Grund- und Menschenrechte der Geflüchteten gehe:

Timo Reinfrank: „Es ist zum einen ein weitergehendes Problem, dass man bei Grund- und Menschenrechten immer an andere Staaten und Länder - an Südafrika, an Südostasien oder auch an Lateinamerika denkt - und dass diese klassische Dimension von Menschenrechten in Deutschland, dass sich die Leute da überhaupt nicht fragen, ob die hier jetzt erfüllt werden oder nicht. Das ist das eine, das zweite ist natürlich, dass man sich natürlich fragen muss, historisch, aus der Geschichte, der deutschen Geschichte, dass das Grundrecht auf Asyl natürlich verfassungsgarantiert ist. Und das ist massiv eingeschränkt worden und das ist nach wie vor ein vollkommen unbewältigter Konflikt.“ 

Der Änderung des Asylrechts ging Anfang der 90er Jahre eine massive Stimmungsmache gegen Geflüchtete voraus. Es kam zu Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Doch die führten nicht etwa zu Solidarität mit den Geflüchteten. 1993 wurde das Grundrecht auf Asyl deutlich eingeschränkt. Wer über einen sogenannten sicheren Drittstaat einreiste, sollte nun dort Asyl beantragen. Wer per Flugzeug kam, fiel unter das sogenannte Flughafenverfahren. Mit den Änderungen wurde auch darauf verwiesen, dass ein einheitliches europäisches Asylrecht zu schaffen sei. Seit 1993 ging die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland dann stark zurück. Die Zunahme bewaffneter Konflikte und Kriege weltweit führt in jüngster Zeit wieder zu steigenden Flüchtlingszahlen. 

Vor allem seit der letzten Bundestagswahl setzen rechte und rechtsextreme Gruppierungen das Thema 'Flucht und Asyl' ein, um gezielt Stimmung gegen Asylsuchende zu machen. Laut Verfassungsschutzbericht 2013 haben sich die Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte mit 58 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. In 2014 haben die Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl schon zahlreiche flüchtlingsfeindliche Aktionen und Angriffe gezählt: über 150 Demonstrationen und Kundgebungen vor Heimen. 34 Anschläge auf Flüchtlingsheime, davon knapp die Hälfte Brandanschläge. 18 tätliche Angriffe gegen Geflüchtete. 

Für bundesweite Aufmerksamkeit haben die Ereignisse rund um die neu eröffnete Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Hellersdorf vor rund einem Jahr gesorgt. Timo Reinfrank sieht hier eine klassische rechte Mobilisierungsstrategie. Die sogenannte Bürgerinitiative, die sich gegen das Heim formierte, war personell mit der rechten Szene verflochten. Sie konnte mit rassistischen Parolen relativ viele Menschen gewinnen und die Stimmung aufheizen. Dabei kamen besonders auch soziale Medien zum Einsatz. In Facebook-Gruppen wurde dazu aufgerufen, das Heim zu verhindern. Es gab Drohungen, Geflüchtete wurden abfotografiert und die Bilder mit rassistischen Sprüchen ins Netz gestellt. Diese Art von Alltagsterror sei eine neue Qualität gewesen.

Timo Reinfrank: „Da ist ein unglaublich großes rassistisches Mobilisierungspotenzial, das uns große Sorgen macht. Aber eben diese Situation im Alltag, das ist es, was kaum bemerkt wird. Und was uns mit am meisten Sorgen macht. Also dass gerade die Flüchtlingskinder, die zur Schule gehen, angepöbelt werden, angespuckt werden, dass die Lehrerinnen und Lehrer sich im Schulunterricht nicht angemessen auf die Situation einstellen und sie quasi dann in der Ecke stehen lassen. Das sind ganz andere Dimensionen und da muss man eigentlich nochmal viel mehr ran, weil das ist das, was man überhaupt nicht sieht.“

Unterstützung im Alltag, beim Ankommen in Deutschland – hier sieht Timo Reinfrank das größte Verdienst der Willkommensinitiativen, die sich bundesweit gebildet haben. Oft engagieren sich die Menschen freiwillig – sie geben Sprachkurse, helfen bei Behördengängen oder beim Schulbesuch der Kinder. Allerdings liege dieses Engagement oft bei Einzelpersonen, die auszubrennen drohten. Das zivilgesellschaftliche Engagement sei noch nicht in Politik und Verwaltung verankert. Dafür bräuchte es noch ein ganz anderes Selbstverständnis, ...

Timo Reinfrank: „ ... bis dazu eben zu Konzepten, dass es eben nicht dem Zufall überlassen bleibt, ob es Engagierte vor Ort gibt, die eben diese Willkommensinitiativen starten, sondern dass es einfach zum Selbstverständnis von Gemeinden, von Städten wird, Flüchtlinge aufzunehmen und sie eben auch als Bereicherung und Chance zu sehen, und auch eine Möglichkeit für Vielfalt und den Blick über den Tellerrand hinaus.“

Von einem solchen Leitbild ist die Asylpolitik auf Bundesebene derzeit weit entfernt. Soeben wurden Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzigowina zu sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt. Unter den Schutzsuchenden aus diesen Ländern sind viele Roma. Timo Reinfrank warnt davor, Gruppen von Geflüchteten gegeneinander auszuspielen. So wie unlängst Volker Kauder, CDU, im ARD-Morgenmagazin sagte, „es müsse Platz geschaffen werden in unserem Land für die Menschen, die wirklich in Not sind“. Eine solche Argumentation sei sehr gefährlich und unterstelle, dass Asylsuchende Roma nicht aus gutem Grund einen Asylantrag stellen. Man fühlt sich an das Schlagwort vom sogenannten „Asylmissbrauch“ erinnert, das Anfang der 90er Jahre politisch eingesetzt wurde. Und das eine Stimmung erzeugte, in der es zu Angriffen gegen Flüchtlingsheime kam. Wenn Timo Reinfrank die Situation vor zwanzig Jahren mit der heutigen vergleicht, sieht er dennoch einige Unterschiede:

Timo Reinfrank: „Es gibt einerseits da ganz viel zivilgesellschaftliches Engagement, was so damals nicht war. Ich würde aber auch sagen, es gibt eben über die Jahre hinweg eine sehr viel sachlichere Debatte darum. Ich finde auch, dazu haben die Medien sehr viel beigetragen Anfang der 90er Jahre, dass es diese Welle des Rassismus gab. Und dass überhaupt keine Möglichkeit war, Empathie aufzubauen. Und das, finde ich, ist jetzt sehr viel differenzierter. Es gibt auch sehr viel mehr verantwortliche Kommunalpolitiker wie auch zivilgesellschaftliche Akteure, die da sofort geschaltet haben, sich erinnert haben, was in den 90er Jahren war und gesagt haben: das müssen wir auf jeden Fall verhindern, dass es wieder dazu kommt.“

Stephan Jung und Luisa Seydel sind zu jung, um sich noch selbst an die Angriffe von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda zu erinnern. Doch als im letzten Jahr die neue Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Hellersdorf eröffnen werden sollte, kam es zu rassistischer Hetze gegen Geflüchtete und das geplante Heim. Und die beiden haben sofort geschaltet. Gemeinsam mit anderen haben sie nicht nur versucht, in sozialen Netzwerken mit sachlichen Informationen gegen die rassistische Stimmungsmache zu argumentieren. Sie wollten auch ganz praktisch im Alltag unterstützen und gründeten das Netzwerk „Hellersdorf hilft“. Aus dem Impuls, Hilfe zu leisten, erwuchs dann aber bald auch ein politisches Bewusstsein:

Luisa Seydel: „Das war bei uns eine ganz interessante Entwicklung, weil viele von uns mit dem Thema Flucht und Asyl vorher gar nichts zu tun hatten und gedacht haben, das ist unmöglich, wie hier gegen die Flüchtlinge gehetzt wird - haben dann angefangen sich zu engagieren und in diesem Engagement erst mitbekommen, wie die Lebensrealität für Geflüchtete eigentlich ist hier in Berlin und auch in Deutschland – und dann erst angefangen, dieses System zu kritisieren.“

‚Dieses System’ - damit ist das deutsche Asylsystem gemeint. „Hellersdorf hilft“ kritisiert den Umgang mit Asylsuchenden in Deutschland – die Residenzpflicht, das Arbeitsverbot und die Unterbringung in Heimen. Die rund zwanzig Engagierten wollen mit kleinen Schritten im Alltag eine lokale Willkommenskultur aufbauen und ein Zeichen setzen gegen verbreitete Vorurteile und rechte Hetze.

Fast genau ein Jahr, nachdem in einer ehemaligen Hellersdorfer Schule Geflüchtete untergebracht wurden, sitzen Stephan Jung und Luisa Seydel jetzt in den frisch eröffneten Räumen der Begegnungsstätte „Laloka“. Wenige Gehminuten vom Flüchtlingsheim entfernt, können hier zukünftig „Menschen mit und ohne Fluchterfahrung“ zusammenkommen, wie es in einem Infoblatt heißt. Es sollte ganz bewusst ein Ort außerhalb des Heims sein, unabhängig von den Heimbetreibern und nicht isoliert, sondern offen für alle. Die Räume sind noch weitgehend kahl, weil sie gemeinsam gestaltet werden sollen. Zur Eröffnung kamen die Bezirksbürgermeisterin, die Integrationsbeauftragte, auch die Linken-Politikerin Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Stephan Jung und Luisa Seydel fühlen sich durch den Bezirk unterstützt. Das sei umso wichtiger, als sich die Lage in Hellersdorf seit Jahresbeginn nochmal deutlich verschärft hat:

Luisa Seydel: „Wir machen uns natürlich große Sorgen über die Entwicklung, haben das hier im Bezirk auch aktiv mitbekommen, zu Jahresbeginn hat sich die Lage hier nochmal unheimlich radikalisiert. Es gab Bölleranschläge mehrfach auf die Unterkunft, es gab Hetzjagden auf Geflüchtete, wenn sie auf dem Weg nach Hause waren. Es gab Pöbeleien zunehmend vor der Unterkunft. Ich glaube um Pfingsten rum gab es eine spontan angemeldete Demonstration, wo den Leuten in der Unterkunft zugerufen wurde, die am Fenster standen: ‚Spring doch, Du Parasit, spring doch!’ Also es hat sich unheimlich dieses Jahr nochmal verschärft und wir haben uns auch große Sorgen gemacht, auch diese Begegnungsstätte hier zu eröffnen.“

Die Stimmungsmache richtet sich nicht nur gegen die Geflüchteten, sondern auch gegen die Aktiven bei „Hellersdorf hilft“. Auf das Büro wurde ein Bölleranschlag verübt, Luisa Seydels Foto mit Morddrohungen in sozialen Netzwerken gepostet. Eine Mitarbeiterin der Kirche vermutet, dass ihr Auto angezündet wurde, weil man sie beim Liefern einer Spende samt Auto-Kennzeichen fotografiert hat. Dennoch wollen sich die Aktiven nicht einschüchtern lassen. Sie hoffen, dass mit der neuen Begegnungsstätte ein Ort entsteht, wo sie Projekte umsetzen können. Denn im letzten Jahr haben sie Kontakt zu rund 400 Menschen gehabt, die sich gern für eine Willkommenskultur in Hellersdorf einsetzen wollen.

„Hellersdorf hilft“ hat auch Preise erhalten, unter anderem den „Preis Aktiv für Demokratie und Toleranz“. Stephan Jung möchte aber nicht, dass das Engagement anderer Willkommensinitiativen dadurch im Schatten steht.    

Stephan Jung: „Also die Formulierung auf der Website, dass wir den Preis stellvertretend entgegengenommen haben, liegt daran, dass wir – auch wenn das vielleicht etwas paradox klingt – das Glück hatten, sehr im Fokus der Öffentlichkeit letztes Jahr gestanden zu haben. Weil hier nun mal ein viel größerer Konflikt exemplarisch in Hellersdorf aufgeführt wurde. Deswegen stehen wir mehr in der Öffentlichkeit als andere Initiativen in ganz Deutschland, die ähnliche Arbeit machen. Und für die ist es genauso wichtig, dass deren Arbeit honoriert wird. Und deswegen wollten wir ein wenig darauf aufmerksam machen.“ 

Die Proteste von Geflüchteten sind lauter geworden. Lokale Willkommensinitiativen wie in Berlin-Hellersdorf machen für die Geflüchteten vor Ort einen Unterschied und setzen ein Zeichen gegen rechte und rassistische Stimmungsmache. Das ist also anders als Anfang der 90er Jahre.

Doch von einem einheitlichen europäischen Asylsystem, das Asylsuchenden wirklich Schutz und ein menschenwürdiges Leben bietet, sind Deutschland und Europa immer noch weit entfernt. Deutschland will an den Dublin-Verordnungen festhalten, die vorsehen, dass Asylsuchende ihren Antrag in dem EU-Land stellen müssen, in das sie zuerst einreisen. Die betroffenen Länder sind damit angesichts steigender Flüchtlingszahlen überfordert, die Bedingungen für Geflüchtete mehr als prekär. Auch wenn nur ein Bruchteil der Flüchtlinge weltweit überhaupt nach Europa kommt, ist die Politik auf Abschottung ausgelegt.

Darüber gerät zum einen der Schutzauftrag völlig ins Abseits. Im Abseits stehen aber auch die Menschen, die es überhaupt nach Europa und nach Deutschland schaffen. Das deutsche Asylsystem schließt sie weitgehend von gesellschaftlicher Teilhabe aus. Dies steht auch im Widerspruch zu dem, was Willkommensinitiativen wie „Hellersdorf hilft“ wollen – nämlich Menschen, die Schutz suchen, nicht zu isolieren, sondern ihnen einen Weg in die Gesellschaft zu ebnen. 

Luisa Seydel: „Es ist ja oft auch paradox, dass gerade auf lokaler Ebene und auf Landesebene sich die Politik oft schmückt mit den Willkommensinitiativen und die auch unterstützt, aber auf der anderen Seite das Asylrecht eben verschärft wird und die Lage für Flüchtlinge immer prekärer wird. Das ist eigentlich ein Paradoxon an sich, wir freuen uns natürlich über die Unterstützung, kritisieren aber auch, was auf Bundesebene und EU-Ebene an dem Recht, was für Flüchtlinge da ist und verändert wird, was dort gerade passiert.“

Wenn man Stephan Jung und Luisa Seydel danach fragt, wie für sie eine echte Willkommenskultur für Geflüchtete in Deutschland aussehen müsste, dann bekommt man eine einfache Antwort:

Stephan Jung: „Für mich ist es weitestgehend ‚Normalität’. Also dass man nicht immer so eine Zweiteilung aufmacht. Dass es nicht, zum Beispiel heißt, die Anwohner und die Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft. Das es einfach kein Thema ist. Sondern dass es einfach zum Alltag dazugehört, dass man in unserer Situation, dass wir ein wohlhabendes Land sind, Menschen aufnimmt und willkommen heißt, denen es nicht so gut geht.“

Luisa Seydel: „Genau, willkommen heißen auch, dass diese Solidarität auch in Normalität übergeht, dass es Alltag ist, Menschen zu helfen, wenn sie Hilfe brauchen. Dass es darüber einfach gar keine Diskussion mehr gibt.“