„Wir müssen in allen Bereichen vertreten sein, mitverhandeln und mitgestalten“

Interview

Awet Tesfaiesus ist die erste Schwarze Bundestagsabgeordnete Deutschlands. Als Rechtsanwältin engagiert sie sich seit Langem in der Flüchtlingsarbeit, für Chancengleichheit und Antidiskriminierung. Inwiefern Fragen zu Identität und Zugehörigkeit ihre politische Arbeit beeinflussen und was sich in den letzten 20 Jahren für die Schwarze Community in Deutschland verändert hat, erläutert sie im Interview mit Mehret Haile-Mariam.

Portrait von Awet Tesfaiesus, der ersten Schwarzen Bundestagsabgeordneten, die mit verschränkten Armen in die Kamera blickt; im Hintergrund ist das Gebäude des Bundestags zu sehen

Mehret Haile-Mariam: Liebe Awet, du bist 2021 als erste Schwarze Abgeordnete für die Partei Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag eingezogen. Was hat dich dazu bewegt, dich über deine Tätigkeit als Rechtsanwältin hinaus auch politisch zu engagieren?

Awet Tesfaiesus: Es gab in meinem Leben nie eine Zeit, in der ich mich nicht politisch engagiert habe. Meine Familie flüchtete aus Eritrea, weil sie aufgrund ihres politischen Engagements dort verfolgt wurde. Dieses Engagement haben sie in Deutschland nicht nur fortgeführt, sondern mich und meine Geschwister selbstverständlich mit eingebunden. Politik hat also schon immer eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Ich habe mich schon früh in der Flüchtlingsarbeit engagiert, beim Flüchtlingsrat und auch bei Pro Asyl e.V. Es gab für mich nie eine Trennung zwischen meinem Beruf und politischem Engagement, denn ich habe meine Tätigkeit als Rechtsanwältin immer auch als politisch verstanden.

Ich habe mich bewusst dazu entschieden, Jura zu studieren, weil ich im Bereich Migrationsrecht etwas bewirken und Menschen dazu ermutigen möchte, Druck aufzubauen. Vor allem auch dann, wenn ihre Perspektiven nicht ganz so aussichtsreich zu sein scheinen. Zu den Grünen bin ich dann gekommen, als die ersten Geflüchteten übers Mittelmeer kamen und ich an der Stelle gemerkt habe, dass man zusätzlich auch auf politischer Ebene aktiv werden muss. Gleichzeitig haben mir meine Erfahrungen als Anwältin deutlich gemacht, dass es nicht nur darum gehen darf, Geflüchteten rechtlichen Beistand zu leisten, sondern dass es vor allem politisches Engagement braucht. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschieden, Mitglied bei den Grünen zu werden. 

Es sind also die Themen Migration und Flucht, die dich in erster Linie politisiert haben?

Das war immer sehr unterschiedlich. Ich glaube, so wie man sich als Mensch entwickelt und wandelt, wandeln sich auch die Themen, die einen beschäftigen. Anfangs galt meine Aufmerksamkeit vor allem der Situation auf dem afrikanischen Kontinent und der politischen Situation in Eritrea. Grund dafür war auch die Erwartung innerhalb der Familie, dass wir eines Tages zurückkehren würden. Je länger wir aber in Deutschland lebten, umso mehr etablierten wir uns so wie viele andere hierzulande. Es kam also der Moment, in dem ich realisierte, dass ich nicht nur persönlich hier angekommen war, sondern, dass ich Menschen unterstützen möchte, die neu in Deutschland ankommen. Dann kam die nächste Etappe: Der Moment, in dem ich dieses Gefühl des Angekommenseins in Frage stellte. Ich habe gemerkt, dass die Debatten um Migration und Zugehörigkeit im Grunde uns alle betreffen, unabhängig davon, ob man in Deutschland geboren ist, oder erst vor kurzem hierhergekommen ist. Doch je weiter der Diskurs nach rechts rückte, umso mehr hatte ich das Bedürfnis, nicht nur Migrationspolitik zu machen, sondern auch die Themen Chancengleichheit und Antidiskriminierung voranzubringen.

Wie hast du deine Kandidatur und deinen Einzug in den Bundestag empfunden?

Meine Kandidatur war im Vergleich zu den Kandidaturen vieler anderer Kolleg*innen recht spontan und kurzfristig. Ich hatte gerade meine Kanzlei aufgebaut und begonnen, mich zu etablieren. Ich hatte nicht geplant, die Kanzlei zu verlassen, um eine politische Laufbahn einzuschlagen. Der Moment, der alles für mich veränderte, war der Anschlag in Hanau. Ich fühlte eine unglaubliche Betroffenheit, die ich mir bis heute nicht erklären kann, denn es gab für mich so viele Momente der Betroffenheit. Trotzdem war das der Moment, der mir bewusst machte, dass es so nicht weiter gehen kann. Dass sich etwas ändern muss. Ich wollte keine weiteren Mahnwachen mehr organisieren müssen, ich wollte für eine Gesellschaft kämpfen, in der es keine Anlässe mehr für so etwas gibt.

Ich habe auch mit der Überlegung gespielt, dass Land zu verlassen. Heute glaube ich, dass es unterschiedliche Formen von Verarbeitungsprozessen waren, die da einsetzten. Schlussendlich folgerte ich, dass ich mich dem Thema Antidiskriminierung voll und ganz widmen wollte. Ich wollte die Gewissheit haben, dass ich alles in meiner Macht stehende tue, um mich für Antidiskriminierung und Chancengleichheit einzusetzen. Auch wenn ich anfangs nicht an den Bundestag gedacht habe, bin ich nach langer Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass das deutsche Parlament der Ort ist, an dem wir am meisten bewirken können. So habe ich mich dazu entschlossen, mich auf die hessische Liste setzen zu lassen und zu kandidieren, obwohl ich keinen Wahlkreis hatte.

Das Attentat von Hanau ließ dich an einer Zukunft in Deutschland zweifeln. Dennoch hast du dich nicht nur dazu entschieden zu bleiben, sondern dich aktiv für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen. Was war ausschlaggebend für deine Entscheidung?

Sehr wichtig war die Realisierung, dass Rassismus ein globales gesamtgesellschaftliches Problem ist. Es gibt keine Orte, die frei von Rassismus sind. Es mag positiv klingen, wenn ich sage, dass ich mich nicht vertreiben lassen wollte - und das ist es auch -, aber ausschlaggebend war auch die Erkenntnis, dass es keine wirkliche Alternative gibt. 

Welchen Einfluss hat deine Biografie, insbesondere deine Fluchterfahrung, auf deine Tätigkeit als Rechtsanwältin und Politikerin? 

Der Umstand, dass ich meine ersten Lebensjahre in einem Land verbracht habe, in dem Schwarzsein die Norm ist, in dem ich mich mit Themen wie Diskriminierung oder Rassismus nicht beschäftigen musste, macht natürlich etwas mit mir. Es macht einen Unterschied, ob ich eine Normalität leben kann oder in Deutschland geboren werde. Ob ich im Kindergarten das einzige Schwarze Kind bin oder in einer ausschließlich weißen Familie aufwachse. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, wie es ist, nach Deutschland zu kommen und das, was mir meine Kultur mitgegeben hat, teilweise hinter mir zu lassen. Denn ich habe gemerkt, dass hier nun mal andere gesellschaftliche Normen herrschen.

Ich glaube, das hat mich vor allem gelehrt, dass gesellschaftliche Normen eine Art Verhandlungsmasse sind und nichts Absolutes. Diese Erkenntnis erlaubt es mir, unterschiedliche Perspektiven und Positionen anzuerkennen und Normen nicht als Selbstverständlichkeit zu erachten. Deshalb denke ich, dass meine individuellen Erfahrungen, mir die Möglichkeit gegeben haben, meinen eigenen Horizont zu erweitern. Vermeintlich politische oder auch gesellschaftliche Gegebenheiten in Frage zu stellen und anzuerkennen, dass es die „eine Wahrheit“ oder „die“ eine Art zu leben nicht gibt. Die Einsicht, dass es mehrere Wahrheiten gibt und wir diese als Gesellschaft aushandeln und auch manchmal aushalten müssen, war eine große Bereicherung für meine Arbeit.

Hattest du Vorbilder, die dich dazu bewegt haben, eine politische Laufbahn einzuschlagen?

Nein. Meine Entscheidung in die Kommunalpolitik zu gehen wurde von außen an mich herangetragen. Es waren Menschen in meinem Umfeld, die mir ans Herz legten, dass ich doch politisch aktiv werden solle. Ich selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, einfach aus dem Grund, dass es nicht Teil meiner Realität war. Ähnlich ging es mir mit der Kandidatur für den Bundestag. Diese politischen Räume waren keine Räume, die ich als meine angesehen habe. Ich sehe das bei vielen anderen politisch aktiven POCs. Wir engagieren uns häufig auf zivilgesellschaftlicher Ebene, sind Teil von Organisationen und Initiativen. Was wir häufig nicht in den Blick nehmen sind die Machtzentralen. Natürlich ist es eine größere Hürde solche politischen Räume für sich zu beanspruchen, einen vorderen Platz einzunehmen und aktiv die politischen Prozesse mitzugestalten, dennoch ist es wichtig. Und obwohl mir die Vorstellung anfangs recht befremdlich schien, habe ich mich dazu entschieden, es doch zu tun.

Die Black Lives Matter-Bewegung hat auch hierzulande Debatten über Anti-Schwarzen Rassismus und strukturelle Diskriminierung ausgelöst. Was kann die Politik tun, um diesen Themen mehr Sichtbarkeit zu geben?

Aktivismus und Politik müssen Hand in Hand gehen. Was die Schwarze Community in den letzten Jahrzehnten geschafft hat, darf nicht unterschätzt werden. Ohne die Community-Arbeit, die Aufmerksamkeit, das Bewusstsein für dieses Thema, welches heute da ist, wäre ich nicht hier. Vor 20 Jahren hätte uns niemand ernst genommen, hätten wir über Rassismus in der deutschen Gesellschaft gesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass ich – dass wir – etwas verändern können, eben weil ich den Vergleich zu meiner Jugend habe. Die Debatten, die wir heutzutage führen, sind andere als vor 30 Jahren. Wir haben Menschen, auf die wir blicken können – auf die vor allem junge Menschen blicken können.

Es gibt eine Vielzahl von Organisationen und Initiativen, die sich für Schwarze Menschen einsetzen und ihre Lebensrealitäten sichtbar machen. Es gibt heute ein grundlegendes Verständnis dafür, was Rassismus ist und dass es ein gesellschaftliches Problem ist. Natürlich stimmen dem nicht alle zu, dennoch, die, die es hören wollen, haben die Möglichkeit es zu hören und auch die Politik erkennt, dass sie dieses Thema platzieren muss. Dennoch glaube ich, dass wesentliche Schritte bisher noch nicht getan wurden, vor allem im Hinblick auf unser eurozentristisches Bildungssystem. Die Art, wie wir über Rassismus sprechen, die kolonialen Kontinuitäten, die noch immer unsere Gesellschaftsordnung bestimmen, die Ursprünge des Rassismus – all das wird noch immer nicht thematisiert. 

Als Juristin nehme ich natürlich auch die Gesetzgebung in den Blick und frage mich, welche Möglichkeiten von Rassismus betroffene Menschen haben, um sich gegen Diskriminierung zu wehren. Tatsächlich gibt es nicht viele Möglichkeiten dies zu tun. In dem Sinne gibt es sehr viele Hürden, die es noch zu überwinden gilt. Sprechen wir z.B. über die Wohnungspolitik, sprechen wir selten über Rassismus, obwohl er unsere Städteplanung und Stadtstruktur wesentlich beeinflusst. Ähnliches gilt für die Fragen, welche Bevölkerungsgruppen welche Schulen besuchen, oder welche Schulen mehr und welche weniger Migrant*innen haben. All das hat sehr viel mit Wohnungspolitik zu tun. Die Politik muss an verschiedenen Stellen ansetzen und das ist meines Erachtens bisher noch nicht ausreichend erfolgt. 

…weil Rassismus noch immer nicht als gesamtgesellschaftliches Problem verstanden wird?

Leider, nein. 

Hast du das Gefühl, dass sich die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten gebessert haben?

Teilweise ja, jedoch nicht, was den Rassismus betrifft, den sie erleben. Was sich gebessert hat, ist das Community Building. Heutzutage ist es möglich, eine Art Zuhause in der Schwarzen Community zu finden. Schwarze Menschen sind in den verschiedensten Bereichen aktiv und sichtbar. Sie sind, wenn auch noch immer unterrepräsentiert, Journalist*innen, Autor*innen und Wissenschaftler*innen. Vergleiche ich die heutige Situation mit meiner Jugend, dann wird deutlich, dass es damals keine Schwarzen Personen im Fernsehen gab, einfach niemanden. Die seltenen Fälle, in denen Schwarze Personen, in welchen Kontexten auch immer, im Fernsehen abgebildet wurden, zeigten sie als Afroamerikaner*innen oder Afrikaner*innen. Deutsche, die Schwarz waren, wurden nicht im Fernsehen, in den Medien oder im öffentlichen Raum abgebildet.

Ich freue mich darüber, dass wir jetzt eine Community haben, die andere Schwarze Menschen empowert und eine Plattform bietet, um sich mit Themen auseinanderzusetzen, die im gesamtgesellschaftlichen Diskurs noch immer nicht diskutiert werden. Es erlaubt individuelle Erfahrungen zu kollektivieren, kontextualisieren und zu begreifen, dass man mit seinen Erfahrungen nicht allein ist, dass es Menschen gibt, die diese Erfahrungen teilen. Gleichzeitig ist es wichtig, die Strukturen zu ändern. Strukturen, die dazu beitragen, dass Schwarze Menschen sowohl institutionell als auch strukturell benachteiligt werden, denn das ist meines Erachtens nach noch nicht ausreichend geschehen. 

Die Afrozensus Onlinebefragung belegt, dass strukturelle Diskriminierung und Anti-Schwarzer Rassismus auch den Alltag Schwarzer Menschen in Deutschland prägen. Was war für dich die größte Herausforderung auf dem Weg in die Politik? 

Das größte Hindernis ist die Internalisierung rassistischer Denkmuster. Als Schwarze Person, die in einem mehrheitlich weißen Land aufwächst, wächst man mit gewissen Bildern auf. Diese Bilder zu durchbrechen und zu dekonstruieren ist eine große Herausforderung. Genau aus diesem Grund konnte ich mir nie vorstellen, in die Politik zu gehen. Die Vorstellung, dass ich Politikerin werde, ob auf kommunaler oder Bundesebene, war für mich undenkbar – eine fremde Welt, in der ich mich als Schwarze Frau nicht sehen konnte. Ich konnte mir vorstellen, in welchen Räumen Schwarze Menschen sich bewegen und der Bundestag war definitiv nicht einer dieser Räume. Und das hat etwas mit Rassismus zu tun. Natürlich gibt es auch strukturelle und institutionalisierte Hürden, dennoch glaube ich, dass die größte Herausforderung darin liegt, internalisierte Rassismen zu erkennen, zu dekonstruieren und sich zu vergegenwärtigen, dass wir mehr Möglichkeiten haben, als wir es selbst für möglich halten.

Welche Rolle spielen deiner Erfahrung nach die Perspektiven Schwarzer Menschen in politischen Entscheidungen?

Die Erfahrungen Schwarzer Menschen wurden sehr lange nicht mitgedacht, da ihre Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung nicht anerkannt wurden. Auch wenn diese Themen in den letzten Jahren präsenter geworden sind, stehen wir erst am Anfang. Themen, die vor allem das Leben Schwarzer Menschen betreffen, wie z.B. die Umbenennung von Straßennamen, werden nicht als unser aller Thema verstanden. Sie werden nicht als „deutsches“ Thema, sondern als „Schwarzes“ Thema gesehen, was in sich schon ein Teil des Problems darstellt. Wir müssen dorthin kommen, diese Themen gesamtgesellschaftlich zu denken. Diskussionen über Straßennamen, die z.B. einen NS-Hintergrund haben, gestalten sich von Grund auf anders. Es gibt einen Konsens darüber, dass wir uns an solchen Straßennamen stören und obwohl ich nicht in Deutschland geboren bin, verstehe ich es als Teil meiner Identität. Genauso wie wir völlig zu Recht die NS-Vergangenheit der Bundesrepublik ächten, müssen wir koloniale Strukturen und alles, was damit einhergeht, verurteilen.  

Was sind die größten Herausforderungen, die es zu überwinden gilt, um Schwarzen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsprozessen zu ermöglichen?

Ich glaube jetzt, wo wir die Hürde des Community Buildings einigermaßen überwunden haben, zumindest in den urbanen Räumen, müssen wir die politischen Machtzentralen in den Blick nehmen. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft – wir müssen in allen Bereichen vertreten sein, mitverhandeln und mitgestalten. Das, was jetzt passiert, ist unheimlich wichtig. Ich möchte die Menschen dazu ermutigen, Machtstrukturen zu hinterfragen und sich die Frage zu stellen, wie wir diese verändern können. Wir sind sehr gut darin, Workshops zu geben und uns ausbluten zu lassen. Ich merke das immer wieder, auch in unserer regionalen ISD-Gruppe. Wir werden immer wieder angefragt zu allem möglichen, wenn es aber darum geht, wirklich mitzugestalten, sitzen wir nicht mit am Tisch. Es braucht Menschen, die Rassismuserfahrungen machen und in den entscheidenden Positionen sitzen, um Veränderungen zu bewirken, sei es in der freien Wirtschaft, in den Behörden oder in der Politik.


Dieser Beitrag ist Teil eines bald erscheinenden Dossiers zum Thema Schwarze Community in Deutschland, das von Mehret Haile-Mariam kuratiert wird.