von Serhat Karakayalı

Mit einigem Recht darf man heute fragen, wie es kommt „dass von links bis rechts Integration in aller Munde ist und geradezu als Heilmittel für Problemlagen aller Art heraufbeschworen wird?“ (Prodolliet 2006)

Ein Blick in den Nationalen Integrationsplan (NIP) der Bundesregierung macht dies deutlich: Integration steht hier für eine ganze Reihe gesellschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen, die bei der Sprachförderung beginnen und bis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses reichen, die Position von Frauen verbessern oder das „friedliche Zusammenleben“ sichern sollen. Klassisch sozialkritische Argumentationsfiguren, wie die, dass es „soziale Bedingungen und Barrieren“ (NIP, S. 13) gibt, die Integration verhindern, wechseln sich dabei ab mit solchen aus dem konservativeren Repertoire, wenn „Kultur eine wesentliche Grundlage unseres Zusammenlebens“ ist und unschwer zu erkennen ist, dass hier von „unserer“ Kultur die Rede ist (NIP, S. 19). Kompetenz in Sachen kultureller Vielfalt, so heißt es da zunächst, sei von „vielen noch zu erlernen“, dann aber ist wieder von der „kulturellen Integration“ der Zugewanderten die Rede. Man kann dieses Changieren als Ausdruck der verschiedenen migrations- und letztlich gesellschaftspolitischen Perspektiven deuten, die sich in den Text einschreiben und es ermöglichen, dass Integration „von links bis rechts“ als catch-all-phrase funktioniert.

Dies äußert sich keinesfalls nur in der Sprache und den Argumentationsweisen, sondern auch in den vorgeschlagenen Maßnahmen: Etwa die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse und der Zugang zu Bafög-Leistungen für die bisher davon Ausgeschlossenen einerseits und den Nachweis von Sprachkenntnissen für nachziehende Ehegatten (freilich nur für bestimmte Gruppen) andererseits. Die Kritik an der Nachzugsregelung findet im NIP durchaus Erwähnung, etwa dass es keine gesicherten Daten über Zwangsverheiratungen gibt (die man ja unter anderem so verhindern will) und dass in vielen Bundesländern Schutzeinrichtungen für Frauen fehlen. Dinge, die KritikerInnen des Zwangsheirats-Arguments nicht ganz zu unrecht davon sprechen lassen, dass hier ein Pseudo-Feminismus am Werk ist, dem es weniger um die spezifischen Probleme von (migrantischen) Frauen geht, als die Einwanderung einer bestimmten Gruppe zu verhindern.

All diese Maßnahmen werden in Zusammenarbeit mit verschiedenen MigrantInnen-Organisationen durchgeführt, die ihre bisherigen Anstrengungen nun unter dem Label des NIP führen, wovon die Formel vom „fortführen und ausbauen“ Zeugnis ablegt, die in den Kurztexten zu den jeweiligen Vereinen stets wieder kehrt.

Mit dem Integrationsplan wird also vor allem, so hat es den Anschein, die bestehende migrationspolitische Praxis unter neue Vorzeichen gestellt und strategisch gebündelt. Die Ambivalenz des Integrationsbegriffs zeigt sich dabei auch auf der Ebene der politischen Kooperation, die hier stets als „Dialog“ bezeichnet wird. Als die Türkische Gemeinde Deutschland (TGD) gegen die Nachzugsregelung protestierte und dem Integrationsgipfel fernzubleiben ankündigte, war die Aufregung groß. Die TGD hatte unter anderem kritisiert, dass das Gesetz – ganz dialogfrei – vor und außerhalb des Gipfels beschlossen wurde.

Vom Fließband aufs Gymnasium?

Einer der führenden Migrationssoziologen in Deutschland, Klaus Bade, hat den gegenwärtigen Trend als „nachholende Integration“ bezeichnet. In der Tat war die bisherige Einwanderungsgeschichte von einer anderen Politik gegenüber den MigrantInnen gekennzeichnet: Dies gilt für Gastarbeiterrekrutierung und die Zeit nach dem Anwerbestopp gleichermaßen, als deutsche Behörden versuchten, den Familiennachzug durch die Streichung des Kindergeldanspruchs zu sabotieren (vgl. Bojadzijev 2006).

Historisch hing die politisch gewollte Befristung des Aufenthalts mit der Rolle der Gastarbeiter im industriellen Produktionsprozess zusammen: Die Migranten funktionierten als eine Art Konjunkturpuffer und ermöglichten der deutschen Industrie eine Steigerung ihrer Kapazitäten ohne in Modernisierung zu investieren. Entscheidend aber war, dass sie es waren, die am Fließband standen. Die deutschen Kollegen profitierten von dem sogenannten „sozialen Fahrstuhl“ und stiegen auf in vorgesetzte Positionen. Nach Berechnungen von Heckmann konnten zwischen 1960 und 1970 circa 2,3 Millionen deutsche Beschäftigte von Arbeiter- in Angestelltenpositionen aufrücken (vgl. Heckmann 1981). Mit der Umstrukturierung bzw. dem Niedergang der Industrien, in denen Migranten maßgeblich beschäftigt waren, veränderte sich die soziale Lage dieser Menschen radikal, viele haben ihre Jobs verloren oder arbeiten in prekären, illegalen oder pseudo-selbständigen Beschäftigungsverhältnissen. Die „nachholende Integration“ zielt scheinbar darauf ab, die Folgen dieser Politik der so genannten Unterschichtung zu korrigieren. Hier zeigt sich die tieferliegende Ambivalenz des Integrationsbegriffs.

Ihm wohnt die Vorstellung inne, dass alle Menschen in einer Gesellschaft in gleichem Maße an „ihr“ partizipieren. Die Idee einer befriedeten Gesellschaft von Gleichen hatte ihre Hochzeit in den 1970er Jahren. Dass der Staat oder die Gesellschaft dafür Sorge tragen müsse, dass keine Gruppe ausgegrenzt wird, und dass hierfür auch Mittel bereitgestellt werden, diese Argumente sind jedoch spätestens seit Mitte der 1980er Jahre immer mehr obsolet geworden. An dessen Stelle ist eine Doktrin getreten, die individuelle Leistung betont. Wir sprechen vom Neoliberalismus. Die Gastarbeiter werden nicht mehr gebraucht am Fließband, ihre Kinder sollen aber das Gymnasium besuchen.

Das große Bildungskarussel

Bildung, so heißt es auch im NIP, sei der Schlüssel zur Integration. Ihr ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Ohne hier auf die einzelnen Elemente eingehen zu können, sei auf ein grundlegendes Paradox verwiesen, das bereits Pierre Bourdieu in seiner Kritik an der Bildungsreform nachgewiesen hat. Zwei Punkte kommen hier zusammen.

1. Obwohl durch die Bildungsreform in Frankreich bisher benachteiligte Bevölkerungsgruppen Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen erhalten haben und die Zahl entsprechender Zeugnisse sich erhöhte, wuchsen die Möglichkeiten, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden nicht. Bourdieu benutzt für diesen Zusammenhang den Begriff „Inflation der Bildungsabschlüsse“: Damit ist gemeint, dass die  ökonomisch und kulturell herrschenden Klassen das Interesse haben, den Eintritt in ihre Sphäre zu reglementieren. Sie  versuchen daher stets, demokratisierende Tendenzen mit einer Bewegung nach oben zu beantworten, etwa der Einführung neuer Kriterien und Standards. Die Bildungstitel sind zwar theoretisch an Leistung und nicht an Herkunft orientiert und stellen damit ein gleichsam „ur“bürgerliches Prinzip dar, gleichzeitig existiert seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters eine „Aristokratisierung der Bourgeoisie“ (Wallerstein 1986) als der Verbürgerlichung immanente gegenläufige Bewegung. In Wirklichkeit, so Bourdieu, entscheiden nicht die Bildungstitel als Ausweis für Leistung oder Intelligenz,, sondern vererbtes kulturelles Kapital der Familie, also Geschmack, Habitus, Stil etc.

2. Die Schule ist kein System zur Herstellung von Gleichheit, im Gegenteil. In der Schule manifestiert sich ein Widerspruch zwischen Auslese und Bildungsanspruch. Anstatt Bildung zu ermöglichen, verteilt die Schule Lebenschancen, in dem sie Lernresultate und Lerninteressen qualitativ ignoriert und stattdessen nach den durch sie selbst generierten Kriterien „Lernerfolg“ bzw. Misserfolg amtlich bescheinigt, welcher dann in der Regel die sozialen Positionen der SchülerInnen reproduziert.

Das gegenwärtige Bildungsparadox besteht darin, die Probleme von Armut und Ausgrenzung, und Arbeitslosigkeit auf die mangelnde Ausbildung der MigrantInnen zurückzuführen. An sie ergeht die Aufforderung sich bzw. ihre Kinder den Bildungseinrichtungen anzuvertrauen und dafür zu sorgen, dass die Kinder Bildungstitel erwerben. Das Problem ist aber, dass selbst eine angenommene Chancengleichheit ja nicht bedeutet, dass auch das Resultat von Bildung Gleichheit ist. In einer ausdifferenzierten, d.h. arbeitsteiligen Gesellschaft unter kapitalistischen Vorzeichen wird es stets Lohn- und Berufshierarchien geben – egal, wie gesellschaftlich notwendig eine bestimmte Tätigkeit nun ist – es wird also immer Bedarf an Menschen geben, die z.B. als Putzkräfte und Wachschutz arbeiten. Die Spannung die hierdurch entsteht, reicht zurück bis in die Schule und führt das bürgerliche Bildungsversprechen ad absurdum.

Von gefährlichen Migranten

Die Verbindung zwischen kultureller Integration und ökonomischer und sozialer Partizipation, die den gesamten NIP durchzieht, lässt die Vermutung zu, dass nicht Armut oder Ausgrenzung und nicht einmal Migration als Problem wahrgenommen werden. Im Kern geht es um Kultur. Kultur wird hier aber nicht als lebendige Verarbeitung von Lebenswirklichkeiten verstanden, sondern als etwas Statisches. Diese Vorstellung der Integration durch Kultur hat eine Vorgeschichte. Zu Beginn der kapitalistischen Industrialisierung wurden die Arbeiter als eine Gruppe verwahrloster Barbaren dargestellt, die man zum ordentlichen Leben erst erziehen muss. Die derart als „gefährliche Klassen“ gedachten Arbeiter bedrohten den Bestand der Gesellschaft als solcher, sie waren Quell von Krankheiten und Kriminalität und nicht zuletzt von Aufruhr:

 „Das materielle und geistige Elend (Alkohol und Drogen), körperliche und moralische Merkmale, Ungepflegtheit und sexuelle Zügellosigkeit, spezifische Krankheiten, die die Menschheit mit ‚Entartung’ bedrohen“ (Balibar, 252f.). Durch die soziale und politische Inkorporation der Arbeiter als Bürger im Verlaufe von hundert Jahren wurden die Merkmale der arbeitenden Klassen zunehmend auf die „Grenzen der Nationalität“ verlagert. Das war die Integration des 19. Jahrhunderts: Die Arbeiterklasse wird buchstäblich eingebürgert. Gefährlich sind jetzt nicht mehr – oder weniger – die Arbeiter als solche, sondern die „fremden“ Arbeiter.

Die Einbürgerung der nationalen Arbeiterklassen war eine Frage von Bildung, Erziehung und Disziplinierung – es ging um Verhaltensregierung. Aus den vermeintlich „verrohten“ Arbeitern sollten durch verschiedenste Sozialtechniken Arbeiter-Bürger geformt werden. Arbeitern musste beigebracht werden, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, den Montag nicht „blau“ zu machen, einen „ordentlichen“ Haushalt zu führen.

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, weshalb Begriffe wie Parallelgesellschaft in die Irre führen: Das Paradebeispiel für eine „Parallelgesellschaft“ sind in Deutschland nicht türkische oder arabische MigrantInnen, sondern die mehreren tausend Japaner, die in Düsseldorf die größte japanische „Kolonie“ Europas bilden und dort über eine eigene soziale und ökonomische Infrastruktur verfügen (Geschäfte, Lokale, Schulen, Vereine, etc). Die MigrantInnen um die es in der Integrationsdebatte geht, sind ein Problem, gerade weil sie nicht erkennbar draußen sind. Die Integrationsfrage handelt also von sozialer Devianz und Lebensführung. Problematisch ist das Integrationsprojekt dort, wo es uns glauben machen will, die vermeintliche Kultur der Eingewanderten sei für ihre Misere verantwortlich, während die als homogen apostrophierte „hiesige“ Kultur das pure Glücksversprechen repräsentiert. Vergessen wir nicht, dass es die MigrantInnen und all jene waren, die sich mit ihnen solidarisierten, die seit den frühen 1970er Jahren für Partizipation und Gleichberechtigung gestritten haben. Sei es in den vielen Streiks für gleiche Löhne, gegen die Streichung des Kindergelds für im Heimatland gebliebene Kinder, gegen hohe Mieten oder gegen die Rückführungskampagne der Regierung Kohl. Die „deutsche Kultur“ haben sie nicht nur mit Olivenöl und Feta bereichert.

November 2007

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Serhat Karakayali ist Soziologe und hat mit einer Dissertation zur Geschichte der illegalen Migration in die Bundesrepublik promoviert. Zur Zeit kuratiert er eine Ausstellung zur kolonialen Moderne im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.