„Brain Waste“: Die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen in Deutschland

von Martina Müller

Der fortschreitende Fachkräftemangel und die bevorstehenden demographischen Veränderungen sind zentrale Herausforderungen für die europäischen Staaten. Um den Bedarf der Volkswirtschaften an Arbeitskräften zukünftig decken zu können, verschärft sich zwangsläufig der Wettbewerb um qualifizierte Zuwanderer.

Zur Situation
Bei den Diskussionen um die Anwerbung von ausländischen Fachkräften bleibt zumeist unberücksichtigt, dass bereits Migranten in Deutschland leben, die über Qualifikationen verfügen. Fehlende Anerkennungsmöglichkeiten und berufliche Integrationsprogramme führen dazu, dass diese oftmals von Arbeitslosigkeit betroffen oder weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt sind. Eine weitere Ursache für diese Verschwendung von vorhandenem Humankapital ist die Tatsache, dass ausländische Abschlüsse in Deutschland oftmals nicht die entsprechende Wertschätzung erfahren. In der Konsequenz arbeiten längst gesuchte Fachkräfte wie z.B. Ingenieure als Hausmeister.

Wissenschaftliche Studie „Brain Waste“
Die Zielsetzung der Studie „Brain Waste“ bestand darin, die Anerkennungspraxis in Deutschland erstmalig umfassend zu analysieren und basierend auf den gewonnenen Erkenntnissen Handlungsempfehlungen für eine zukünftig verbesserte Anerkennung zu entwickeln.
Erarbeitet wurde die Studie durch das EQUAL-Projekt „Global Competences“, angesiedelt beim Träger Tür an Tür Integrationsprojekte gGmbH, der in der Flüchtlings- und Migrationsarbeit aktiv ist und innovative Instrumente für die Qualifizierung und Integration von Migranten.

Am Anfang stand die Analyse der geltenden Rechtsgrundlagen. Neben EU-Richtlinien und Bundesgesetzen ist auch eine Vielzahl an Ländergesetzen zu berücksichtigen. Während z.B. Dänemark über ein Anerkennungsgesetz verfügt, versucht Deutschland die Regelungen zur Anerkennung von ausländischen Qualifikationen in vielen unterschiedlichen Gesetzen zu handhaben. Entstanden ist auf diese Weise ein für alle Beteiligten kaum mehr durchschaubares rechtliches Labyrinth.

Das Kernstück der Studie bilden zwei empirische Untersuchungen. Da in Deutschland die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen nicht wie in anderen Ländern primär als Integrations-, sondern als Bildungsthema aufgefasst wird, sind die Bundesländer für die Durchführung der Verfahren zuständig. Deshalb mussten für die Befragung von Mitarbeitern in Anerkennungsstellen Zuständigkeiten nach Berufen und Bundesländern recherchiert werden. Da es sich bei der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen um ein in Deutschland noch weitgehend unerforschtes Gebiet handelt, fiel die Entscheidung für ein überwiegend qualitatives Vorgehen bei Datenerhebung und -auswertung. Von 388 angefragten Experten beteiligten sich 230 im Zeitraum von Januar bis September 2007. Wahlweise standen zwei Befragungsinstrumente zur Verfügung. Dabei entschieden sich 66 Befragungsteilnehmer für die Durchführung eines qualitativen problemzentrierten Interviews und 164 für die Beantwortung eines teil-standardisierten Fragebogens. Neben der Beschreibung der Anerkennungspraxis war das Ziel dieser empirischen Untersuchung die Nutzbarmachung des teilweise über Jahrzehnte gesammelten Erfahrungswissens der Experten, um spezifische Probleme und Verbesserungspotentiale zu identifizieren.

Um die Situation der Anerkennung ausländischer Qualifikationen differenziert beschreiben zu können, wurden Migranten, die bereits über Anerkennungserfahrungen in Deutschland verfügten, mittels eines weitgehend standardisierten Fragebogens, in der Zeitspanne von November 2006 bis Oktober 2007, befragt. Hier beteiligten sich 152 Personen. Diese Vorgehensweise diente dem Ziel, generalisierende Aussagen zur Gruppe der Antragsteller und zu Ergebnissen von Anerkennungsverfahren zu gewinnen.

Möglichkeiten und Grenzen der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen
Anerkennungsmöglichkeiten hängen in Deutschland zum einen von verschiedenen Anerkennungsarten und -bereichen ab und zum anderen von der jeweiligen Zugehörigkeit des Antragstellers zu einer bestimmten Migrantengruppe. Zu unterscheiden sind dabei EU-Bürger, Spätaussiedler und Drittstaatsangehörige.

Nur im Bereich der Akademischen Anerkennung, d.h. wenn es um die Anerkennung von schulischen Abschlüssen oder von Studienleistungen zum Zwecke eines Weiterstudiums geht, ist ein Anerkennungsverfahren für Bewerber aller Nationen möglich. Dient die Anerkennung dem Zugang zum Arbeitsmarkt, wird von Beruflicher Anerkennung gesprochen. Hier gibt es nur für Spätaussiedler die Möglichkeit, für alle beruflichen Abschlüsse einen Antrag zu stellen. Die Basis dafür ist das Bundesvertriebenengesetz.

Im Bereich der reglementierten Berufe (z.B. Arzt, Lehrer, Ingenieur) gelten EU-Richtlinien, wodurch bei diesen Berufen EU-Bürger gegenüber Spätaussiedlern und Drittstaatsangehörigen privilegiert sind. Sollten Ausbildungsinhalte im Vergleich mit einem entsprechenden deutschen Beruf differieren, können sie vom Instrument der Teilanerkennung Gebrauch machen. In diesem Fall können EU-Bürger wahlweise eine Eignungsprüfung oder eine Anpassungsqualifizierung absolvieren und dadurch zu einer vollen Anerkennung gelangen. Für Spätaussiedler und Drittstaatsangehörige endet das Verfahren demgegenüber meist negativ, da für sie eine Teilanerkennung in der Regel nicht möglich ist und auch Berufserfahrung nicht als Ausgleich herangezogen wird, wenn die Ausbildungsdauer kürzer war.

Im Bereich der nicht-reglementierten Qualifikationen, die den Großteil der Berufe betreffen, gibt es ohnehin nur für Spätaussiedler ein gesetzlich geregeltes Anerkennungsverfahren. EU-Bürger und Drittstaatsangehörige stehen hier gleichermaßen vor dem Problem, dass sie zwar keine Anerkennung für den Arbeitsmarktzugang benötigen, in der Praxis jedoch ausländischen Abschlüssen mit Unsicherheit begegnet wird. In diesem Fall können deutschsprachige Zeugnisbewertungen von einer Anerkennungsstelle eine wesentliche Hilfestellung sein. Einige Ministerien und Kammern stellen als freiwillige Serviceleistung derartige informelle Gutachten aus.

Im Unterschied zu einem formalen Anerkennungsbescheid sind mit diesen Gutachten keinerlei rechtliche Ansprüche wie z.B. tarifliche Bezahlung oder der Zugang zu Fortbildungen verbunden. Sie dienen aber potentiellen Arbeitgebern dazu, die vorliegenden ausländischen Abschlüsse besser einschätzen zu können. Die Praxis im Bereich der informellen Gutachten ist unterschiedlich. Manche Kammern stellen z.B. nur auf Nachfrage eines Unternehmens Gutachten aus. In der Konsequenz entscheidet letztendlich der Wohnort des Antragstellers, ob ihm diese Hilfestellung für die Arbeitsmarktintegration gewährleistet wird oder nicht.

Hinzu kommt, wenn Zuwanderer sich Arbeit suchend melden, jedoch keinen Anerkennungsbescheid über ihre ausländischen Abschlüsse vorweisen können, werden sie von Arbeitsvermittlern als „Ungelernte“ kategorisiert und entsprechend vermittelt, auch wenn sie über Qualifikationen verfügen, die im Zuge des fortschreitenden Fachkräftemangels dringend benötigt werden.

Zentrale Untersuchungsergebnisse
Von Chancengleichheit kann bei der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen keine Rede sein. Anerkennungsmöglichkeiten hängen weniger von der vorhandenen Qualifikation als vielmehr vom Bundesland und der Zugehörigkeit zu einer Migrantengruppe ab. Defizitäre rechtliche Regelungen führen dazu, dass zwei Personen, die über identische Abschlüsse verfügen, unterschiedlich zu behandeln sind. Zwei Absolventen einer russischen Techniker-Fachschule wenden sich an die zuständige Anerkennungsstelle, ein Spätaussiedler und ein jüdischer Zuwanderer. Ersterer kann eine Anerkennung beantragen, für letzteren gibt es nicht einmal die Möglichkeit eines Verfahrens. Damit gilt er als Ungelernter und ein Anknüpfen an seinen erlernten Beruf wird nahezu unmöglich.

Die mit einer Anerkennung verbundenen Kosten sind ein weiteres Hindernis. Die Höhe variiert nach Bundesland und Anerkennungsstelle. Neben den Kosten für Beglaubigungen und Übersetzungen werden in den meisten Fällen Gebühren fällig. Oftmals sind im Zuge der Anerkennung Prüfungen zu absolvieren, die wiederum hohe Kosten verursachen. Auch Anpassungsqualifizierungen, die sich über Monate und Jahre erstrecken können, sind vom Antragsteller selbst zu finanzieren. Hohe Kosten verhindern eine Anerkennung in vielen Fällen.

Als eine weitere Anerkennungsbarriere ist die unzureichende Informationslage in Bezug auf die komplexen Anerkennungsmöglichkeiten und -zuständigkeiten hervorzuheben. Dies betrifft nicht nur Antragsteller, sondern ebenso Berater, Arbeitsvermittler und Unternehmen. Zahlreiche Befragungsteilnehmer berichten von einem regelrechten Anerkennungsmarathon, den Antragsteller teilweise über Jahre durchlaufen, indem sie von Stelle zu Stelle geschickt werden und immer wieder gesagt bekommen, diese sei nicht für sie zuständig. Viele geben irgendwann resigniert auf.

Zu kritisieren an der derzeitigen Anerkennungspraxis sind darüber hinaus fehlende Anpassungsqualifizierungen. Derartige Maßnahmen sind nur in wenigen Regionen für einzelne Berufe vorhanden. Für ein erfolgreiches Anknüpfen an die mitgebrachten beruflichen Qualifikationen sind jedoch vielfach Brückenmaßnahmen notwendig. Diese leisten die notwendige Anpassung der vorhandenen Kenntnisse und Fertigkeiten an deutsche Standards. Auch in diesem Bereich besteht dringend Handlungsbedarf, um der Vergeudung wertvoller Potentiale Einhalt zu gebieten.

Einen Eindruck vom Ausmaß dieser Vergeudung verschaffte die Migrantenbefragung. Von den 152 befragten Zuwanderern verfügten 86% über eine Ausbildung oder ein abgeschlossenes Hochschulstudium, aber nur 16% gelang es, ihren erlernten Beruf auch in Deutschland auszuüben.

Basierend auf den Untersuchungsergebnissen wurden konkrete Handlungsempfehlungen entwickelt; deren Umsetzung könnte wesentlich zu einer Verbesserung der derzeitigen Anerkennungssituation beitragen.

Notwendige Schritte

  • Berufliche Anerkennung sollte ein verbindlicher Bestandteil der deutschen Integrationspolitik werden, um Anerkennungsverfahren flächendeckend zu einem individuellen Integrationsangebot für qualifizierte Migranten zu machen.
  • Die Anerkennungsinstrumente sollten um informelle Gutachten erweitert und jedem qualifizierten Zuwanderer angeboten werden.
  • EU-Anerkennungsstandards, die durch Anerkennungsrichtlinien vorgegeben werden, müssten auch für Drittstaatsangehörige und Drittlandsdiplome angewendet werden, um Chancengleichheit herzustellen.
  • Damit Inhaber von ausländischen Qualifikationen, Berater und Unternehmen auf Kenntnisse über Möglichkeiten und Zuständigkeiten zugreifen können, ist es notwendig bestehende Informationssysteme zur Anerkennung zu erweitern.
  • Die Bundesagentur für Arbeit sollte ihre Profilinginstrumente für ausländische Qualifikationen öffnen, um die Kategorisierung von qualifizierten Migrant/innen als „Ungelernte“ und die damit verbundene Dequalifizierung auszuschließen.
  • Anpassungsqualifizierungen müssten durch Investitionen in die Arbeitsmarktintegration Standard werden, um das Potential vorhandener Qualifikationen von Migranten für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft nutzbar zu machen.

Dieser Artikel basiert auf der Studie: Englmann, Bettina/Müller, Martina: Brain Waste. Die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen in Deutschland. Augsburg, 2007.

In Anbetracht der Informationsdefizite, die durch die Studie zu Tage kamen, war es ein Anliegen, die gesammelten Ergebnisse transparent und verständlich öffentlich zugänglich zu machen. Ein Resultat dieser Bemühungen ist das Portal Berufliche-Anerkennung, welches ausführliche Informationen zu Möglichkeiten der Anerkennung und zuständigen Stellen in Deutschland bereitstellt. Dort steht auch die Studie „Brain Waste“ zum Download bereit.

 

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Dr. Martina Müller ist Mitarbeiterin von "Tür an Tür – Integrationsprojekte gGmbH".