Was heißt Diversität in Lehre und Studium?

von Hannah Leichsenring

Die meisten Studierenden in Deutschland beginnen ihr Studium direkt, spätestens zwei Jahre nach dem Abitur (Statistisches Bundesamt 2004). Die Mehrheit stammt offenbar aus „gutem Hause“:  Die Eltern der heutigen Studierenden haben zumeist selbst eher hohe Bildungsabschlüsse und gute berufliche Stellungen errungen (BMBF 2010). Nur etwa ein Viertel der Studierenden erhält BAföG, und davon nur die Hälfte die maximale Förderung (Statistisches Bundesamt 2009). Insgesamt ist die Studierendenschaft in Deutschland so homogen wie in kaum einem anderen europäischen Land (EUROSTUDENT 2008). Spätestens seit der Öffnung der Hochschulen zur „Massenuniversität“ in den 1970er Jahren unterliegt die Studierendenschaft einem stetigen Trend zur Veränderung, und dieser wird sich in den kommenden Jahren durch verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen und insbesondere durch den demographischen Wandel weiter verstärken.

 

So zeigt sich, dass die Homogenitätserwartungen der Hochschulen heute bereits größer sind als die tatsächliche Homogenität der Studierenden. Im Hinblick auf Vorerfahrungen und vorhandene Kenntnisse, auf die Lebensumstände der Studierenden und damit auch auf das Ausmaß, in dem sie sich dem Studium widmen können, haben die Hochschulen – zumindest implizit, wie es sich z.B. über die Gestaltung der Studienstrukturen ausdrückt – ziemlich klare und enge Vorstellungen, von denen sie nicht gerne abweichen: Nicht zuletzt, weil ‚Qualitätsverluste‘ befürchtet werden. Daher führen Abweichungen gegenüber diesen Normalitätserwartungen bereits heute an verschiedenen Stellen zu Friktionen:  Bei den Lehrenden entsteht der Eindruck, die Studierenden würden ihr Studium nicht ernst genug nehmen, während sich die Studierenden alleingelassen und orientierungslos fühlen. So kommt es zu Unzufriedenheit und Frustrationen auf Seiten der Lehrenden – und zu langen Studienzeiten und Studienabbrüchen auf Seiten der Studierenden.

Aktuell besteht die eigentliche Herausforderung für die Hochschulen darin, sich auf die kommenden Veränderungen vorzubereiten, um auch den kommenden Generationen eine gute Chance auf hochschulische (Aus-)Bildung zu gewähren: Während die Zahl der jungen Menschen in Deutschland kontinuierlich abnimmt, nehmen sowohl die Anforderungen im Beruf als auch der Bedarf an hochqualifiziertem Personal zu, was zu einer steigenden Studierquote führen muss, wenn der Fachkräftebedarf in Deutschland in Zukunft gedeckt können werden soll. Hier stellt sich dann die Frage nach „Qualität“ im Studium noch einmal anders: Wie gut muss ein Studienprogramm, wie unterstützend muss Hochschule sein, damit alle Studierenden ihr Potential voll ausschöpfen können?

Diversity Management an Hochschulen

Der demographische Wandel führt auch in der Wirtschaft zu einer Neuorientierung. Seit einigen Jahren ist Diversity Management im Unternehmensbereich ein zunehmend wichtiges Thema und wird durch politische Aktionen wie die „Charta der Vielfalt“ unterstützt. Zentraler Aspekt dieses Ansatzes ist, nicht nur die Schwierigkeiten zu betrachten, die durch Vielfalt entstehen, sondern diese Vielfalt als Ressource zu betrachten, die zum Vorteil des Unternehmens eingesetzt werden kann. Auch Hochschulen sind verstärkt in diesem Bereich aktiv: Zunächst mit dem Ziel, internationale WissenschaftlerInnen zu gewinnen und den Frauenanteil zu erhöhen, beteiligten sich Hochschulen an der „Charta der Vielfalt“ und durchliefen Audits wie „Total-E_Quality“ oder „Familiengerechte Hochschule“. Zunehmend weiten sich diese Aktivitäten aber auch auf andere Bereiche der Hochschule aus: Nun geht es nicht mehr allein um WissenschaftlerInnen, sondern auch um die MitarbeiterInnen in der Verwaltung, und immer stärker auch um die Studierenden, wie bspw. im Diversity Management der Universität Duisburg-Essen.

Ein Diversity Management für Wissenschaft und Verwaltung der Hochschule muss die besonderen Bedingungen des öffentlichen Dienstes einbeziehen, hat aber ansonsten große strukturelle Ähnlichkeiten zum Diversity Management in Unternehmen, insbesondere in solchen mit starkem Forschungsbezug. Für den Umgang mit Vielfalt unter Studierenden gilt das allerdings nicht: Ein Diversity Management in diesem Bereich muss der besonderen Verantwortung der Hochschulen gegenüber den Studierenden gerecht werden und diese zugleich bei ihrer Entwicklung und Entfaltung unterstützen. Die wichtigste Schnittstelle zwischen beiden Bereichen – und eine große Herausforderung – ist die didaktische Weiterbildung der Lehrenden, die sicherstellen muss, dass auch Lehre diversitätsgerecht gestaltet wird.

Studierende als defizitäre Wesen

Bildungssysteme gehen in der Regel von Defiziten bei den Lernenden aus, und davon dass es der Auftrag der Bildungsinstitutionen sei, diese Defizite zu beheben. Doch durch die (meist implizite) Annahme eines „Normalstudierenden“ wird diese Defizit-Perspektive noch verstärkt. Es herrscht zum Teil ein geradezu ‚tayloristisches‘ Bildungsverständnis:  Danach sollte jeder an der Bildungskette beteiligte Lehrende zu jedem Moment wissen, was die Lernenden können bzw. können sollen. Die Erwartungen, was die Studierenden mitbringen sollen, sind darüber hinaus oft sehr auf das jeweilige eigene Fach fokussiert oder gehen von sehr persönlichen Erfahrungen aus und sind wenig flexibel, wenn sich Rahmenbedingungen verändern. Sehr deutlich wird das beispielsweise, wenn versucht wird, Frauen für typische Männerstudiengänge zu gewinnen: Trotz oft besserer Schulnoten werden die Frauen als „Mängelwesen“ wahrgenommen, weil sie ein anderes Interesse am Fach und andere Vorerfahrungen haben. Bislang reagieren die Fächer nur sehr zögerlich mit entsprechenden Anpassungen im Studium, selbst wenn sie ein erklärtes Interesse an mehr StudenIinnen haben.

Je stärker sich die Lernenden untereinander unterscheiden, umso wichtiger wird es, ihre Unterschiedlichkeit als Ressource zu betrachten, und also Interesse dafür zu entwickeln, welche Perspektiven, Kompetenzen und Erfahrungen die Studierenden mit ins Studium bringen – und wie diese als Potential für den Lern- und Entwicklungsprozess genutzt werden können. Ansätze wie das „problem based learning“, das sich bspw. im Medizinstudium immer stärker durchsetzt, zeigen, welche Bedeutung alternative didaktische Ansätze auch im Hochschulbereich haben können.

Sicherlich, es geht im Studium auch weiterhin darum, sich neue Kenntnisse anzueignen und methodische Kompetenzen zu erwerben. Die Frage ist aber erstens, zu welchem Zeitpunkt diese Kenntnisse und Kompetenzen vorliegen müssen, und zweitens, in welchem Ausmaß die strukturellen Bedingungen eines Studiums über Erfolg und Misserfolg der Studierenden entscheiden können: Ob die Studienstrukturen zu einem systematischen Ausschluss bestimmter Gruppen vom Studium führen, diskriminierend sind.

Antidiskriminierung

Einen ersten Zugang zur Vielfalt in einer Gruppe liefert das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Personen dürfen nicht aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters, ihrer Herkunft, einer Behinderung, ihrer sexuelle Orientierung oder ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert werden. Die Chancen auf Zugang zu Beruf und Studium, auf Aufstieg und auf Studienerfolg sollen gleich verteilt sein. Auch hier muss festgehalten werden: Trotz der bisherigen Bemühungen von Seiten der Hochschulen sind bspw. die Beteiligungsraten von Behinderten in Deutschland niedriger als in anderen europäischen Ländern (vgl. EUROSTUDENT 2008).

Es muss für eine Hochschule von überragender Bedeutung sein, jederzeit deutlich machen zu können, dass Eigenschaften, die keinen Leistungsbezug haben, auch keinen Einfluss auf die Leistungsbewertung haben. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Aspekte, die zu unangemessenen oder als ungerecht empfundenen Nachteilen im Studium führen können, und für die die Hochschule einen entsprechenden Ausgleich finden muss. Dies ist ein sensibles Feld: Die Hochschulen sollten in der Lage sein, Positive Maßnahmen gut begründen und umsetzen zu können. Denn auch Positive Maßnahmen können von den Betroffenen als Diskriminierung und damit als negativ erfahren werden, wenn sie bspw. den Unterschieden, die innerhalb der betroffenen Gruppe bestehen, nicht ausreichend Rechnung tragen. Aber auch Unverständnis oder Ablehnung der nicht-Begünstigten können solche Maßnahmen in Misskredit bringen, wenn die Hochschule sie nicht gut begründet hat.

Doch es wird schnell deutlich, dass sich die Studierenden noch in zahlreichen weiteren als nur den AGG-Kriterien unterscheiden, die ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf Studienerfolg und Studienleistung haben können: Zum Beispiel die Erwartungen an ein Studium und die Motivation, die persönlichen Lebensumstände und die finanzielle Situation, sowie der Grad der Identifikation mit der Hochschule und den akademischen Anforderungen spielen hier eine große Rolle – und auch diese Aspekte sind zunächst unabhängig von intellektueller Leistungsfähigkeit und kognitiven Kompetenzen.

Zugang zum Studium

Naturgemäß müssen Studierenden-Auswahlverfahren bestimmte Selektionskriterien anlegen, diese müssen jedoch Studienbezug aufweisen und dürfen darüber hinaus nicht diskriminierend wirken. Doch Auswahl und Zugang gelten auch als Mittel der Qualitätssicherung in der Lehre, und Beispiele wie Harvard und Oxford scheinen diese Vorstellung zu belegen. Sie zeigen zugleich, dass eine solche Auffassung fast zwangsläufig den Hochschulzugang für solche Personen erheblich einschränkt, deren Herkunft und Werdegang als von der Norm abweichend wahrgenommen wird.
Ein Beispiel für das Gegenteil ist die Open University in England: Gegründet wurde diese Fernuniversität 1969 explizit als Hochschule „der zweiten Chance“ und lässt bis heute Studierende auch ohne Schulabschluss zu. Sie zählt zu den besten Hochschulen des Landes. In anderen Ländern gewinnen Zugangsprüfungen zum Studium eine immer größere Bedeutung im Vergleich zum Schulabschluss. So war diese Prüfung in Schweden im Jahr 2000 bereits für 40% der StudienanfängerInnen die Eintrittskarte ins Studium (vgl. Nickel/Leusing 2009).

Angesichts der starken Angebotsorientierung im deutschen Hochschulsystem bleibt natürlich das Problem, dass das in vielen Fächern knappe Angebot auf eine größere Nachfrage trifft und eine entsprechende Regelung zur Vergabe der Studienplätze gefunden werden muss. Studien zeigen aber auch für Deutschland, dass die Erfolge in vorangegangenen Bildungsabschnitten nur zum Teil eine Voraussage auf die Leistungsfähigkeit der Auszuwählenden im Studium zulassen (vgl. Schuler/Hell 2008). Offenheit in Bezug auf Eingangsqualifikationen ermöglicht es, erhebliche Potenziale freizusetzen, und auch solchen Menschen einen erfolgreichen Studienabschluss zu ermöglichen, die das selbst nicht von sich gedacht hätten. Durch die Einsetzung der Abiturnote als Auswahlkriterium findet die hohe Selektivität des deutschen Schulsystems ihre Fortsetzung im Hochschulbereich. Diesem Problem könnte nur begegnet werden, wenn eine verstärkte Nachfrageorientierung der Hochschulen zu einer größeren Flexibilität beim Auf- und Abbau von Studienplätzen führen würde.

Studienabbruch

Die deutsche Studienabbruchquote ist vergleichsweise niedrig, sie liegt bei 23% und damit um acht Prozentpunkte unter dem OECD-Durchschnitt (OECD 2009). Allerdings unterscheidet sie sich zwischen den Fächern erheblich – und es bleibt erstaunlich, dass trotz der hohen Selektivität im deutschen Bildungssystem immerhin ein Fünftel der Studierenden ihr Studium nicht beendet.

Bislang wird Studienabbruch an manch einer Fakultät sogar für ein Qualitätsmerkmal der Studiengänge gehalten – und es erscheint begrüßenswert, wenn „unpassende“ Studierende das Studium vorzeitig abbrechen. Gerade die an vielen Fakultäten herrschende Tradition des „Aussiebens“ von vermeintlich ungeeigneten Studierenden im Verlauf des Studiums verträgt sich nicht mit einer Offenheit für Vielfalt, weil dies insbesondere die Studierenden trifft, die weniger Ressourcen von Zuhause aus in Anspruch nehmen können.

Probleme der Vereinbarkeit, wenn neben dem Studium weitere Anforderungen (Job, Familie) bestehen, können sich dann ebenfalls negativ auswirken, und auch Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung an die neue Umgebung Hochschule. Wohlgemerkt: Familiäre Ressourcen, Vereinbarkeit und die Fähigkeit zur Eingewöhnung sind keine Aspekte, die Aussagen über die intellektuellen Fähigkeiten oder kognitiven Kompetenzen der Studierenden zulassen, sondern nur über ihre Möglichkeiten, sich an die gegebenen Strukturen anzupassen. Es zeigt sich: Die eigentliche Herausforderung für ein Diversity Management besteht darin, allen Studierenden, die im Studium eingeschrieben sind, gerecht zu werden. Und dies erfordert weithin eine Haltungsänderung gegenüber den Studierenden, wie man sie andernorts bereits heute findet: In vielen anderen Ländern wird der Hochschule eine größere Verantwortung zugeschrieben, wenn es darum geht, alle Studierenden zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Auch die verstärkten Aktivitäten im Bereich familienfreundliche Hochschule sind ein erstes, deutliches Zeichen dafür, dass auch die deutschen Hochschulen sich mittlerweile vermehrt für Schwierigkeiten und Hemmnisse verantwortlich fühlen, die im Grunde als „hochschulfern“ bezeichnet werden können.

Ausbildungsziel Wissenschaft?

Spätestens seit der Öffnung der Hochschulen in den 1970er Jahren unterliegt die Zusammensetzung der Studierendenschaft einem fortschreitenden Wandel. Dies betrifft nicht nur die oben skizzierten Veränderungen auf Seiten der Studierenden. Es lässt sich ein beständiger Trend zu einer Akademisierung in der Berufswelt feststellen, sowohl in Bezug auf eine allgemein gestiegene Nachfrage nach höheren Qualifikationen als auch auf gestiegene Anforderungen in einzelnen Berufen, die dazu führen, dass mittlerweile ein Studium erforderlich ist, wo zuvor eine Ausbildung ausreichend war.

Wenig erstaunlich, dass angesichts dieser veränderten Situation die Studierenden wiederum mit einer anderen Motivation ins Studium gehen als früher: Die Perspektive Wissenschaft spielt auch an den Universitäten längst nicht mehr die wichtigste Rolle. Zukunftsängste und Unsicherheiten in Bezug auf das spätere Berufsfeld tragen das Ihre dazu bei, dass der Fokus sich von der Wissenschaftlichkeit des Studiums hin zu einer stärkeren Orientierung an Praxisrelevanz verschiebt. Die Hochschulen stehen vor der Herausforderung, die Studierenden auf die zunehmende Komplexität der Arbeitswelt vorzubereiten. Dies hat bspw. den Effekt, dass es einige, insbesondere technische, Fächer gibt, für die klar ist, dass zum Ende des Studiums neue und andere Kenntnisse nötig sein werden, als dies zu Beginn absehbar war. Der Bologna-Prozess reagiert darauf bereits mit einer Betonung der Bedeutung von Kompetenzen.

Integration ins Studium

Ein Diversity Management für Studierende muss mehrere Ziele verfolgen: Zum einen muss es dafür sorgen, dass alle Studierenden am Lehrgeschehen teilnehmen können. Das bedeutet, dass Wissensstände ausgeglichen werden müssen, dass Methoden und Instrumente zur Verfügung gestellt werden müssen, die es den Studierenden ermöglichen, wissenschaftliches Arbeiten zu erlernen und selbstständig anzuwenden, und es bedeutet, dass Studienstrukturen so flexibilisiert werden, dass sie mit außeruniversitären Anforderungen (Familie, Beruf) vereinbar sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt, auf den insbesondere der Soziologe und Hochschulforscher Vincent Tinto hingewiesen hat, ist die soziale Integration in die Institution Hochschule (Tinto 1994).

Das Vorfinden von verlässlichen sozialen Strukturen, von AnsprechpartnerInnen, FreundInnen und Vertrauten ist für die Zufriedenheit im Studium und letztlich auch für den Studienerfolg von erheblicher Bedeutung. Doch darüber hinaus spiegelt sich hier ein weiterer Lernaspekt der Hochschule wider, der mit dem Begriff des Habitus, wie ihn Pierre Bourdieu (Bourdieu 1989) einführte, gut beschrieben ist: Der soziale Prozess, der ein Studium ausmacht, bewirkt eine Veränderung des Habitus einer Person. Studierende erlernen die impliziten sozialen Anforderungen und Regeln, die ihnen erst ein souveränes Auftreten im Wissenschaftsbereich – wie auch im Berufsleben – ermöglichen. Auch dieser Lernprozess ist in den Blick zu nehmen, wenn ein Diversity Management für Studierende etabliert wird.

Anderes Studium für andere Studierende

Insbesondere die Universitäten in Deutschland hatten in der Vergangenheit wenig Anlass, sich mit solchen Veränderungen zu beschäftigen. In einem so stark angebotsgetriebenen System wie dem deutschen hätte es einer starken politischen Gewichtung bedurft, um diesen Paradigmenwechsel einzuleiten. Doch obwohl der Ausbau der Fachhochschulen recht erfolgreich vorangetrieben wurde, stellte der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen 2002 fest, dass der Umbau, die Orientierung an den künftigen Bedarfen, nicht mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgt wurde (Wissenschaftsrat 2002). Dazu kommt, dass die politischen Rahmenbedingungen eher noch eine Orientierung an den Universitäten förderten, so dass ursprüngliche Ziele wie die Integration von hochschulfernen sozialen Gruppen in den Hintergrund gedrängt wurden, wie beispielsweise am wachsenden Anteil von FH-Studierenden mit Abitur zu sehen ist.

Nicht zuletzt die Bologna-Proteste haben gezeigt, dass viele Hochschulen nicht bereit oder in der Lage waren, ihr Angebot an der Lebenswirklichkeit der Studierenden auszurichten und bspw. der hohen Zahl der erwerbstätigen Studierenden in der Programmgestaltung gerecht zu werden. Das beste Beispiel ist die starke Fokussierung auf Vollzeit-Studierenden während, wie die Sozialerhebung schon seit Jahren zeigt, die meisten Studierenden neben dem Studium arbeiten und sich also nicht ausschließlich darauf konzentrieren können. Das alte System, das ein "selbstorganisiertes“ Teilzeitstudium ermöglichte (auf Kosten verlängerter Studienzeiten), wurde vielerorts durch ein Studiensystem abgelöst, das auf einer 40-Stunden-Woche (Workload nach Bologna) basiert und so unflexibel ist, als sei selbstverständlich, dass Studierende sich voll aufs Studium konzentrieren können, finanziell abgesichert sind und keine familiären Verpflichtungen haben.

Individualisierte Lehre

Die Vermittlung von Kompetenzen – statt Wissen – wird zukünftig eine immer größere Rolle spielen. Allerdings sind unsere Veranstaltungsformen und auch deutsche Prüfungsformen fast ausschließlich an der Vermittlung von Wissen ausgerichtet. Die Lehre wird sich auch immer stärker an der Individualität der Studierenden orientieren müssen – ausgehend von deren Vorkenntnissen und Kompetenzen im Hinblick auf deren Motivationen und Ziele. Beide Aspekte beinhalten einen erheblichen Paradigmenwechsel für das deutsche Bildungssystem. Dennoch müssen die Hochschulen nicht bei Null beginnen.

Viele Angebote und Projekte, Studiengänge und auch Lehrende sind bereits darauf ausgerichtet, ihren Studierenden individuell besser gerecht zu werden. Was überwiegend fehlt, ist eine systematische Integration in das strategische Zielsystem der Hochschule und die konkrete Umsetzung nicht nur in den Dienstleistungen, sondern auch im Kerngeschäft, der Lehre. In den meisten Hochschulen oder Fakultäten gibt es wenig Übereinkunft darüber, was gute Lehre bedeutet, welche Funktion der oder die Lehrende hat, welche Verantwortung er oder sie für das Lerngeschehen übernimmt und was die Anforderungen an die Studierenden sein sollten. Das kann sich beispielsweise auf Fragen von Anwesenheitspflicht, von Selbststudium, von mündlicher Leistung, der Fähigkeit zum Transfer und der Vernetzung von Wissensbestandteilen beziehen. Eine Klärung dessen ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass dies an unterschiedliche Bedarfe bei den Studierenden angepasst werden kann.

Rolle der Politik

Politische Ziele wie die Erhöhung der Studierquote erhöhen den Druck auf die Hochschulen, jedoch ohne auf deren jeweilige Rahmenbedingungen, Strukturen und Profile Rücksicht zu nehmen. Hier zeigt sich, dass nur autonome Hochschulen in der Lage sind, die notwendigen Profilierungen und Prioritätensetzungen vorzunehmen. Außerdem müssen noch verschiedentlich Hemmnisse in Hochschulgesetz und Hochschulsteuerung abgebaut werden. Doch auch in anderer Hinsicht benötigen die Hochschulen politische Unterstützung: Verbesserte Betreuung heißt nämlich, dass die Hochschulen mehr Informationen über ihre Studierenden brauchen.

Wie diese Informationen gewonnen werden können und wie die Hochschulen ihrer Verantwortung für Datennutzung und Datensicherheit gerecht werden können, muss Gegenstand einer gemeinsamen Entwicklungsarbeit sein. Zugleich ist klar: Wenn sich die Rolle der Hochschule in Bezug auf ihre Studierenden in so vielfältiger Weise verändert, wird dies erheblichen Aufwand – personellen und finanziellen – erfordern, und dies vermutlich über einen langen Zeitraum. Die Politik sollte diesen Prozess fördern, indem sie die eigenen Ziele so klar wie möglich formuliert und dann mit den Hochschulen gemeinsam entwickelt, damit die einzelne Institution zu diesem Ziel – unter den jeweiligen Bedingungen – beitragen kann.

 

Literatur

Februar 2011

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Hannah Leichsenring arbeitet seit 2004 als Projektleiterin bei CHE Consult in den Bereichen Strategieentwicklung, Mittelverteilung, Budgetierungsmodelle und Fakultätsmanagement. Sie ist für CHE Consult Mitglied im European Access Network (EAN).