Leseprobe von Gerasimos Bekas

Leseprobe aus dem Debütroman „Alle Guten waren tot“ vom Autor und Theatermacher Gerasimos Bekas.

Cover "Alle Guten waren tot"
Teaser Bild Untertitel
Cover "Alle Guten waren tot"

Aus Alle Guten waren tot, Verlag Rowohlt Hundert Augen, 2018, Hamburg

α
Pentelischer Marmor macht ästhetisch einiges her, eignet
sich jedoch nur bedingt als Fußbodenbelag. Diese in ihrer
Konsequenz schmerzhafte Erkenntnis verdankt die Welt
den ersten Athenern. Am eigenen Leib erfuhren sie die
hohe Verletzungsgefahr, die beim Betreten der vor allem
bei Nässe rutschigen Böden besteht. Das Problem wurde
nach den ersten unglücklichen Todesfällen unverzüglich
angegangen, doch das Einmeißeln der Warnung «Vorsicht,
Rutschgefahr!» hatte nicht den erhofften präventiven Charakter.
Der gewünschte pädagogische Effekt ließ auf sich
warten, die Menschen blieben unvorsichtig oder rutschten
ihrer Vorsicht zum Trotz weiterhin aus, und ästhetisch gesehen,
stellten die in den Stein der Tempel, Säulen und
Mauern gehauenen Inschriften einen brutalen Eingriff in
die Athener Architektur dar, was der Rat für Fremdenverkehr
per Konsultation des Orakels von Delphi vorausgesehen
hatte, ohne sich in dieser Frage durchsetzen zu können,
was dem Rat in Delphi ebenfalls prophezeit worden war.
Der öffentliche Unmut wuchs. In der Presse war die Rede
von Staatsversagen und Misswirtschaft. Die Regierenden
fürchteten das zornige Aufbegehren ihrer Bürger und
handelten entschlossen, ohne auch nur erahnen zu können,
dass sie den Lauf der Dinge dadurch für immer ändern würden.

In einer siebzehnstündigen Krisensitzung des Hohen
Athener Rates entstand ein Konzept, das bis heute als
Grundlage menschlichen Zusammenlebens gilt und dabei
die griechische Zivilisation begründet, groß gemacht und
letztendlich zerstört hat: der Wettbewerb.
Alle Bewohner der attischen Halbinsel wurden aufgerufen,
die beste Idee zu präsentieren und den idealen Weg
vorzuschlagen, um des Problems, das Herodot in seinen

lange verloren geglaubten Aufzeichnungen nachträglich
als den «Marmor-Inzident» bezeichnete, Herr zu werden.
Namhafte Aristokraten aus den besten Athener Häusern
versuchten sich an einer Lösung. Hypotimos, der durch den
Ausbau der Handelsflotte seines Vaters zu Reichtum und
Ansehen gekommen war, schlug vor, in der ganzen Stadt eigens
dafür ausgebildete und uniformierte Sklaven als Gehwegbegleiter
für die Athener Bürger bereitzustellen. Das
Projekt scheiterte an der personalintensiven und logistisch
komplexen Umsetzung in der Betaphase. Hypotimos wurde
zur Entschädigung für seine Mühen und die Bereitstellung
der Uniformen für eine weitere Dekade von der Gewerbesteuer
befreit und ließ sich ein Denkmal anfertigen, um
seinen gewichtigen gemeinnützigen Beitrag nicht in Vergessenheit
geraten zu lassen. Fälschlicherweise wird das
Denkmal, das heute vor dem Nationalgarten, unweit des
griechischen Parlamentsgebäudes, zu besichtigen ist, Euripides
zugerechnet.

Das ist im Übrigen nicht ungewöhnlich. Die Statuen- und
Büsten-Industrie wurde im frühen Athen zur Boombranche
schlechthin. Das verlangte nach Innovationen im Produktionsprozess.
Nach einigen Rückschlägen, ein Prototyp des
fordistischen Fließbands etwa erwies sich für die Bildhauerei
als weitgehend nutzlos, ging man dazu über, massenhaft
fünf Standardmodelle zu produzieren. Jeder Athener
konnte sich dann das Modell aussuchen, das ihm am ähnlichsten
sah, und für einen kleinen Aufpreis gab es individuelle
Anpassungen nach Absprache. Das löste einen neuen
Trend aus, denn wer Bart trug und dadurch seine Physiognomie
weitgehend verdeckte, fand leichter ein passendes
Standardmodell. Maßgeschneiderte Büsten waren die
absolute Ausnahme, wurden nur in wenigen Manufakturen
angeboten und kosteten ein Vermögen.
Der Wettbewerb um die beste Idee zur Vermeidung von
Rutsch-Unfällen auf Marmor dauerte mehrere Monate und
führte zur Erfindung der Seilbahn, des Segelflugzeugs und
der Stollenfußballschuhe. Der Marmor blieb rutschig. Unter
den vielen Bewerbern, die versuchten, nachhaltigere Alternativen
zu entwickeln, stach Rumelos hervor. Der ehemalige
Sänger und Dichter, den es in die Politik verschlagen
hatte, wo er von seiner früheren Popularität zehrte,
stellte eine rutschfeste Fußmatte aus Hanffasern vor, die
wahlweise individuell mitgeführt oder an den einschlägig
bekannten Gefahrenstellen permanent ausgelegt werden
sollte. Die Matte wurde von Experten als großer Durchbruch
gepriesen. Sie war leicht herzustellen und ökologisch
abbaubar. Prototypen wurden zu Phantasiepreisen unter
der Ladentheke verkauft. Noch bevor dieser Ansatz flächendeckend
im Alltag getestet werden konnte, kam heraus,
dass Rumelos die gesamten Hanfvorräte in ganz Attika
und bis nach Mykene aufgekauft hatte, um sich das
Monopol zu sichern und am steigenden Hanfabsatz zu bereichern.
Das Spekulationsgeschäft sorgte für große Empörung,
obwohl Rumelos mit dem Handel gegen kein einziges
geltendes Gesetz verstoßen hätte. Die Konkurrenz nutzte
die Gunst der Stunde und erwirkte seine Verbannung auf
die Insel Ägina, wo er bis ins hohe Alter ein bei Athenern
sehr beliebtes Nachtlokal betrieb, in dem er seine größten
Hits sang. Den Marmor-Inzident verarbeitete er in dem Lied
«Immer wenn es regnet», mit dem er zwar nicht an die Publikumserfolge
vergangener Jahre anknüpfen konnte, dafür
aber Äonen später zur musikalischen Untermalung der Uraufführung
von Aristophanes’ «Die Vögel» beitrug.
Mond um Mond verging, in den Sommermonaten kümmerte
sich niemand um das Problem, denn da regnete es
nicht, und so rutschten die wenigen verbliebenen Athener,
die sich nicht an kühlere Stranddomizile geflüchtet hatten,
auch nicht so oft aus. Außerdem war es schlicht zu warm für
geniale Ideen. Dann kam der Herbst. Und mit dem Herbst
kam der erste Regen, und mit dem ersten Regen kam der
Hirtenjunge Kommenos aus den Bergen bei Arta, um Bestellungen
für seinen Vater entgegenzunehmen, der dort einen
Fleischereigroßbetrieb führte. Auf dem Weg zur Athener
Agora lief Kommenos just in dem Moment neben einem
älteren Mann, als dieser ausrutschte. Kommenos’ beherzter
Griff verhinderte einen Sturz, und voller Dankbarkeit lud
der ältere Mann ihn zu sich nach Hause ein, um ihn für seine
Hilfe zu entlohnen. Aus Pflichtbewusstsein lehnte Kommenos
ab, denn er wollte die Geschäfte seines Vaters so
schnell wie möglich regeln. Er zeigte sich jedoch erstaunt
darüber, dass niemand etwas gegen den rutschigen Marmor
unternahm. So erfuhr er vom Wettbewerb und den vielen
gescheiterten Versuchen, den verbreiteten Bodenbelag
etwas stumpfer zu machen.
«Das ist doch ganz einfach. Man muss viele kleine Löcher
in den Boden meißeln. In den Bergen machen wir das
genauso, sonst könnten wir die Gipfel niemals lebendig erklimmen.
» Die Idee klang nicht schlechter als die vorherigen,
und so wurde sie auf Teststrecken ausprobiert und
erzielte bereits bei ersten Probeläufen bahnbrechende Erfolge.
Kommenos wurde mit einem Olivenzweig des heiligen
Baumes der Stadt Athen belohnt und bekam die Ehrenbürgerschaft
auf Lebenszeit zugesprochen. Ihm wurde
trotz seiner Jugend ein Platz im Rat der Weisen angeboten,
doch er lehnte ab: Er wollte zurück in die Berge vor Arta,
um weiter im Betrieb seines Vaters arbeiten zu können.
Sopholith der Ältere erließ indes im Jahre 1221 vor Christus
das sogenannte «Marmordekret», wonach Marmorböden
im Freien mit dicht beieinanderliegenden Einkerbungen
zu versehen waren, um der Rutschgefahr bei Feuchtigkeit
durch Regenfälle oder ähnliche Vorgänge Einhalt zu
gebieten. Heute gilt das Dekret als der Vorläufer der Normierung
nach DIN.
Fortan gab es strenge Vorgaben dafür, wie eine Marmorfußbodenplatte
in der Athener Polis auszusehen hatte.
Während die Opposition, die vom Rat der Trotzigen gebildet
wurde, den Erlass als plumpe Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
zu entlarven versuchte, schrumpfte die Zahl der Verletzungen
im Straßenverkehr bereits im ersten Jahr auf einen
Bruchteil des Vorjahres, und die Athener Ärzte wurden
durch die ausbleibende Notwendigkeit der ambulanten
Unfallchirurgie so stark entlastet, dass ihnen Zeit für
Forschung und Erholung blieb, was einen Innovationsschub
zur Folge hatte, der unter anderem die asklepische Wende
einleitete. Dass dies alles auf einen kleinen Hirtenjungen
aus den Bergen zurückging, hatten bald selbst diejenigen
vergessen, die dabei gewesen waren. Es gab keine Zeit zurückzuschauen.
Die Menschheit war an ihrem Höhepunkt
angelangt. Wenn man oben steht, schaut man nach vorne.
Von da an war der Verfall nur eine Frage der Zeit. Der
Hellenismus blühte kurz und welkte in qualvoller Langsamkeit
dahin. Innere Zerstrittenheit, globale Migrationsbewegungen
und Kriege beschleunigten den griechischen Untergang.
Der zeigte bald verheerende Auswirkungen. Römisierung,
Christianisierung, Osmanisierung, Nationalisierung,
Balkanisierung, Europäisierung. Innerhalb von zwei Jahrtausenden,
einem olympischen Wimpernschlag, wurde jede
Errungenschaft aufgegeben, jeder Erfolg zunichtegemacht.
Von der griechischen Führungsrolle in der Welt blieben nur
Bauruinen. In mühevoller Kleinarbeit versuchten die Überlebenden
der Katastrophe zumindest einen Bruchteil dessen
zu rekonstruieren, wozu die Menschheit schon mal imstande
gewesen war, doch vieles war für immer verloren.
Am Ende wussten die Neugriechen nicht mehr, wo oben
und wo unten war. Sie lebten mit der Gewissheit, dass der
Trümmerhaufen, auf dem sie standen, einst ein prächtiger
Palast gewesen sein musste. Sie waren stolz auf ihre Herkunft
und hatten Angst vor ihrer Zukunft. Wer hat da Zeit
für Gegenwart? Allein der Marmor blieb, als Zeuge vergan
gener                                                                                                                                                                          Größe, doch das Marmordekret ging verloren und somit
auch das Wissen um den richtigen Umgang damit.
Der zivilisatorischen Demenz des Griechentums, so lautet
unsere Hypothese, ist es in erster Linie anzukreiden,
dass sich folgender Vorfall ereignen musste, der jeglicher
Relevanz für den Lauf der Weltgeschichte entbehrt, kommenden
Generationen jedoch als mahnendes Exempel dienen
kann.
An einem Freitagvormittag, Anfang September 2016,
rutschte der junge Deutschgrieche, Grecodeutsche, Interimsfranke,
Mensch mit Migration Aris Kommenos-Stein
vor dem Nebeneingangstor des Ersten Athener Friedhofs
auf dem marmornen Gehweg aus, scheiterte an der motorischen
Herausforderung, seinen Aufprall mit den Händen
abzufangen, und landete mit dem Hinterkopf zuerst. Das
dabei entstehende Geräusch beschrieb eine Augenzeugin
mit demjenigen, das beim Aufplatzen einer überreifen Melone
nach dem Fall vom Transportfahrzeug entstehe. Ein
Trauergast, der unmittelbar nach dem Aufprall den Unfallort
passierte, erkannte im Muster der entstandenen Blutlache
das Antlitz der Muttergottes. Die Sanitäter waren innerhalb
weniger Minuten vor Ort. Der junge Mann war bis
zum Eintreffen des Krankenwagens ansprechbar, aber bewegungsunfähig.
Anstatt der Sirenen hörte Aris eine dumpfe Stimme aus
der Ferne, die ihm zurief: «Es geht nicht immer nur um
dich.» Dann verlor er das Bewusstsein.
Es wäre zweifellos zu einfach und eines ernsthaften Arguments
nicht würdig, die alleinige Schuld für diesen bedauerlichen
Vorfall bei den Griechen zu suchen. Auch hier
haben wir es mit einem komplexen Sachverhalt zu tun, der
eine gründliche und besonnene Analyse des multifaktoriellen
Ursachenbündels erfordert. Wer verstehen will, wie es
zu diesem Unglück kommen konnte, kommt nicht umhin,
sich dem Unglück einer anderen Person zu widmen. Am Anfang
war das Ende von Frau Xenaki.

 

1. Auflage Dezember 2018
Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg