In Bewegung - Editorial zum Dossier "Zivilgesellschaftliches Engagement"

"Refugees welcome" Dresden 2016
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"Refugees welcome" an einer Wand in Dresden im Februar 2016

Die Soziologin und Journalistin Carolin Wiedemann hat das Dossier kuratiert und reflektiert in ihrer Einleitung Potenziale und Fallstricke bürgerschaftlichen Engagements für Geflüchtete.

Zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete – da kommen die Bilder vom letzten Jahr in den Sinn: von klatschenden Menschen, die sich am Münchner Bahnhof drängen, um denen, die gerade ankommen, die Hand zu schütteln, um Mitbringsel zu überreichen, sie willkommen zu heißen.

Bilder, die in weite Ferne gerückt scheinen und Schlagzeilen den Platz geräumt haben darüber, dass „Menschen mit Migrationshintergrund“ der Zugang zu einem Schwimmbad nicht mehr frei stehen sollte, dass Betreiber einer Diskothek Geflüchteten den Zutritt verwehren wollen, dass deutsche Bürger/innen wie gerade wieder in Clausnitz als Mob gegen ankommende Geflüchtete toben. Die Bilder des vergangenen Jahres hatten fast vergessen lassen, was seit Köln in aller Deutlichkeit zu Tage tritt: ein Rassismus, der sich durch alle Lager und Bereiche dieser Gesellschaft zieht.

Als der „Guardian“ beeindruckt schrieb, „Willkommenskultur“ könnte als deutsches Wort in den englischen Sprachgebrauch eingehen und Merkel mit Geflüchteten aus Syrien in die Kamera lächelte, ließ sich beinahe verdrängen, dass parallel fast täglich Asylunterkünfte brannten – 2015 wurden fünf Mal mehr Straftaten gegen Asylunterkünfte registriert als im Jahr zuvor – und dass deutschlandweit immer wieder gegen Neuankömmlinge mobilisiert wurde, nicht nur in Freital, Heidenau oder Hellersdorf, sondern auch in den Edelvierteln deutscher (Groß)städte wie in Hamburg-Harvestehude, wo die Ablehnung lediglich einen anderen, förmlicheren Ausdruck fand.

Heute umarmt auch Merkel niemanden mehr und so lässt sich nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass das Asylrecht stückweise alle paar Monate verschärft wird, um Abschiebungen zu beschleunigen, dass Länder zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt werden, um noch mehr Asylsuchende ausweisen zu können und mit sechs extra Milliarden für Flüchtlingspolitik gerade einmal die Summe ausgegeben wurde, die nötig war, um völliges Chaos zu vermeiden. Und schließlich einigten sich am 28. Januar 2016 die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD auf das sogenannte Asylpaket II, womit für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz das Recht, enge Angehörige nach Deutschland zu holen, für zwei Jahre ausgesetzt wird und “kriminelle Ausländer“ sofort abgeschoben werden sollen – eine Forderung der DVU aus den 90ern. Am 25. Februar stimmte der Bundestag dem Gesetzespaket mit großer Mehrheit zu.

Was kommt nach der Willkommenskultur?

Heute wird deutlicher denn je, dass die Willkommenskultur der Bundesregierung nur in einem Punkt nachhaltig ernst gemeint war: Willkommen sind Migrant/innen, die dem deutschen Kapital als gut ausgebildete Fachkräfte etwas bieten können – dafür riefen gar die Arbeitsagenturen „Welcome Center“ ins Leben. Ansonsten werden die Grenzen dicht gemacht. Während täglich Schutzsuchende ihr Leben verlieren – 368 Menschen starben allein im Januar 2016 bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen – drängt Europa Griechenland und die Türkei zu verstärkter Abwehr.

Aber die Menschen kommen trotzdem. So hart das Grenzregime sie abwehren will. So abschreckend die Bedingungen hierzulande sein mögen. Und diese Bedingungen sind zum Teil so miserabel, dass es gar glaubhaft wirkt, vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin sei ein Mensch ums Leben gekommen. (Ob dann endlich jemand im Senat die Verantwortung übernehmen und zurücktreten müsste, ist nicht einmal sicher.)

Und es würden vielleicht Menschen, die gerade in Deutschland angekommen sind, sterben, wären da nicht immer noch diese vielen ehrenamtlichen Helfer/innen. Wie nie zuvor engagieren sich Menschen in Deutschland ehrenamtlich für Geflüchtete, schreibt ProAsyl Anfang 2016. Daran hat auch Köln nichts geändert, so sehr die Schlagzeilen das verkünden, so sehr Politiker/innen Stimmung gegen „Nordafrikaner“ machen. Die ehrenamtlichen Helfer/innen in München, Hamburg und Berlin sind zumeist noch da, in vielen Dörfern und Gemeinden ebenso. Immer noch bekommen Flüchtlingsräte in ganz Deutschland Anfragen von Menschen, die helfen wollen, Geflüchtete angemessen zu empfangen.

Trotz dieses anhaltenden Engagements ist von der Euphorie des letzten Jahres kaum mehr etwas übrig. In Umfragen sagen zwar aktuell 94 Prozent der Deutschen, dass Deutschland Menschen aufnehmen soll, die vor Krieg und Bürgerkrieg fliehen – wie es in den ARD-Tagesthemen am dritten Februar hieß. Doch würde die gleiche Menge an Menschen zustimmen bei der Frage, ob Deutschland Menschen aufnehmen soll, die illegal Grenzen übertreten?

Die perfide Gesetzgebung der EU, die europäische Dublin-Regelung, die überhaupt nur durch Deutschland zustande kam, macht es schier unmöglich, legal Asyl in Deutschland zu beantragen – ein Zustand, der in den letzten Monaten immer weniger thematisiert wird. Während letzten Sommer in den großen Zeitungen gefragt wurde, ob „Schleuser“ nicht sogar ehrenhafte Fluchthelfer seien, berichten Anfang 2016 alle scheinbar ohne zu zögern vom vereinten Kampf der Türkei, der EU und de Maizières gegen „Schleuserkriminalität“.

Das passt zu einem Diskurs, der die Unterscheidung zwischen den armen, richtigen Flüchtlingen und den bösen, falschen weiter verschärft, eine Unterscheidung, die die einen viktimisiert und die anderen kriminalisiert. Dass es somit auch keine Diskussion gibt über globale Ausbeutungsverhältnisse, Kolonialismus und Kriege, an denen Deutschland mindestens mitwirkte, passt wiederum dazu, dass 75 Prozent der Bevölkerung laut der in der ARD zitierten Umfrage zu Beginn 2016 nicht wollen, dass Menschen aufgenommen werden, die aus wirtschaftlicher Not fliehen.

Selbstorganisation versus Entmündigung

Gerade in diesem Klima ist die Weiterarbeit der Willkommensinitiativen des letzten Jahres und der bereits seit Jahren bestehenden antirassistischen Gruppen und Organisationen, die Geflüchtete unterstützen, umso wichtiger. Der Wandel des Klimas in der Bevölkerung sowie der medialen und der politischen Diskurse betrifft auch sie: Christiane Beckmann, die Pressesprecherin der Gruppe „Moabit hilft“, die sich seit Sommer 2013 in Berlin Moabit und somit auch vor dem Lageso engagiert, erzählt, dass die Zahl der täglich eingehenden anonymen Drohungen zugenommen habe, ebenso wie die der gehässigen Postings auf Facebook, auf denen Bilder und Namen von Helfer/innen veröffentlicht werden.

Sie geht von organisierten Neonazis aus, deren Einschüchterungsversuche man auch mit Hilfe der Polizei nicht verhindern könne. Doch sie lasse sich nicht einschüchtern, berichtet Beckmann der „Jungle World“ im Februar 2016. Dazu sei ihr die Arbeit mit den Geflüchteten viel zu wichtig – eine Arbeit, die eine Form von Zusammenhalt erzeuge, wie man ihn sonst kaum irgendwo erlebe, eine Arbeit, an der sich diejenigen, die kürzlich selbst erst angekommen sind, bereits beteiligen.

Diese Zusammenarbeit ist damit täglich auch eine Arbeit gegen die Asymmetrie zwischen denen, die sich engagieren, und denen, die der Weg nach Europa und die Beantragung von Asyl in Deutschland entwürdigt und entrechtet hat, gegen die Asymmetrie durch den nationalstaatlichen Bürger/innenstatus auf der einen und die Ausgrenzung und Stigmatisierung auf der anderen Seite. Eine Arbeit, die im besten Fall hilft, Voraussetzungen zu schaffen, damit Geflüchtete sich selbst organisieren und repräsentieren können – und somit auch gemeinsam mit bereits bestehenden Refugee-Protesten die Zusammenhänge zwischen dem Grauen der Flucht nach Europa, den migrationspolitischen Entscheidungen auf nationaler und EU-Ebene und den lokalen Rassismen thematisiert und langfristig für andere Strukturen kämpft.

Um zivilgesellschaftliches Engagement geht es in diesem Dossier. Es geht um die Notwendigkeit und Bedeutung von ehrenamtlicher Hilfe in der gegebenen Ordnung und der gegenwärtigen Situation, aber auch um die damit verbundenen Gefahren, die von einer paternalistischen Praxis über ihre kompensatorische Funktion bis hin zur Instrumentalisierung durch die Politik reichen, es geht um die Möglichkeiten der Politisierung, um Fragen nach vergangenen, unergriffenen Chancen und neuen Verschärfungen.

Während die Journalistin Nina Scholz, die über ihre Erfahrungen in einer Kleiderkammer in Charlottenburg und vom Potential des „Septembermärchens“ berichtet, mit einem Blick auf die Gegenwart bitter endet, sieht Manuela Bojadzijev in der zivilgeselllschaftlichen Willkommenskultur eine nachhaltige Mobilisierung gegen das Asylsystem. Im Interview analysiert sie rassistische Diskurse auf der einen Seite und verweist auf der anderen Seite hoffnungsvoll auf das Potential translokaler Bündnisse, in denen jeweils schon mit neuen Modellen von Zugehörigkeit und Teilhabe experimentiert werde.

Stephan Dünnwald vom Flüchtlingsrat Bayern porträtiert drei vorbildliche Initiativen ehrenamtlicher Helfer/innen, eine in Thüringen, zwei in Bayern und erläutert, welche Art von Engagement nachhaltig ist. Im Gespräch mit dem Journalisten Jan Ole Arps erzählen zwei Aktivisten der Oranienplatz-Bewegung, Bino Byansi Byakuleka und Turgay Utlu, von ihrer Enttäuschung nach den jahrelangen Kämpfen gegen das Asylsystem, von ihrer Empörung angesichts einer „Willkommenskultur“ in Deutschland, die weiterhin nicht zulasse, dass globale Ausbeutungsverhältnisse als Fluchtursachen besprochen werden, und von der Wichtigkeit selbstorganisierter Refugee-Proteste.

Proteste, die auch die Kirche immer wieder unterstützt. Davon berichtet die Journalistin Hadija Haruna-Oelker in einer Reportage über Kirchenasyl in Hessen. Sie beleuchtet die Entwicklung in und um Frankfurt, vor allem seit der Initiative von „Noborder“ 2014, blickt außerdem auf die Situation in Bayern und zeigt, dass die Kirche, die aus humanitären Gründen handelt, dabei zum politischen Akteur wird, der das europäische Dublin-System in Frage stellt.

Kirchenasyl war auch in Hamburg ein Thema, mit dem die selbstorganisierte Refugee-Protestbewegung „Lampedusa in Hamburg“ 2013 in den Medien erschien. Der Hamburger Journalist Christoph Twickel blickt auf die Entwicklung der dortigen Unterstützungsszene und schildert, wie die so genannte Lampedusa-Gruppe im Spätsommer 2013 über die linke antirassistische Szene hinaus erstmals eine breitere Öffentlichkeit erreichte, und wie sich schließlich das Verhältnis zwischen Staatlichkeit und Zivilgesellschaft wandelte in der Zeit zwischen den Kämpfen der Aktivist/innen rund um das „Refugee Welcome Center“ 2014 und den neuen Bündnissen und Bewegungen im Sommer 2015. Bündnisse und Bewegungen, die auch die fließenden Übergänge zwischen Ehrenamt und Aktivismus bezeugen.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Zivilgesellschaftliches Engagement“ aus der Reihe „Welcome to Germany“.