Multikulturalismus, Re-Islamisierung und Zivilgesellschaft in Südostasien

von Susanne Schröter

Südostasien ist eine kulturell heterogene Region, in der nicht nur ethnische und soziale, sondern vornehmlich auch religiöse Differenzen nationalstaatlich integriert werden müssen. Die Herausforderungen von Multikulturalität und Pluralismus werden seit Ende der 1980er Jahre zunehmend durch das Phänomen eines neuen islamischen Fundamentalismus1 erschwert, dessen Propagandisten sich dezidiert gegen eine Trennung von Religion und Politik aussprechen und Demokratie, Toleranz und Geschlechtergleichheit als westliche Konzepte diskreditieren. Das ist besonders für Staaten mit muslimischen Bevölkerungsmehrheiten wie Malaysia und Indonesien evident. In beiden Ländern existiert eine zivilgesellschaftliche Opposition gegen Re-Islamisierungen, die nicht zuletzt von Frauen getragen wird.

Staatsislam in Malaysia

In Malaysia ist der Islam Staatsreligion. Etwa 60 % aller Malaysier sind Muslime und zwar malaiische Muslime, denn Malaie sein ist gleichbedeutend mit einer Zugehörigkeit zum Islam. Die 25,6 Mio. Menschen umfassende Bevölkerung setzt sich aus darüber hinaus aus 26 % Malaysiern chinesischer und 8 % Malaysiern indischer oder tamilischer Abstammung und einigen Ureinwohnern zusammen. Sie sind Christen, Hindus, Buddhisten oder Animisten (Definition).

Ureinwohner und Malaien gelten als Bumiputera, als Söhne der Erde, und genießen besondere Privilegien. U. a. werden bestimmte Kontingente an Studien- und Arbeitsplätzen für sie frei gehalten. Mit Hilfe dieser staatlichen Eingriffe sollte die ökonomische Benachteiligung der Mehrheitsbevölkerung Schritt für Schritt aufgehoben werden.

Wie die Bumiputera, so wird auch der Islam in einer besonderen Weise staatlich gefördert. Allerdings herrscht in Malaysia Religionsfreiheit und die Existenz des Staates beruht auf einer nachhaltigen Integration der Nicht-Muslime und Nicht-Malaien.

Bis zum Ende der 1970er Jahre hinein galt Malaysia als Land, in dem Religion keine sehr prominente Rolle spielte. Mit der siegreichen islamischen Revolution im Iran im Jahr 1979 änderten sich weltweit die Vorzeichen für den Islam. Ihm haftete fortan der Ruf einer Erfolg versprechenden postkolonialen Ideologie an, mit dem ein neuer Aufbruch der Muslime in einer globalisierten Welt gelingen konnte, ohne die eigenen religiösen Wurzeln zu verlieren.

In Malaysia wurde die Re-Islamisierung durch Studenten vorangetrieben, die ihre Ausbildung an arabischen Universitäten, besonders in Kairo und Mekka absolviert hatten (vgl. Anwar 1987). Dort waren sie mit der Ideologie der Muslim-Brüder in Kontakt gekommen und hatten sich für einen am saudi-arabischen Wahabismus orientierten Islam begeistert. Nach ihrem Abschluss waren sie in ihre Heimat zurückgekehrt und gelangten schnell in einflussreiche Positionen, die sie nutzten, um die neuen Überzeugungen zu propagieren. Für sie war Malaysia vom wahren Glauben abgefallen bzw. hatte diesen noch niemals wirklich praktiziert. Sie kritisierten den modernen malaysischen Staat als Nachahmung eines westlichen Modells (vgl. Anwar 2005: 121) und forderten eine Rückkehr zu den Prinzipien, die der Prophet Mohammed im 7. Jahrhundert gelebt hatte. Ihre Aufgabe sahen sie in einer inneren Mission der Gesellschaft und dem Aufbau einer dakwah-Bewegung.

Als Forum bot sich die Partai Islam Se-Malaysia (PAS) an, die sich bereits im Jahr 1951 von der regierenden United Malays National Organisation (UMNO) abgespalten, jedoch in den ersten drei Jahrzehnten ihrer Existenz eher ein nationalistisches als islamistisches Profil entwickelt hatte. Durch die Infiltration der heimkehrenden jungen Eiferer radikalisierte sich in den 1980er und 1990er Jahren. PAS-Politiker forderten eine Verfassung auf Grundlage des Qur’an und der Sunna sowie die Implementierung der shari’a als Grundlage des Strafrechts. Innerhalb der malaiischen Bevölkerung stießen diese Ideen auf breite Akzeptanz. 1999 feierte die PAS erdrutschartige Wahlsiege in den Bundesstaaten Kelantan und Terengganu, in denen Malaien die Mehrheit stellen.

An den Rändern der dakwah-Bewegung organisierte sich gleichzeitig auch der gewaltbereite radikale Islam. Malaysia war Rückzugsort der aus Indonesien ins Exil gezwungenen islamistischen Ideologen Abdullah Sungkar und Abu Bakar Ba’ashir, die dort das Fundament für das Netzwerk Jemaah Islamiyah legten, das für eine Reihe von Attentaten, u. a. den Anschlag auf zwei balinesische Diskotheken im Jahr 2002 verantwortlich gemacht wird. Andere gewaltbereite Organisationen sind die Kumpulan Militan Malaysia (KMM) und die Bruderschaft Al-Ma’unah.

Gegen all diese Gruppierungen ging der Staat erfolgreich mit polizeilichen und juristischen Mitteln vor. Anders als diese mitgliederschwachen Vereinigungen, die der staatlichen Verfolgung nicht standhalten konnten, gehörte die PAS zum gesellschaftlichen Establishment und konnte ihren Einfluss trotz staatsfeindlicher Propaganda ausdehnen2

Die UMNO reagierte angesichts dieser Entwicklungen ihrerseits mit einer stärkeren islamischen Rhetorik und kam den Forderungen orthodoxer Muslime in vielerlei Hinsicht nach. Bereits 1982 wurde eine islamische Bank gegründet und 1983 eine islamische Universität. Heute gibt es islamische Versicherungen, eine islamische Wirtschaftsstiftung und eine staatliche Zertifizierungsstelle für islamkonforme Produkte. Islamische Strafen wurden in vielen Bundesstaaten für Ehebruch (zina) und Beziehungen zwischen nicht verheirateten Männern und Frauen verhängt. (khalwat). Die Implementierung von hudud-Strafen in den von der PAS regierten Bundesstaaten, zu denen Steinigung und Amputation von Gliedmaßen gehören, scheiterte an der Verfassung und daran, dass eine Änderung von allen Nicht-Muslimen abgelehnt wird.

Der parlamentarische Siegeszug der PAS war, zur Beruhigung ausländischer Beobachtung, nicht von Dauer und wurde in den Wahlen im Jahr 2004 gestoppt. Die PAS-Mehrheit im Bundesstaat Terengganu ging verloren und eine multiethnische Koalition namens Barisan Nasional (Nationale Front) ging als klare Gewinnerin aus den Wahlen hervor.

Durch die Übernahme eines stärker islamischen Profils in der herrschenden UMNO ist die malaysische Gesellschaft jedoch insgesamt islamisiert worden. Im Alltag wird dies an zunehmendem Druck auf muslimische Frauen deutlich, ihren Körper und Kopf zu bedecken, an der Popularität von halal-Restaurants und an gelegentlichen spektakulären Verhaftungen von Jugendlichen, denen Unzucht vorgeworfen wird, weil sie sich in gemischtgeschlechtlichen Gruppen in der Öffentlichkeit gezeigt hatten. Eine islamische Lebensweise ist im mainstream angekommen.

Sisters in Islam: Streiterinnen für Frauenrechte und einen nicht-patriarchalischen Islam

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind in Malaysia bislang nur schwach entwickelt, was Farish Noor (2002) auf eine neo-feudale Struktur in der Kultur zurückführt. Staatschefs wie Mahathir betonten die Harmonie zwischen Staat und Gesellschaft (vgl. Derichs 2007: 152), sahen zivilgesellschaftliches Engagement als unnötig an und beschränkten den Handlungsspielraum für gesellschaftspolitische Akteure und Akteurinnen mit einer Reihe von Gesetzen, von denen der Internal Security Act, der eine Inhaftierung missliebiger Personen auf unbestimmte Zeit erlaubt, ohne dass in einem Prozess ein Vergehen nachgewiesen werden muss, der am meisten gefürchtete ist.

Trotz dieser widrigen Umstände arbeiten Intellektuelle, vor allem an den Universitäten, weiter am Projekt einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft. Eine kleine Gruppe von Akademikerinnen, die sich 1988 gründete, um gegen die erwähnte Dogmatisierung und Fundamentalisierung des Islam vorzugehen, soll an dieser Stelle besonders erwähnt werden. Sie nennen sich „Sisters in Islam“ (SIS), ein Name, der Programm ist. Die Aktivistinnen empörten sich über islamische Rechtsvorschriften, nach denen der Zeugenaussage einer Frau nur halb so viel Gewicht besitzt wird wie der eines Mannes, nach der Männern Polygynie erlaubt ist und häusliche Gewalt gegen Frauen als im Qur’an verbriefte Maßnahme bei „Ungehorsam“ gerechtfertigt wird.

Als gläubige Musliminnen, so schildert Zainah Anwar, eine der Gründerinnen der Gruppe, ihre Motivation aktiv zu werden, konnten sie sich nicht vorstellen, dass Allah solche Ungerechtigkeiten gutheiße.

Initiiert durch die schwarze US-Amerikanerin Amina Wadud, die zu diesem Zeitpunkt an der Islamischen Universität lehrte und sich mit feministischer Qur’anexegese befasste3, begannen die Frauen, den Qur’an zusammen zu lesen, um herauszufinden, ob die Unterdrückung von Frauen im Text gerechtfertigt wird.

“Unser Lesen öffnete eine Welt des Islam, die wir anerkennen konnten”, schreibt Anwar, “eine Welt für Frauen, die mit Liebe und Gnade, mit Gleichheit und Gerechtigkeit erfüllt war.“4  (Anwar 2001: 228). Nicht der Islam, sondern die patriarchalischen Interpretationen des Qur’an und der Sunna seien die Quellen patriarchalischer Ideologien. SIS trennen zwischen Kultur und Religion, wobei erstere allein für jede Art von frauenfeindlicher und antidemokratischer Interpretation der Quellen verantwortlich gemacht wird.

Der Reichtum der qur’anischen Botschaft sei grenzenlos, betonen sie in einer Publikation, doch man müsse die wirkliche Bedeutung des Wortes Gottes erst noch entschlüsseln. (Sisters in Islam 1994: 3) Die Botschaft Gottes müsse richtig verstanden werden. Aufgrund der patriarchalischen Prägung vieler Rechtsgelehrter sei sie bisher allerdings vielfach falsch gedeutet worden. SIS legten eigene Auslegungen vor, die auf den Diskussionen in der Gruppe basierten. Waduds Autorität als Theologin und ihre fundierte Kenntnis der islamischen Quellen hatte sie ermutigt, diesen Schritt zu gehen und das Deutungsmonopol der konservativen malaysischen Rechtsgelehrten herauszufordern.

Eine Methode der Neudeutung, des neuen Lesens, auf die sich SIS beziehen, besteht in einer historischen Kontextualisierung der qur’anischen Texte. So sei beispielsweise das Recht auf Polygynie, das einem Mann bis zu vier Ehefrauen gestattet, in einer Situation entstanden, in der aufgrund zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen ein Männermangel geherrscht habe. Um die Witwen und deren Kinder zu versorgen, habe Gott den Männern erlaubt, mehrere Frauen zu ehelichen – wenn er eine jede gerecht behandeln könne. Habe er Zweifel an dieser Fähigkeit, solle er es dagegen bei einer belassen, schreibe der Qur’an vor. In Malaysia, betonen SIS, seien keine Witwen zu versorgen, da sich die Zahl von Männern und Frauen die Waage halte. Die qur’anische Bestimmung könne daher keine Anwendung finden, denn sie sei nicht als Privileg, sondern als Verpflichtung gemeint.

Nicht jeder Muslim gesteht den Aktivistinnen solche exegetischen Freiheiten zu. Vor allem die traditionellen Rechtsgelehrten (ulama) bezweifeln die Legitimität der unorthodoxen Interpretationen (vgl. Anwar 2005: 126) und wiederholt wurden SIS sogar der Apostasie (→Definition) beschuldigt (vgl. Martinez 2005: 139) – ein ernster Vorwurf, der im muslimischen Rechtsverständnis ein Vergehen gegen Gott darstellt und damit zu den schwersten Verbrechen gezählt wird.

Bis dato haben solche Vorhaltungen aber noch nicht zu praktischen Konsequenzen geführt und SIS sind längst eine international anerkannte Einrichtung geworden. Auf einer eigenen Internetseite, aber auch mit Hilfe von Broschüren, Tagungen und juristischen Eingaben versuchen die Aktivistinnen einen Bewusstwerdungsprozess in Gang zu setzen und Einfluss auf die malaysische Rechtssprechung zu nehmen.

SIS sind Teil einer globalen islamischen Reformbewegung, die für die Vereinbarkeit von Demokratie, Pluralismus, Geschlechtergerechtigkeit und Islam argumentiert. Sie bekennen sich vorbehaltlos zum Islam und seinen Werten und verstehen ihn sogar als wirksames Gegengewicht zu Kapitalismus und Materialismus. Die Göttlichkeit des qur’anischen Textes wird ebenso wenig in Frage gestellt wie die Vorbildfunktion des Propheten. Der Islam sei ewig, göttlich und von Menschen nicht antastbar. Kultur allerdings sei veränderbar und müsse sogar reformiert werden, damit die Muslime den Gesetzen des Islam entsprechend leben.

Indonesien: Das Prinzip der „Einheit in der Vielfalt“

Auch in Indonesien, dem Land, in dem weltweit die meisten MuslimInnen leben, kämpfen Liberale und FeministInnen gegen eine zunehmende Dogmatisierung des Islam, gegen die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten und die Erstickung bürgerlicher Freiheiten durch islamistische Zensur. Die Voraussetzungen für dieses Engagement unterscheiden sich allerdings in mancherlei Hinsicht.

Die indonesische Nation basiert wie wenige andere explizit auf den Prinzipien des kulturellen und religiösen Pluralismus, und „Einheit in der Vielfalt“ (bhinneka tunggal ika) ist das immer wieder beschworene nationale Motto.

Expliziter noch als in der erwähnten Leitlinie ist Multireligiosität in den nationalen Richtlinien festgehalten, in der so genannten Pancasila.  Pancasila ist ein Pali-Begriff, der fünf (panca) Regeln (sila) bedeutet. Er geht auf  die buddhistische Morallehre zurück, nach der fünf Vergehen vermieden werden sollen: töten, stehlen, lügen, Unsittlichkeit und die Einnahme von Drogen.

Im indonesischen Kontext wurden davon abweichend folgende Prinzipien festgelegt: der Glaube an einen Gott, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Humanität und nationale Einheit. Der erste Leitsatz, der jeden Indonesier und jede Indonesierin zu Monotheismus verpflichtet, erkennt fünf Weltreligionen als gleichberechtigt an. Neben dem Islam, dem 88 % der Bevölkerung angehören, sind dies 9 % Protestanten und Katholiken, 3 % Hindus und Buddhisten.

Die Idee der Pancasila geht auf den ersten Präsidenten des postkolonialen Staates, Sukarno, zurück, der sich damit gegen Forderungen muslimischer Politiker durchsetzte, Indonesien als islamische Republik zu konstituieren. Die autokratische Durchsetzung des Multikulturalismus durch den charismatischen Sukarno stieß auf erheblichen Widerstand, und nicht jeder war bereit, sich damit zu arrangieren.

Zu den erbittertsten Gegenspielern Sukarnos gehörte Sekarmadji Maridjan Kartosowirjo, der den Unabhängigkeitskampf mit der muslimischen Miliz der Hizbullah (‚Armee Gottes’)  in Westjava unterstützt hatte. Ab 1947 proklamierte er einen eigenen Staat Negara Islam Indonesia, den er auch als Darul Islam, Gebiet des Islam, bezeichnete( vgl. Van Dijk 1981). Zwei weitere Führer von Partisanengruppen schlossen sich der Initiative Kartosowirjos in den Jahren 1953 beziehungsweise 1957 an. Sie brachten ebenfalls größere Gebiete unter ihre Kontrolle, Daud Beureueh das Siedlungsgebiet der Acehnesen und Kahar Muzakkar Südsulawesi, und führten bis in die 1960er Jahre einen Guerillakrieg gegen die indonesische Republik5. Hier herrschten die Gesetze des Islam und der Staat war abwesend.

Erst mit der Hinrichtung Kartosowirjos im Jahr 1962 und dem Tod Muzakkars 1965 wurden die Regionen befriedet. Für einen langen Zeitraum geriet der Islam damit in die politische Marginalität. Sowohl Sukarno als auch sein Nachfolger Suharto unterdrückten alle Bestrebungen muslimischer Aktivisten, ihn wieder zu einer politischen Macht werden zu lassen.

Neue Frömmigkeit und islamische Renaissance

Das änderte sich allerdings in den 1980er Jahren. Im Zuge der weltweiten islamischen Erneuerungsbewegung war auch in der indonesischen Gesellschaft eine signifikante Islamisierung zu verzeichnen.

Einen Schwerpunkt der islamischen Renaissance stellen die Universitäten dar, an denen sich seit Mitte der 1980er Jahre Islamstudienkreise und Gebetsgruppen bildeten. Die Studierenden wendeten sich gegen die „Westernisierung“ der Gesellschaft und kultivierten das Gegenbild einer frommen und moralisch integeren Jugend.

Aus diesem Milieu ging Ende der 1990er Jahre die heutige „Wohlfahrts- und Gerechtigkeitspartei (Partai Keadilan Sejahtera, PKS) hervor, deren Wahlerfolge für den Erfolg ihres Konzeptes sprechen. Von 1,4 Prozent bei der Wahl im Jahr 1999 stieg der Stimmenanteil 2004 auf 7,34 Prozent.

Auch der frühere Präsident Suharto, der jahrzehntelang repressiv gegen Muslime vorgegangen war, „entdeckte“ den Islam Ende der 1980er Jahre neu. Als die Zustimmung zu seiner autoritären Herrschaft zu bröckeln begann und sich selbst im Militär, das ihn, den einstigen General stets unterstützt hatte, Opposition zu formieren begann, suchte er bei islamischen Organisationen nach neuen Verbündeten. Er begab sich mit seiner Frau auf eine islamische Pilgerfahrt nach Mekka und präsentierte sich fortan als frommer Mann.

Seit 1990 erlaubte er Schülerinnen, den jilbab zu tragen, ein das Haar, die Stirn, den Hals, die Schultern und teilweise sogar den ganzen Oberkörper verdeckendes Tuch, und die Zahl der Frauen, die sich seitdem „islamisch“ kleidet, nimmt kontinuierlich zu.1991 eröffnete die erste Islamische Bank, das Glückspiel wurde verboten und islamische Organisationen genossen neue Freiheiten.1990 gründete der Präsident selbst die „Vereinigung der Intellektuellen Gesamt-Indonesiens“ (Ikatan Cendekiawan Muslim Se-Indonesia, ICMI), mit Hilfe derer er Vertreter des Reform-Islam einzubinden gedachte.

Gelungen ist ihm dieses Ziel nicht - der Kotau vor dem orthodoxen Islam zahlte sich nicht aus. Suharto wurde 1998 von der indonesischen Zivilgesellschaft, unter aktiver Beteiligung islamischer Organisationen gestürzt. Der Prozess der Re-Islamisierung, den er mit in Gang setzte, ist jedoch kaum noch aufzuhalten und ICMI gehört heute zu den Vereinigungen, die die Islamisierung von Ökonomie und Kultur vorantreiben.

Die Hoffnung, Indonesien über kurz oder lang in einen islamischen Staat umzuformen, treibt nicht nur die PKS oder einige Studentenverbindungen um. Vorstöße gegen den in der Verfassung verankerten Pluralismus werden auch von Vertretern anderer Organisationen laut.

Das bemerkenswerteste Beispiel der jüngsten Zeit ereignete sich im Jahr 2005. Der mächtige indonesische Rat der Islamgelehrten (Majelis Ulema Indonesia, MUI)7  erließ elf fatwas8, mit denen er dem indonesischen Islam eine Richtung zu geben gedachte. Eine der Verlautbarungen verurteilten explizit Liberalismus, Säkularismus und Pluralismus als unislamisch. Auch das gemeinsame Gebet von Angehörigen unterschiedlicher Religionen sei Muslimen verboten, dröhnten sie weiter, ebenso wie die Heirat zwischen Christen und Muslimen.

Seit der Verabschiedung eines Gesetzes zur größeren Autonomie von Provinzen und Distrikten haben die Kräfte des politischen Islam in mehreren Regierungsbezirken die shari’a als Grundlage des Strafrechtes fest verankert oder es wurden Zusatzerlasse verabschiedet, die sich an islamischem Recht orientieren9

Frauen im Visier der Islamisten

Die Folgen sind vor allem für Frauen katastrophal und sorgen seither in nationalen und internationalen Medien für Aufregung. Überall dort, wo die shari’a zur Grundlage von Gesetz und Ordnung erhoben wurde, können Frauen nicht mehr sicher sein. Denunzianten, Richter und neu geschaffene Polizeieinheiten reglementieren sie, behindern sie in ihrer Berufstätigkeit und Freizügigkeit, kontrollieren ihr Aussehen und unterwerfen sie der Autorität männlicher Familienangehöriger. (Vgl. auch Nordin 2002)

Freundschaften mit Männern sind unmöglich und das Verlassen des Hauses nach Einbruch der Dunkelheit ist ganz verboten. Dazu kommt das unkontrollierte Marodieren selbst ernannter Moralwächter, junger Männer, die sich bemüßigt fühlen, Verstöße gegen den Islam eigenhändig zu sanktionieren.

Im Norden Sumatras wurden Frauen die Haare als „Strafe“ für Nicht-Verschleierung geschoren, auf Java wurden sie nach Einbruch der Dunkelheit aus Bussen gezerrt oder von der Straße weg verhaftet, weil eine gläubige Muslima zu dieser Zeit zu Hause zu sein habe.

In der Provinz Nanggroe Aceh Darussalam, in der die shari’a bereits seit 2003 Grundlage des Strafgesetzes wurde, durchkämmt eine neu eingerichtete Religionspolizei (Wilayatul Hisbah) Wohnungen und Büros auf der Suche nach unverheirateten Paaren, es kam zu absurden Bezichtigungen „unzüchtigen“ Benehmens und im Sommer 2005 fanden die ersten öffentlichen Auspeitschungen von Frauen wegen Verstoßes gegen die shari’a statt.

Islamistische Attacken auf Frauen sind aber kein Problem abgelegener Außeninseln oder rückschrittlicher ländlicher Gebiete. Selbst das unmittelbar vor den Toren Jakarta liegende Tangerang, ein Zentrum gehobener mittelständischer Kultur, in dem sich viele internationale Unternehmen niedergelassen haben, verursachen sexistische Übergriffe mittlerweile Schlagzeilen.

Die größte und auch von ausländischen Medien am meisten beachtete Kontroverse wurde durch den Vorschlag mehrerer islamischer Politikerinnen ausgelöst, ein Gesetz gegen Pornographie und pornographische Handlungen zu verabschieden. Besonders der neu geschaffene Begriff pornoaxi, der Pornoaktion, führte zu manchen Irritationen. Was sollte darunter verstanden werden? Nach Meinung konservativer Muslime und Musliminnen sollte ein ganzes Bündel an vermeintlich unzüchtigem Betragen strafrechtlich geahndet werden, so zum Beispiel das Küssen in der Öffentlichkeit, das Tragen von Bikinis, schulterfreien T-Shirts oder traditioneller javanischer und balinesischer Frauenkleidung, erotische Literatur, Darstellungen nackter oder wenig bekleideter Körper in Kunst und Fotografie sowie alle Filmszenen, in denen jede Art von sexuellen Handlungen gezeigt werden. Geldstrafen und sogar mehrjährige Gefängnisaufenthalte sollten denjenigen drohen, die sich eines solchermaßen definierten pornographischen Vergehens schuldig gemacht hatte. Hohe Strafen sollen auch für Ehebruch und das Zusammenleben nicht verheirateter Paare gelten.

Die Formierung der liberalen islamischen Zivilgesellschaft

Proteste gegen die moralische Zwangsjacke kamen von Künstlerorganisationen, von Frauenverbänden und von ethnischen Minderheiten, die ihre kulturellen Ausdrucksformen mit an den Pranger gestellt sahen. Einige balinesische Politiker drohten mit Sezession und Papua-Aktivisten demonstrierten, nur mit dem traditionellen Penisköcher bekleidet, in den Straßen von Jakarta.

Eine Dachorganisation für Frauen und Männer, die für Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Pluralismus eintreten, ist das „Netzwerk Liberaler Islam“ (Jaringan Islam Liberal, JIL), das im Jahr 2001 von einer kleinen Gruppe muslimischer Intellektueller gegründet wurde. Die meisten von ihnen hatten islamische Schulen und ein Studium an einer islamischen Hochschule absolviert, zu einer Zeit, als diese sich gerade für neue Ideen öffneten. Das Ziel von JIL war, dem Islamismus entgegen zu treten und eine neue Kraft in Indonesien zu bilden.

Dem eigenen Verständnis nach fühlt sich JIL einer relativistischen kontextuellen Lesart der heiligen Quellen und der menschlichen Rationalität (itjtihad) verpflichtet. Ijtihad bedeutet dabei, den Verstand zu gebrauchen und sich nicht mit wörtlichen Wiedergaben von Textpassagen zu begnügen, sondern Interpretation anzustreben, die auf dem “ethisch-spirituellen Geist des Qur’an und der Sunna basieren. Eine literalistische Interpretation, wie sie von Islamisten vorgenommen würde, ‘töte’ den Islam. Nur durch eine ethisch-spirituelle Interpretation könne er wachsen und sich kreativ in Übereinstimmung mit einer universalen humanistischen Zivilisation entwickeln.” (JIL: About us)

JIL unterstützt Minderheiten, Unterdrückte und tritt für eine Trennung von Staat und Religion ein. Glaube sei eine persönliche Angelegenheit, schreiben die Aktivistinnen und Aktivisten, genauso wie die Entscheidung nicht zu glauben und keiner Religion anzugehören.

Um ihre Botschaften zu verbreiten, publizieren sie in großen indonesischen Zeitungen, treten auf nationalen und internationalen Konferenzen auf und unterhalten eine Homepage in indonesischer und englischer Sprache, auf der sie Aufsätze zu aktuellen religiösen und politischen Fragen publizieren. Dabei kommen nicht nur indonesische Intellektuelle zu Wort, sondern auch führende liberale und feministische Muslime und Musliminnen aus anderen Ländern.

Das Netzwerk ist zwar in erster Linie indonesisch und möchte auf die nationale Entwicklung Einfluss nehmen, gleichzeitig aber Teil einer transnationalen Bewegung. Feministische Inhalte nehmen einen großen Raum ein und Feministinnen nutzen den Rahmen, um sich zu jeder Art von Themen zu äußern.

Eine der Führungsfiguren des feministischen liberalen Islam ist Lily Zakiyah Munir, die Gründerin und Direktorin des „Zentrums für Pesantren- und Demokratie-Studien“ in Jombang, Ostjava. Sie ist eine fromme Muslimin, verhüllt ihren Körper und trägt den jilbab, ist eine eloquente Rednerin und selbstbewusste Verfechterin eines spezifischen islamischen Feminismus. Ihrer Meinung nach ist der Islam eine Religion, die die Gleichheit der Geschlechter wie auch die Gleichheit der Gläubigen festschreibe. Der Qur’an fordere Gerechtigkeit gegenüber Schwachen, Armen und Frauen. Dass sich diese Ideen in der Realität bislang so wenig durchgesetzt haben, sieht sie als Fehler der Menschen. Man müsste den Islam von den Muslimen unterscheiden, argumentiert sie und kritisiert gleichermaßen Korruption, Patriarchalismus und Engstirnigkeit.

Eine andere Aktivistin, die große Aufmerksamkeit erregt, ist Siti Musdah Mulia, eine promovierte islamische Theologin, die als Vorsitzende einer „Gender Mainstreaming“-Gruppe im Religionsministerium einen Entwurf zur Reform des islamischen Familienrechts vorlegte. Wie Lily Munir (1999) definiert auch Musdah Mulia (2005) Demokratie und Geschlechtergleichheit nicht als westliche, sondern als originär islamische Werte, die schon zu Zeiten Mohammeds gelebt worden seien.

Die Aktivitäten von JIL provozieren und die AktivistInnen müssen immer wieder fürchten, von Islamisten körperlich attackiert zu werden. Als Antwort auf einen Artikel, in dem Ulil Abshar Abdallah, der Koordinator des Netzwerkes, am 18.Februar 2002 seine Ideen einer zeitgemäßen Interpretation des Qur’an in der Zeitschrift „Kompas“ ausführte, erließen Prediger, die unter anderem der PKS und er islamischen Massenorganisation „Muhammadiyah“  angehörten, eine „Todesfatwa“ wegen Blasphemie, wie sie schon gegen Salman Rushdie erhängt wurde. Ulil ließ sich nicht beirren.

Im Juli 2005 erfolgte eine zweite öffentliche Verurteilung: Der „Indonesische Rat Muslimischer Prediger“ (MUI) erließ elf fatwas gegen das pluralistische Indonesien, gegen Liberalismus, Frauenrechte und interreligiöse Ehen. JIL fürchtete tagelang zum Ziel gewalttätiger Aktivitäten radikaler Eiferer zu werden, wurde jedoch nicht angegriffen, weil sich Führer der größten muslimischen Organisation, der Nahdlatul Ulama, für eine Politik der Toleranz ausgesprochen und angekündigt hatte, diese notfalls militant zu verteidigen.

Moderate Denker und Denkerinnen warnen in Malaysia und in Indonesien vor einer weiteren Fundamentalisierung des Islam. Ob sie gehört werden ist zweifelhaft, denn viele Zeichen deuten auf einen späten Sieg des politischen Islamismus; allerdings nicht durch eine revolutionäre Erhebung oder die Machtübernahme einer islamistischen Partei, sondern durch viele kleine Schritte, zu denen juristische Veränderungen ebenso gehören wie neue Kleiderordnungen oder das Diktat einer islamischen Lebensweise.

Vortrag im Rahmen der Veranstaltung Zivilgesellschaft und Religion, Heinrich-Böll-Stiftung, 1.Oktober 2007

Literatur

  • Anwar, Zainah (1987). Islamic revivalism in Malaysia. Dakwah among the students. Petaling Jaya, Pelanduk Publications.
  • Anwar (2005): Law-making in the name of Islam. Implications for democratic governance. In: Nathan, K.S. und Mophammad Hashim Kamali, Hg.: Islam in Southeast Asia. Political. Social and strategic challenges for the 21st century. Singapur: ISEAS, S. 121-134.
  • Derichs, Claudia (2007): Transformation, governance und Zivilgesellschaft in Malaysia. In: Mols; Manfred, Hg.: Staat und Demokratie in Asien. Berlin: Lit, S. 143-164.
  • Martinez, Patricia A. (2005): Is it always Islam versus civil society? In: Nathan, K.S. und Mophammad Hashim Kamali, Hg.: Islam in Southeast Asia. Political. Social and strategic challenges for the 21st century. Singapur: ISEAS, S. 135-161.
  • Mulia, Siti Musdah (2005). Muslimah reformis. Perempuan pembaru keagamaan. Badung, Mizan.
  • Munir, Lily Zakiyah (1999). Memposkan kodrat. Permpuan dan perubahan dalam perspektif Islam. Bandung: Mizan.
  • Nagata, Judith (2005): Open societies and closed minds. ICIP Journal 2 (2): 1-19.
  • Nasr, Seyyed Vali Reza (2001): Islamic Leviathan. Islam and the making of state power. Oxford: Oxford University Press.
  • Nordin, Edriana (2002): Customary institutions, syriah law and the marginalisation of Indonesian women. Women in Indonesia. Gender, equity and development. (Kathryn Robinson/Sharin Bessel Hrsg.),  187-197.Singapur: ISEAS.
  • Noor, Farish A. (2004): Blood, sweat and jihad. The radicalization of the political discourse of the Pan-Malaysian Islamic Party (PAS) from 1982 onwards. In. Contemporary Southeast Asia 25 (2): 200-232.
  • Sisters in Islam (1994): Shari'a law and the modern nation-state. Kuala Lumpur: SIS.
  • Van Dijk, Cornelis (1981): Rebellion under the banner of Islam. The Darul Islam in Indonesia. The Hague: M. Nijhoff.

Fußnoten

1 Zum Begriff des Fundamentalismus existiert eine globale Kontroverse. Viele Autorinnen und Autoren haben  alternative Termini vorgeschlagen, die aber nicht weniger problembehaftet sind. Ich beziehe mich auf eine Definition von Judith Nagata, die einen extremen Dualismus als wesentliches Charakteristikum identifiziert. Der Gemeinschaft der Rechtgläubigen allein wird dabei das volle Menschseins zugestanden, auch hinsichtlich ihres Rechtsstatus. Vgl. Nagata 2005. 
2 Zeitweise propagierten PAS-Führer wie Yusof Rawa eine islamische Revolution nach dem Vorbild des Iran, und bekämpften Säkularismus und Materialismus als vermeintliche Übel der Moderne. Vgl. Nasr 2001: 107.
3 Amina Wadud hatte gerade eine Dissertation über “The Qur’an and Woman” fertig gestellt.
4 Übersetzung Schröter.
5 Die Motive beider Warlords, sich der Republik zu verweigern, waren zunächst allerdings primär weltlich motiviert. Muzzakar rächte sich dafür, dass seine Miliz nicht in das indonesische Heer integriert, sondern demobilisiert werden sollte, und für Beureueh spielte der Plan, Aceh in die unter anderem von Christen bewohnte Provinz Nordsumatra zu integrieren, eine entscheidende Rolle.
6  Mittlerweile ist sogar eine eigene islamische Modeindustrie entstanden, da man durchaus keinen „Einheitslook“ bevorzugt, sondern den Status der Trägerin zum Ausdruck bringen möchte.
7 Der MUI wurde 1975 auf Anregen Suhartos als Dachorganisation indonesischer Muslime gegründet.
8 Fatwas sind Rechtsgutachten zu Fragen, die sich nicht automatisch aus dem Qur’an oder der Sunna beantworten lassen. Es handelt sich nicht um verbindliche Anweisungen, sondern um Empfehlungen und Interpretationen. Trotzdem besitzen sie eine große Wirkung im Hinblick auf die Gestaltung nationalen Rechts und auf religiöse und politische Praxen. Im Extremfall sehen sich Muslime durch fatwas sogar zum Mord an Dissidenten aufgerufen, wie anlässlich der fatwa Ayatollah Khomeinis gegen Salman Rushdie im Jahr 1980, die im Jahr 2007 noch einmal bestätigt wurde.
9 Im Familien- und Erbrechtrecht waren für Muslime ohnehin islamische Rechtspraxen bindend.

 

Susanne Schröter ist Professorin für Südostasien-Studien an der Universität Passau.