Die Zukunft der Entwicklung oder ein Akteur unter vielen? MigrantInnen als Akteure der Entwicklungspolitik

 

von Eva Gerharz

„Nächsten Monat werde ich mit einem Freund in unser Heimatdorf reisen. Wir wollen dort den Tempel wieder aufbauen, der im Krieg zerstört wurde. Wir haben unsere Freunde und Bekannten hier gefragt, es ist schon etwas Geld zusammengekommen.“

Der Tamile, der mir hier von seinen Plänen berichtete, war, wie so viele andere, wegen des Krieges in seiner Heimat Sri Lanka nach Europa gekommen. Seitdem lebt er gemeinsam mit seiner Frau in Deutschland. Mit dem Waffenstillstandsabkommen von 2002, der in Sri Lanka zwischen der sri lankanischen Regierung und der tamilischen LTTE (LTTE ist die Abkürzung für Liberation Tigers of Tamil Eelam, üblich ist auch die Bezeichnung „Tigers“ oder „Freihheitstiger“. Hierbei handelt es sich um die Widerstandsbewegung, die seit den 1970er Jahren für die Unabhängigkeit eines eigenen tamilischen Staates kämpft) unterzeichnet wurde, schöpften sie Hoffnung auf eine Besserung der Lage in der Heimat. Obwohl das Ehepaar nach Möglichkeit in Deutschland bleiben wollte, war der Kontakt zur Heimatregion sehr wichtig. Den Tempel im Heimatdorf wieder aufzubauen, sah der Mann als seine Pflicht gegenüber den dort gebliebenen Dorfbewohnern an, die er zusammen mit anderen MigrantInnen aus dem Dorf verwirklichen wollte.

Der Friedensprozess eröffnete sri lankanischen MigrantInnen ganz neue Möglichkeiten, um den Kontakt zur Heimat wieder aufzunehmen, was zuvor wegen der Kampfhandlungen quasi unmöglich war. Wegen der dringenden Notwendigkeit, Wiederaufbau zu leisten und den Entwicklungsprozess in den stark vernachlässigten Gebieten anzukurbeln, begannen individuelle MigrantInnen und auch Migrantenorganisationen, sich in der Heimat zu engagieren. Sie sammelten Gelder um diese an Entwicklungsprojekte zu spenden, initiierten selbst Wiederaufbaumaßnahmen oder opferten Urlaub und Freizeit, um vor Ort Hilfe zu leisten.1 

Das Engagement von Migrantinnen und Migranten für Entwicklung, das in Sri Lanka nach dem Waffenstillstandsabkommen eine wichtige Entwicklungsdimension darstellte, ist keineswegs ein Einzelfall, sondern Ausdruck eines globalen gesellschaftlichen Phänomens, das in der Entwicklungszusammenarbeit zunehmend beachtet wird. Weltweit migrieren Menschen aus den sogenannten Entwicklungsländern und erhalten transnationale Verbindungen aufrecht, indem sie sich für Entwicklung in der Heimat einsetzen. Laut dem Weltbevölkerungsbericht von 2006 gibt es heute 161 Millionen internationale MigrantInnen, 95 Millionen davon sind Frauen.

Die Beweggründe für Migration sind sehr unterschiedlich. Die TamilInnen aus Sri Lanka gelten gemeinhin als Bürgerkriegsflüchtlinge, die in den jeweiligen Aufnahmeländern eine Diaspora gebildet haben. Sie werden als Gemeinschaft von Menschen angesehen, die vor allem den Bezug zum gemeinsam „vorgestellten“ Heimatland teilen. Es geht in der Diasporaforschung nicht immer darum, ob das Heimatland in der Form wirklich existiert, vielmehr bezieht man sich in der Diaspora auf die Vorstellung eines Heimatlandes, das wie viele tamilischen Sri Lankaner hoffen, in Form eines unabhängigen Staates realisiert wird. Dies bedeutet zwar nicht unbedingt, dass selbst nach Jahren noch eine Rückkehr angestrebt wird, jedoch sehen viele Mitglieder eine Option darin, zwischen dem Heimat- und Aufnahmeland zirkulieren zu können. Der Kontakt bleibt wichtig und wird über Engagement in der Politik oder Öffentlichkeit, Lobbying oder finanzielles Engagement erhalten.

Andere Muster finden wir bei ArbeitsmigrantInnen, die für einige Jahre im Ausland arbeiten und dann zurückkehren. Auch wenn einige ArbeitsmigrantInnen wieder und wieder ins Ausland gehen, lassen sie sich später meist wieder im Heimatland nieder. Für den Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung gelten für diesen Migrationstypus andere Annahmen, da sie zwar große Summen von Geldern überweisen, jedoch seltener heimatbezogene Organisation bilden oder gar als Experten für Entwicklung angesehen werden. Häufig gestalten sich die Kontaktmöglichkeiten zur Aufnahmegesellschaft anders und die Möglichkeiten, auf eigene Verantwortung mobil zu sein und zwischen den Ländern zu zirkulieren, sind sehr begrenzt. ArbeitsmigrantInnen verlassen ihre Heimat häufig vorrangig, um Geld zu verdienen, das sie zurückschicken können. Das bedeutet aber nicht, dass die Bedeutung von Arbeitsmigration für Entwicklung geringer ist, die Umstände, Voraussetzungen und Möglichkeiten sind nur andere.
Sämtliche MigrantInnengruppen tragen zur Bedeutung der Geldrücküberweisungen (remittances) als „Entwicklungshilfe durch MigrantInnen“ bei.

Im Jahr 2006 haben MigrantInnen laut migrationinformation.org weltweit schätzungsweise 268 Milliarden US-Dollar zurück überwiesen. Diese Summe übersteigt die der offiziellen Entwicklungsgelder bei weitem und die Potentiale dieser Gelder für Entwicklung sind dementsprechend offensichtlich. Jedoch kann das Engagement von MigrantInnen für Entwicklung auch andere Formen annehmen. MigrantInnen transportieren Wertvorstellungen, die in Interaktion mit Akteuren in der Heimat; im sogenannten transnationalen Raum fortwährend verhandelt werden. Insbesondere hochqualifizierte MigrantInnen wird darüber hinaus das Potential zugeschrieben, in den sogenannten Entwicklungsländern relevantes Wissen zu vermitteln.

Diese drei verschiedenen Dimensionen des Engagements von MigrantInnen werden im Folgenden kurz vorgestellt, und anhand des Falls Sri Lanka und anderer Beispiele diskutiert. Abschließend wird anhand der Arbeitsschwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Feld Migration und Entwicklung Bilanz gezogen indem die verschiedenen Aspekte der Diskussion darauf bezogen werden.
 

Geld für Entwicklung?

Meist schicken einzelne MigrantInnen Geld an Familienmitglieder, die im Herkunftsland verblieben sind (individual remittances). In einigen Ländern ist der Anteil, den die jährlichen Überweisungen von Arbeiterinnen aus dem Ausland zum Bruttoinlandsprodukt beitragen enorm und übersteigt in vielen Ländern die Fünf-Prozent-Marke. (aktueller Überblick). Diese Form der Überweisungen wird zwar meist nicht mit Entwicklung im Sinne von geplantem sozialem oder ökonomischem Wandel in Verbindung gebracht sondern häufig „nur“ als Sicherung des Lebensunterhalts angesehen, die kaum gesellschaftlichen Veränderungen mit sich zieht, sondern Abhängigkeiten produziert.

Im Nordosten Sri Lankas wurden seit Jahren Gelder an Verwandte überwiesen, die in den Kriegsgebieten zurückgeblieben waren. Während des Krieges waren die lokalen Märkte zusammengebrochen und die Menschen konnten aufgrund von Flucht, Vertreibung, Verminung der Felder oder sicherheitsbedingter Restriktionen in der Fischerei selbst keine Nahrungsmittel produzieren. Die Unzugänglichkeit mancher Gebiete und ein „sicherheitsbedingtes“ Embargo trieben die Preise für Produkte wie Zement, Benzin, Kerosin oder Medikamente in unglaubliche Höhen, die nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich waren. Viele Menschen sind bis heute der Meinung, dass sie diese Zeit ohne das Geld der Verwandten im Ausland nicht überlebt hätten. Angesichts der Fortdauer des Notstandes funktionierte das Bankenwesen in den Kriegsgebieten nicht mehr, weswegen die MigrantInnen auf informelle Kanäle zurückgreifen mussten um die Gelder überweisen zu können.

Individuelle Rücküberweisungen bergen darüber hinaus wichtiges Potential, da sie neben der Überlebenssicherung finanzielles Kapital für Aktivitäten liefern können, die soziale Transformationsprozesse in Gang setzen. Sie bieten die Möglichkeit zu Investitionen verschiedenster Art, beispielsweise in Bildung, Gesundheitsversorgung, Sicherung der Lebensqualität und des Lebensstandards. Remittances können auch hilfreiche Unterstützung bei wirtschaftlichen Investitionen bieten. Sie tragen aber auch zu einer Verbesserung des sozialen Status bei, wenn sie in Brautgelder, ein neues Haus oder Auto investiert werden. Überweisungen für solche Zwecke sind häufig als „unproduktiv“ kritisiert worden, jedoch sollte nicht übersehen werden, dass sozialer Status auch eine wichtige Dimension von Entwicklung darstellt, da Investitionen solcher Art in die Logiken lokaler sozialer Ordnung eingebettet sind. Auch auf diese Weise wird sozialer Wandel vorangetrieben, der als wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Entwicklung gelten kann.

Hier stellt sich also die Frage den Entwicklungsvorstellungen der beteiligten Akteure, die je nach Kontext sehr unterschiedlich sein können.

Gelder werden auch von Migrantengruppen, -organisationen oder anderen Zusammenschlüssen an ebensolche kollektiven Akteure vor Ort geschickt (collective remittances). Es gibt sehr unterschiedliche Muster und Organisationsformen, je nach Land und spezifischem sozio-kulturellem Kontext. Der eingangs vorgestellte Tamile beispielsweise, hat sich mit Freunden zusammengetan und übergibt das Geld vor Ort dem lokalen Tempelverein. Verschiedene MigrantInnen-Organisationen wie Ärztevereinigungen, IT-Experten oder Kulturorganisationen arbeiten mit Krankenhäusern, Schulen und anderen Institutionen in Sri Lanka und anderen Ländern zusammen und übergeben Gelder oder Sachspenden. Ein exemplarischer Fall ist der Typus der Alumni-Netzwerke, die sich aufgrund ihres konkreten Bezugs zu einer Bildungseinrichtung in der Heimat zusammengefunden haben und häufig transnational über mehrere Länder hinweg vernetzt sind, teilweise sogar länderunabhängige Organisationsformen aufweisen.

Diese grobe Einteilung in individuelle und kollektive Geldüberweisungen wird jedoch der Komplexität der monetären Zuwendungen von MigrantInnen an ihre Heimat bei weitem nicht gerecht. In der Entwicklungszusammenarbeit ebenfalls wichtig sind Spenden Einzelner an Entwicklungsorganisationen vor Ort. NRO oder Vereine rufen in ihren Internet-Auftritten zu Spenden auf, in anderen Fällen treten sie direkt an migrierte Bekannte heran und bitten um Spenden. Diese Praxis erinnert stark an individuelles Fundraising, das wir von Wohlfahrts- und Entwicklungsorganisationen in den westlichen Ländern kennen. Hauptsächlich zu diesem Zweck haben manche tamilische Organisationen bereits seit den späten 1970er Jahren Partnerbüros in den einschlägigen Zielländern der Migration eröffnet.

Genau an diesem Fall können jedoch die Grenzen der Annahme deutlich gemacht werden, dass Geldrücküberweisungen als Ausdruck der Verbindung von Migration und Entwicklung gemeinhin positive Synergieeffekte bewirken. In den westlichen Aufnahmeländern sind die Büros einiger tamilischen Organisationen, die Gelder für humanitäre Zwecke im Heimatland sammeln, in die Kritik geraten, manche sogar verboten worden. Aufgrund ihrer politischen Ausrichtung werden sie als „LTTE-Sympathisanten“, und damit als potenziell terroristische Vereinigungen angesehen, die gerade nicht Entwicklung fördern, sondern mit den angeworbenen finanziellen Mitteln den Krieg weiter anheizen. So vermutet der deutsche Verfassungsschutzbericht von 2007: „Auch wenn Spendenaufrufe immer wieder mit humanitären Zwecken begründet werden, dürfte ein Teil des gesammelten Geldes der militärischen Logistik zugute kommen“. (Verfassungsschutzbericht 2008, S. 280)

An diesem Fall wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Entwicklungsakteur und transnationaler Kriegspartei fließend sind. Werden einzelne Diaspora-Organisationen von der einen Seite als Entwicklungsakteur entdeckt, besteht die andere Seite darauf, dass es sich dabei um „Kriegstreiber“ oder gar um eine terroristische Vereinigung handele. Der Schluss liegt jedoch nahe, dass MigrantInnen beides gleichzeitig können, zur Entwicklung beitragen und die militärischen Aktivitäten von Unabhängigkeitsbewegungen unterstützen. Ob nun eine Maßnahme entwicklungsfördernd ist und eine andere nicht, beurteilen in dem Fall die beteiligten Akteure sehr unterschiedlich. Während Krieg führen gemeinhin als „unproduktiv“ angesehen wird, sieht die tamilische Befreiungsbewegung darin eine Notwendigkeit, um die Voraussetzungen für Entwicklung überhaupt erst zu schaffen.

Wertvorstellungen für Entwicklung? 

Die möglichen Überlappungen von positiver und negativer Einflussnahme von MigrantInnen auf Transformationsprozesse im Heimatland müssen nicht nur monetärer Art sein, sondern können auch andere Formen annehmen, z.B. über die Vermittlung von Werten und Wissen.

Mit dem Begriff social remittances hat Peggy Levitt (1998) vor wenigen Jahren die Vermittlung von Wertvorstellungen und Normen in transnationalen Kontexten charakterisiert. Es handelt sich dabei um Ideen, Verhaltensweisen und Identitätsmuster, die von den Aufnahmekontexten in die Heimat übertragen werden und Praktiken, Werte und normative Haltungen umfassen.

Häufig werden mit dem Begriff social remittances auch Konzepte wie Menschenrechte, Demokratie, Gleichheit, Freiheit oder Gewaltlosigkeit gemeint, die MigrantInnen idealerweise von den Aufnahmeländern mit in die Heimat nehmen um sie dort zu verbreiten (Faist 2008, S. 22). In diesem Zusammenhang können MigrantInnen als Vermittler in Friedensverhandlungen und in der Erarbeitung von Lösungsansätzen bedeutsam sein. Rückkehrende oder zirkulierende MigrantInnen transportieren also Praktiken und Haltungen, die lokale Veränderungsprozesse in Gang bringen und so für entwicklungsrelevanten sozialen Wandel sorgen.

Ein Beispiel wären soziale Ungleichheitsmuster die im Zuge transnationaler Vergesellschaftung aufgebrochen werden, wie Geschlechterdifferenz oder Kastenunterschiede betreffend. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass Re-migrantInnen in manchen Kontexten eher zur Verhärtung der Grenzen beitragen. Beispielhaft sind bangladeschische Männer, die islamisch orientierten Wertvorstellungen aus Malaysia zurück bringen, die häufig mit Mitgliedschaften in extremistischen politischen Parteien verknüpft sind. Aus der Migration zurückkehrende bangladeschische Frauen tendieren eher dazu, Geschlechtergleichheit und persönliche Freiheit in den Mittelpunkt ihrer Entwicklungsvorstellungen zu rücken (Dannecker 2009). Im Falle sri lankanischer muslimischer MigrantInnen, die von Arbeitseinsätzen im Mittleren Osten zurückkehrten, konnte hingegen eine Hinwendung zu rigideren Formen der Abgrenzung beobachtet werden (Thangarajah 2004). Um auf unseren Tamilen zurückzukommen, der dem Tempel in seinem Heimatdorf Wiederaufbauhilfen bereitstellte, so kann vermutet werden, dass diese Zuwendungen auch Teil des lokalen Widerstandes sind.

Während meiner Aufenthalte vor Ort gab es immer wieder Stimmen, die das Engagement von MigrantInnen für religiöse Einrichtungen kritisierten. Man solle doch besser in „sinnvolle“, soziale Projekte investieren. Tatsächlich gab es große Diskrepanzen zwischen den MigrantInnen, die mit dem Wiederaufbau der heiligen Stätten und Tempel einen symbolischen Beitrag zum Wiederaufbau leisten, sicherlich aber auch entsprechend traditioneller Wertvorstellungen ihren durch die Migration verbesserten sozialen Status demonstrieren wollten. Dabei wurde übersehen, dass ein derartiges Engagement längst überkommen ist und sich die lokalen Praktiken hin zu einer deutlichen Orientierung an konventionellen Entwicklungsakteuren wie NGO usw. gewandelt haben. 

Die kulturellen Werte, Praktiken und Vorstellungen, die MigrantInnen im Zuge ihres Engagements in den heimatlichen Kontext mitbringen, können also nicht immer grundsätzlich als positiver Beitrag gewertet werden. Im Gegenteil, gerade in Konfliktzusammenhängen können wir immer wieder sehen, dass Diaspora-Mitglieder politische Entscheidungsprozesse beeinflussen und mit politischen oder moralischen Forderungen gewaltsame Auseinandersetzungen verschärfen können. Bei der Bewertung des Engagements der MigrantInnen ist also entscheidend, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen und in die Analyse mit einzubeziehen, bevor es als Beitrag zu Entwicklung gewertet werden kann.

Im Gegenteil, häufig stimmen die Vorstellungen der MigrantInnen oder ihrer Organisationen nicht mit dem überein, was sich lokale Gesellschaftsmitglieder unter Entwicklung vorstellen. Mit gutem Grund haben Entwicklungsagenturen Abstand von Entwicklungsmodellen gewonnen, die auf der paternalistischen  Übertragung kultureller Muster beruhen. Im letzten Teil dieses Beitrags komme ich auf diese Fragen zurück.

Experten für Entwicklung?

In manchen Ländern engagieren sich Diaspora-Mitglieder, indem sie beratend tätig sind oder als Freiwillige in verschiedenen Institutionen mitarbeiten. Die aktuelle Debatte um Migration und Entwicklung beschreibt diese Potentiale der MigrantInnen als Brain Gain, ein Begriff der als Antwort auf die herkömmliche Annahme des Brain Drain verstanden werden kann.

Während Brain Drain den Prozess der Abwanderung von qualifizierten Fachkräften aus Entwicklungsländern beschreibt, der stets als elementarer Effekt von Migration aus Entwicklungsländern verstanden wurde, geht es bei Brain Gain um die entgegen gesetzte Richtung: Migration ermöglicht hochqualifizierten Fachkräften, die im Ausland arbeiten oder gearbeitet haben, ihr Wissen auch im Heimatland bereit zu stellen und so einen positiven Beitrag zu Entwicklung zu leisten. Voraussetzung dafür ist die Zirkulation zwischen Aufnahmeland und Heimat bzw. direkte Wirtschaftskooperationen.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung des Brain Gain und seiner Potentiale für Entwicklung ist die wachsende Bedeutung Indiens im Bereich Informationstechnologien (IT). Indische Ingenieure und Computerspezialisten wanderten in den letzten drei Jahrzehnten in die USA aus und trugen entscheidend zur Entwicklung des IT-Sektors in den USA bei. Später migrierten einige der indischen IT-Experten aus den USA zurück nach Indien und trieben dort die Entwicklung des IT-Sektors voran indem sie ihr Wissen einsetzten und verbreiteten. Einige hatten sich auch in eigenen Organisationen zusammengeschlossen und sorgten für die Vernetzung zwischen den IT-Zentren der USA mit denen Indiens. Mittlerweile hat sich vor allem Bangalore im südindischen Bundestaat Karnataka als Zentrum der Computerindustrie etabliert und ist als Indiens Silicon Valley bekannt geworden. Jedoch ist der Erfolg dieses Modells auch in anderen Teilen Südasiens durchaus bemerkbar. Selbst in kleineren Städten blühen der IT-Sektor und die damit verbundenen Dienstleistungen.

Der Erfolg der indischen Computerexperten dient als Paradebeispiel für andere Länder. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Nordostens von Sri Lanka ist das Modell aufgegriffen worden, denn auch tamilische MigrantInnen fanden Arbeit in den amerikanischen IT-Zentren wie Silicon Valley und etablierten sich als dort als hochqualifizierte Fachkräfte. Im Zuge des Friedensprozesses gründeten einige, dem indischen Beispiel folgend, die International Tamil Technical Professionals’ Organization (ITTPO), sammelten Gelder bei KollegInnen, Freunden und Bekannten, und riefen über eine Yahoo Discussion Group zu weiteren Spenden auf. Mit dem Geld wurde 2003 im tamilischen Kilinochchi die Computerakademie VanniTech gegründet. VanniTech hat sich zum Ziel gesetzt, junge Sri LankanerInnen, insbesondere TamilInnen aus den Kriegsgebieten, zu IT-Experten auszubilden.

Diaspora-TamilInnen und andere Freiwillige aus den westlichen Ländern werden als LehrerInnen angeworben. Neben Computerexpertise legt VanniTech Wert auf die Vermittlung englischer Sprachkenntnisse, da diese einen essentiellen Bestandteil einer zeitgemäßen Ausbildung darstellen. Ferner hat VanniTech eine „Wunschliste“ von Materialen und Hardware zusammengestellt, die von Privatpersonen oder Organisationen gespendet werden können. Für die Ausbildung der Nachwuchsexperten wählten die Initiatoren bewusst die Kleinstadt Kilinochchi als Standort für ihre IT-Akademie. Verglichen mit anderen Teilen des Nordostens wurde das ausschließlich von TamilInnen bevölkerte Kilinochchi durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen und gilt heute als eine der ärmsten Regionen.

Die Initiatoren von VanniTech wollten mit ihrer hochmodernen Computerschule ein positives Zeichen setzen um den Wiederaufbau und die Entwicklung dieser Gegend voranzutreiben, in der bis Ende 2003 der Strom mit Hilfe von Generatoren hergestellt werden musste. Unglücklicherweise ist Kilinochchi aber auch das Zentrum der tamilischen Widerstandsbewegung LTTE. Es wird vermutet, dass die LTTE in den von ihr kontrollierten Gebieten keine Organisationen oder Maßnahmen zulässt, die ihr nicht zumindest Sympathie entgegen bringen. Als aber auch noch ein wichtiger LTTE-Funktionär bei der Einweihung von VanniTech zugegen war, war klar, dass die Institution als der LTTE nahestehend und damit als potentiell dem Terrorismus zuträglich eingestuft werden muss.

Laut einem der Gründerväter sei dieser Vorwurf ungerechtfertigt und eine Verbindung mit der LTTE habe bei der Gründung von VanniTech nicht auf der Agenda gestanden. Lediglich auskommen müsse man mit der LTTE, wenn man in dem von ihr kontrollierten Gebiet arbeiten wolle. Inwiefern die LTTE in den gegenwärtigen militärischen Auseinandersetzungen mit den Truppen der Sri Lankanischen Regierung von dem durch VanniTech generierten Wissen profitiert, ist nicht bekannt. Inwiefern Diaspora-Initiativen lokal eingebettet sind ist also eine Frage, die immer vor der Bewertung solcher Maßnahmen gestellt werden muss. Dabei ist größtmögliche Vorsicht geboten, denn gerade der hier vorgestellte Fall zeigt, dass die Intentionen der engagierten MigrantInnen unter Umständen ganz andere sein können als die Interpretationen, die in lokalen Diskursen um diese Maßnahmen vorgefunden werden können.

MigrantInnen in der Entwicklungszusammenarbeit

Die hier vorgestellten Bereiche, in denen MigrantInnen zur Entwicklung in ihrem Heimatland beitragen können, hängen eng miteinander zusammen. Häufig rekrutieren lokale Organisationen, die Spenden aus der Diaspora erhalten, auch freiwillige Migranten. ExpertInnen bringen zu ihren Arbeitseinsätzen neben Expertise Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung mit, wodurch lokale Transformationsprozesse in Gang gesetzt werden. Der Beitrag von MigrantInnen kann aber auch negative Auswirkungen auf sozialen Wandel haben und, wie gezeigt wurde, einen Beitrag zum bewaffneten Konflikt leisten.

Die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), die offizielle Vertreterin der bilateralen technischen Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands, konzentriert sich gegenwärtig auf drei ausgewählte Aktionsfelder im Bereich Migration und Entwicklung, zwei von diesen möchte ich abschließend etwas Aufmerksamkeit widmen2. Erstens ist ein Instrument entwickelt worden, das den Transfer von finanziellen Ressourcen durch MigrantInnen in die Heimatländer erleichtert.

Auf der Internetseite www.geldtransfair.com können MigrantInnen, die Geld in ihr Heimatland schicken, wollen herausfinden, welches Geldinstitut den günstigsten Weg unter welchen Bedingungen anbietet. Damit soll informellen Kanälen zur Überweisung, die als unsicher gelten, Einhalt geboten werden.3 Wichtig ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass das Bankenwesen in Krisengebieten häufig aus Sicherheitsgründen nicht funktioniert, selbst wenn die Bevölkerung prinzipiell Zugang zum Bankenwesen erhalten hätte.

Außerdem können individuelle remittances bestehende Ungleichheiten reproduzieren, denn häufig migrieren die Mitglieder einer Gesellschaft, die es sich leisten können und die, die über bessere Chancen verfügen, eine gute Arbeit zu finden, können mehr Geld zurück schicken. Daher können in vielen Kontexten kollektive remittances aus Sicht einer auf Armutsbekämpfung abzielenden Entwicklungszusammenarbeit sinnvoller sein, da sie bessere Möglichkeiten zur Umverteilung der finanziellen Mittel eröffnen.

An dieser Stelle kann jedoch gefragt werden, inwieweit Entwicklungszusammenarbeit regulierend eingreifen kann oder soll und welche Art von Entwicklungspolitik die richtige Handlungsorientierung liefert. In den letzten Jahren haben wir gesehen, dass der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen zwar sehr wichtig für gesellschaftliche Entwicklung ist, die Förderung von NRO jedoch auch negative Folgen für Transformationsprozesse haben kann. Natürlich wäre die Annahme zu einfach, dass es sich bei NRO per se um wohlfahrtliche, grassroots-orientierte Institutionen handele.

Es kann durchaus vorkommen dass NRO, ebenso wie Staaten, klientelistische Strukturen ausbilden und bestehende Machtverhältnisse reproduzieren oder verstärken. An dieser Stelle bedarf es also jeweils einer genauen Analyse der beteiligten Akteure und ihrer Handlungsrationalitäten, um die im Kontext der Migration vorhandenen Potentiale einschätzen und deren Einsatz zu unterstützen.

Der zweite Schwerpunkt der GTZ liegt auf der Kooperation mit Diasporagemeinschaften. Durch eine intensivere Zusammenarbeit sollen Synergieeffekte erzielt werden, da MigrantInnen über länderspezifische und fachspezifische Kenntnisse verfügen und gleichzeitig von den professionellen Ansätzen und dem fachlichen und technischen Know-How der Entwicklungsorganisationen profitieren. Dabei werden die MigrantInnen als „Brückenbauer“ gesehen und ihnen werden besondere Kompetenzen in der Vermittlung zwischen Ländern und Kulturen zugeschrieben. Im Zusammenhang mit dem eingangs beschriebenen Beispiel des Wiederaufbaus eines Tempels habe ich gezeigt, dass dem nicht notwendigerweise so sein muss.

Häufig leben MigrantInnen lange nicht mehr im Heimatland und ihre eigenen Handlungsrationalitäten und Entwicklungsvorstellungen sind weit von denen der lokalen Akteure entfernt. Nicht immer stimmen ihre Prioritäten also mit den lokalen überein. Durch die Zusammenarbeit jedoch sollen MigrantInnenorganisationen als Akteure gestärkt werden, die gemäß der Annahme ihrer lokal angepassten Entwicklungsvorstellungen agieren. Auch ist die Annahme, dass sich die Vorstellungen mit denen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit decken, zu einfach.

Die wichtigste Frage in dem Zusammenhang ist also: Was bedeutet denn Entwicklung in welchem Kontext? Wer definiert Entwicklung und wie? Welche unterschiedlichen Handlungsrationalitäten treffen aufeinander wenn Entwicklung gestaltet werden soll? Ist die Entwicklungszusammenarbeit überhaupt bereit, sich auf die jeweiligen Vorstellungen von Nicht-Entwicklungsfachleuten einzulassen und anders herum?

Fazit

Wir haben in über fünfzig Jahren Entwicklungszusammenarbeit gelernt, dass dies die brennenden Fragen sind, an denen sich letztlich der Erfolg von Entwicklungsmaßnahmen festmacht. Wir haben auch festgestellt, dass es eingehender Untersuchungen der lokalen Einbettung von Entwicklung bedarf, um die unterschiedlichen Handlungslogiken aufzudecken  und sich so letztlich den angestrebten Entwicklungspartnerschaften zu nähern. (Elwert/Elwert-Kretschmar 1990)

Es geht also nicht darum, Entwicklungsmaßnahmen per Definition als solche zu betrachten sondern genauestens zu untersuchen, welche Interaktionen zwischen den beteiligten Akteuren stattfinden, wie diese in den sozialen Arenen situiert sind und welche Vorstellungen von Entwicklung die unterschiedlichen Akteure vertreten um dann in einem nächsten Schritt Entwicklungsmaßnahmen entsprechend anpassen und planen zu können.

Dass MigrantInnen wichtige Akteure in Entwicklungspartnerschaften sein können ist eine wichtige Erkenntnis, und es ist richtig, dass sie zukünftig stärker in die Zusammenarbeit mit einbezogen werden sollten. Es zeigt sich jedoch, dass es nicht damit getan ist, MigrantInnen grundsätzlich als geeignete Entwicklungsakteure zu begreifen. Stattdessen ist der Blick auf die lokale Einbettung und auf das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure entscheidend für die Konzeptionalisierung von Entwicklungsmaßnahmen. Hier eröffnet sich ein neues Feld für die Entwicklungsforschung und die Entwicklungszusammenarbeit, dessen Untersuchung noch ganz am Anfang steht. 

 

Endnoten

1  Die hier verwendeten Beispiele aus Sri Lanka stammen aus meinem Datenmaterial, das ich zwischen 2002 und 2004 im Rahmen meiner Dissertationsforschung erhoben habe. Die Dissertation „Translocal Negotiations of Reconstruction and Development in Jaffna, Sri Lanka“ wurde 2007 an der Universität Bielefeld abgeschlossen. Siehe auch Eva Gerharz (2008): Translokale Aushandlungen von Entwicklung. Eine akteurszentrierte Analyse des Wiederaufbauprozesses in Jaffna nach Sri Lankas Waffenstillstandsabkommen 2002.
2 Der dritte Bereich „Brain Drain“ dem sich die GTZ widmet, ist relativ unspezifisch zielt auf Maßnahmen  ab, die eine Weitergabe des Know-Hows von MigrantInnen an die sog. Herkunftsländer unterstützen. Diese Dimension wurde bereits weiter oben diskutiert. Zu den Aktivitäten der GTZ siehe hier
3  Informelle Kanäle können auch von terroristischen Vereinigungen kontrolliert werden, die aus den Gebühren finanzielle Mittel für sich selbst beziehen. Eine Formalisierung dieser kann also auch der Terrorbekämpfung zuträglich sein. Diesen Punkt führe ich hier nicht weiter aus.

Literatur

  • Peggy Levitt (1998): Social Remittances: Migration Driven Local-Level Forms of Cultural Diffusion, in: International Migration Review 32 (4), 926-948
  • Thomas Faist (2008): Migrants as Transnational Development Agents: An Inquiry into the Newest Round of the Migration-Development Nexus, in: Population, Space and Place 14, 21-42, Seite 22.
  • Petra Dannecker (2009): Migrant Visions of Development: A Gendered Approach, in: Population, Place, Space (im Erscheinen).
  • Yuvi Thangarajah (2004): Veiled Constructions: Conflict, Migration and Modernity in Eastern Sri Lanka, in: Osella, Filippo and Gardner, Katy (eds.) Migration, Modernity and Social Transformation in South Asia, New Delhi/Thousand Oaks/London: Sage Publications, 163-188.
  • Elwert/Elwert-Kretschmar (1990): Mit den Augen der Beniner. Eine andere Evaluation von 25 Jahren DED in Benin, Berlin: Deutscher Entwicklungsdienst (DED)

 

Dr. Eva Gerharz ist Soziologin und unterrichtet Sozialanthropologie und Entwicklungssoziologie an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. Entwicklung, Konflikt, Zugehörigkeit, Translokalisierung und Globalisierung.